Sie ist Italiens neuer Polit-Star. Vor wenigen Monaten war Virginia Raggi einer breiten italienischen Öffentlichkeit unbekannt. Jetzt widmen ihr internationale Zeitungen wie Economist, Süddeutsche und Standard von Sympathie und Neugier durchwobene Porträts. Die 37-jährige Anwältin hat beste Chancen, in drei Monaten als erste Frau zur Bürgermeisterin Roms aufzusteigen. Was vielen als purer Alptraum gilt, betrachtet die Spitzenkandidatin der Fünfsterne-Bewegung als politische Herausforderung: "Non so se sono adeguata a guidare la Capitale d'Italia. Posso dire che mi sento pronta. Nessuno da solo puó sconfiggere il mostro. Solo insieme ad altri si puó andare a dama."
Die mit 1764 Clicks zur Spitzenkandidatin gewählte Römerin ist in der Fünfsterne-Bewegung eine eher untypische Erscheinung und das krasse Gegenteil ihres stets polternden Mentors Alessandro Di Battista. Leise, aber beharrlich. Attraktiv, aber in Kleidung und Make up sichtlich um Unauffälligkeit bemüht. Den Ansturm der Kamerateams akzeptiert sie als notwendiges Übel. In den talkshows bleibt sie stets sachlich und nüchtern. Nichts könnte diesen schnörkellosen Stil besser verdeutlichen als ihr Curriculum: "Devo al semplice sudore di fronte di mio padre e mia madre la possibilità di studiare e diventare avvocato, dal canto mio ci ho messo l'impegno necessario." Auch in ihrer Definition von Politik bleibt die mit einem Rundfunktechniker verheiratete Mutter eines kleinen Sohnes völlig unpathetisch:
"Politica non è un lavoro, non è una missione: è voglia di ripristinare legalità, normalità e, dove possibile, progresso sostenibile". Ihr rationaler Stil hilft Raggi offenbar bei der Vorstellung, Bürgermeisterin einer Metropole zu werden, die als unregierbar gilt. Als Hort von Misswirtschaft und Korruption, als Hochburg von Ineffizienz und Schlendrian, als Schauplatz derMafia Capitale, als von ewigem Verkehrsgewühl geplagter Großstadt, die unter einem riesigen Schuldenberg ächzt und unter den Auswüchsen anachronistischer Bürokratie leidet.
Von Alpträumen freilich lässt sich die Zivilrechtlerin, die sich um den Schutz von Autorenrechten kümmert, nicht belasten:
"Sarà un compito difficile e ne sono pienamente consapevole, ma non mi spaventa. A essere spaventati sono coloro che vogliono che resti tutto com’è. Perché non è vero che Roma non può tornare al pari di grandi metropoli europee come Berlino e Parigi, non è vero che la Capitale non può rinascere. Possiamo tornare ad essere città del mondo ed è il momento di riprenderci la nostