Scheitert Europa am Brenner?
Der Pressesaal der Landesregierung im Palais Widmann ist gerammelt voll. Um 10.30 Uhr wollen Ugo Rossi, Günther Platter und Arno Kompatscher am Montag vor die Medien treten. Es wird etwas später, bis die drei Herren schließlich eintreffen. Am Vormittag haben sie sich über die Flüchtlingskrise und die Herausforderungen, die sich für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino ergeben, unterhalten. Ergebnis des Treffens: Ein Beschluss, der den Regierungen von Österreich und Italien vorgelegt werden soll. “Die Länder der Europaregion zeigen grundsätzlich Verständnis dafür, dass Italien und Österreich Maßnahmen überlegen, um in Ermangelung einer gesamteuropäischen Lösung die Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten zu können”, heißt es in den Prämissen. Und doch wird allen voran gefordert, sich auf die Suche nach einer raschen gesamteuropäischen Lösung für die anhaltenden und zu erwartenden Flüchtlingsströme in die EU zu begeben. Eine Ebene darunter soll auch Italien, immer mit Unterstützung der EU, entsprechende Vorkehrungen treffen, um die Menschen auf ihrem Weg nach Norden nicht ungehindert weiterziehen zu lassen.
Dieser Beschluss ist nicht gegen jemanden oder etwas gerichtet. Sondern wir bieten den nationalen Regierungen unsere Zusammenarbeit an.
(Ugo Rossi)
Der Sechs-Punkte-Katalog
Was aber, wenn die europäische Solidarität weiterhin auf sich warten lässt? Auch darüber haben die Landeshauptleute am Montag Vormittag gesprochen. “Eines ist ganz klar”, so Arno Kompatscher, “sollten Grenzmanagement-Maßnahmen am Brenner und den anderen Grenzübergängen zwischen Österreich und Italien nötig werden, kann es sich nur um außerordentliche sowie zeitweilige Maßnahmen handeln. Die europäischen Grundsätze, auf die die Euregio aufgebaut ist, dürfen nicht in Frage gestellt werden.” Diese Überlegung ist auch in das Beschlusspapier eingeflossen, das Rossi, Platter und Kompatscher verabschiedet haben. “Wir haben uns mit den möglichen Szenarien, die eintreten könnten, beschäftigt, und entsprechend einen abgestuften Forderungskatalog erstellt”, erklären die Landeshauptleute. Je nachdem wie sich die Situation global und lokal verändert und sich die Flüchtlingsströme verschieben, werden die jeweils zu treffenden Maßnahmen vorgeschlagen.
Seltene Szenen im Presseraum des Palais Widmann: Neben lokalen Medien sind auch nationale österreichische Presse und Fernsehen anwesend. Foto: salto.bz
Punkt 1 und 2
In erster Linie verlangt man von den beiden Regierungen, Druck auf die EU auszuüben, damit sie dem Schengen-Abkommen nachkommt und ihre Außengrenzen besser schützt. Auch soll das Dublin-Abkommen überarbeitet werden, damit die in der EU ankommenden Menschen auf der Flucht gerecht über alle Mitgliedsstaaten verteilt werden.
Punkt 3
Sollte sich der Flüchtlingsstrom von der Balkanroute Richtung Westen verlagern und die in den ersten beiden Punkten geforderten Maßnahmen nicht getroffen worden sein, verlangen die drei Landeshauptleute zwischen Italien und Österreich abgestimmte Grenzraumkonzepte, “aber nur in enger Kooperation mit den betroffenen Regionen”, wie Günther Platter unterstrich. Auch soll vermieden werden, dass es an den Grenzübergängen zu Problemen humanitärer, wirtschaftlicher und verkehrstechnischer Art kommt.
Punkt 4
Auf jeden Fall verhindern wollen Rossi, Platter und Kompatscher, dass der Grenzübergang am Brenner zu einem Flaschenhals wird. Deshalb sollen frühzeitig Strukturen, so genannte Hot Spots, an den Eintrittspunkten in Italien eingerichtet werden. Dadurch könne eine rasche Registrierung und Verteilung der Flüchtlinge schon bei ihrer Ankunft im Staatsgebiet erfolgen und Problemsituationen am Grenzübergang vorgebeugt werden.
Punkt 5
Sollten all die vorangegangenen Forderungen und Maßnahmen nicht erfüllt werden, und es “als letzte Maßnahme” (Zitat Platter) zu Grenzkontrollen kommen, dürften diese Zeitraum und Umfang nicht über das für die Bewältigung der aktuellen Krisensituation unbedingt erforderliche Ausmaß hinausgehen und auf jeden Fall so durchgeführt werden, dass sie den freien Grenzverkehr der EU-Bürger und insbesondere den problemlosen Grenzübertritt der Euregio-Bürger nicht wesentlich beeinträchtigen und die Auswirkungen auf Wirtschaft, Tourismus und Pendlerverkehr so gering wie möglich gehalten werden.
Punkt 6
Darüber hinaus erklären sich die drei Landeshauptleute bereit, in direkte Verhandlungen und Beratungen mit den staatlichen Zuständigen zu treten, um das Ausmaß der Problemsituationen so gering als möglich zu halten.
Der unterzeichnete Beschluss.
Was auf Südtirol zukommen könnte
Dass an den Grenzübergängen zu Italien auf österreichischer Seite Kontrollen eingeführt werden könnten, steht inzwischen fest. Eine Aussetzung des Schengen-Abkommens ist in Ausnahmefällen in Zusammenhang mit Krisensituationen erlaubt. Darauf beruft sich Österreich wie vor ihm bereits andere Schengen-Länder. “Die Bundesregierung hat eine Reduktion der Flüchtlingszahlen auf 37.500 für 2016, auf 25.000 für 2017 und 20.000 für 2018 festgelegt”, erinnert Günther Platter im Laufe der Medienkonferenz, “daher haben wir uns auch heute mit allen Szenarien, so wenig wünschenswert sie auch sein mögen, beschäftigt”. “Wie ein Kontrollmechanismus am Brenner letztendlich ausschauen könnte ist am heutigen Tag noch nicht klar”, betont der Tiroler Landeshauptmann. Diese Entscheidung liege bei der Regierung in Wien und soll in den kommenden Tagen vorliegen. Bis dahin will man aber dies- und jenseits des Brenners nicht untätig bleiben.
Durch diese Herausforderung wird die Euregio enger zusammenrücken.
(Günther Platter)
Bekanntlich hat die Südtiroler Landesregierung bereits eine gewisse Anzahl an Kasernenarealen ausgemacht, die für die Unterbringung eventuell ankommender Flüchtlinge bereitgestellt werden könnten. Die Zustimmung des Innenministeriums hate man bereits. “Es handelt sich dabei um Kasernen, die in einigen Jahren sowieso an das Land übergehen werden”, präzisierte Landeshauptmann Kompatscher am Montag. Wie etwa die Reatto-Kaserne in Brixen. Zeitweilig könnten Menschen auch “anderswo” einquartiert werden, in den wärmeren Monaten auch in Zelten, für deren Errichtung auch bereits Flächen sondiert worden seien, so Kompatscher – “bis die Verteilung auf das Staatsgebiet erfolgt”.
Die Euregio-Landeshauptleute: demonstrative regionale Einigkeit vor den nationalen Regierungen. Foto: salto.bz
Für ihn steht fest, dass Südtirol mit der Aufnahme der Flüchtlinge, die sich im Falle von Kontrollen an der österreichisch-italienischen Grenze gezwungenermaßen im Land aufhalten würden, nicht allein gelassen werden darf. Das Trentino hat sich bereits angeboten, im Fall der Fälle bei der Unterbringung der Menschen behilflich zu sein. “Doch das sind alles vorausschauende Vorbereitungen. Nur weil wir uns auf die Ankunft einer größeren Anzahl von Menschen vorbereiten, heißt das nicht automatisch, dass auch viele Menschen kommen werden”, wiederholt Kompatscher mehrmals. Zahlen, wie viele Menschen erwartet werden, will er auf Nachfrage nicht nennen. “Denn es sind wie gesagt alles Szenarien, von denen wir nicht wissen, ob sie eintreten werden. Derzeit gehen wir von sehr wenigen bis sehr vielen aus”, wobei “sehr viele” “mehr als tausend Personen auf der Durchreise pro Tag” bedeutet, lässt sich der Südtiroler Landeshauptmann schließlich entlocken. Was also bedeutet, dass nicht alle Menschen, die in Südtirol ankommen könnten, auch dort verweilen würden.
Der Brenner wird von uns als Grenze nach wie vor nicht akzeptiert. Seit Jahren arbeiten wir daran, sie zu überwinden – in einer europäischen Perspektive.
(Arno Kompatscher)
Gleichzeitig warnt er die Medien, Bilder von Stacheldrahtzäunen, blockierten Autobahnen und Bahnschienen zu malen. “Grenzkontrollen bedeuten nicht gleichzeitig, dass es zu einer Schließung der Grenzen kommt”, betont er. Sondern es gehe darum, wie die Kontrollen organisiert werden, um Transitflüchtlinge geregelt und koordiniert über die Grenze zu lassen. Am Grenzübergang Kufstein hat etwa Tirol mit Bayern in einer Absprache vereinbart, dass stündlich 50 Flüchtlinge durchgelassen werden.
Und so geht es weiter
Am morgigen Dienstag werden Rossi, Platter und Kompatscher in Wien mit der österreichischen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und anschließend auch mit dem österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer zusammenkommen. Im Laufe der Woche steht dann ein Treffen mit dem italienischen Innenminister Angelino Alfano an. Bei den drei Terminen wollen die Landeshauptleute als Vertreter der Europaregion ihren Standpunkt vortragen und “das Bewusstsein für die Symbolkraft des Brenners auch auf europäischer Ebene stärken”. Denn der Brenner, darin sind sich die Landeshauptleute des Trentino, Südtirols und Tirols einig, “ist keine gewöhnliche Grenze”, sondern ein “Symbol für den europäischen Einigungsprozess”. Daher ist man überzeugt, dass das, was am Brenner passieren wird, symbolhaft für die Frage steht, ob Europa an der Herausforderung der Flüchtlingskrise scheitert oder nicht. Von einem Scheitern der Euregio, von dem einige Oppositionsparteien sprechen, will Kompatscher nichts wissen. Im Gegenteil: “Die Europaregion Tirol wird an dieser Herausforderung wachsen, davon bin ich überzeugt.”
Das ist schon beeindruckend,
Das ist schon beeindruckend, was sich da alles entwickelt. Auch interessant, dass wir in Südtirol erkannt haben, mitten im europäischen Geschehen zu leben. Es freud mich, dass diesmal die höchsten Regierungsvertreter Rossi, Platter und Kompatscher rechtzeitig reagieren und planen. Das ist meiner Meinung nach neu. Auch die Brennergrenze als europäisches Symbol zu erheben, finde ich "modern". Mal sehen.
In diesem heiklen Prozess sollte die Zivilegesellschaft die Ohren spitzen und am Ball bleiben. Man weiss nie, was die Realpolitik der Euregio mit den Flüchtlingen alles so im Schilde führt.
Wenn wir uns derart ins
Wenn wir uns derart ins europäische Rampenlicht stellen, dann müssen wir auch etwas zur Lösung beitragen. Eine einmalige Chance, den Mehrwert der Europaregion ganz Europa zu beweisen. Mir Fordern allein wird es freichlich nicht getan sein.
der Berg kraißte und gebar
der Berg kraißte und gebar ein mäuschen
Die Zustimmung des
Die Zustimmung des Innenministers zur Nutzung von Militärkasernen zwecks Unterbringung von Flüchtlingen habe man bereits, so wird der Präsident der Provinz Bozen, Dr. mag. iur. Arno Kompatscher, in obigem Artikel zitiert. Nun, für das Militär ist nicht der Innen-, sondern der Verteidigungsminister zuständig. Selbstverständlich dürfte auch dieser seine Zustimmung nicht verweigern, insofern es sich um ungenutzte Objekte seitens des Heeres handelt. Trotzdem: Die Verfügungsgewalt liegt beim Verteidigungsminister.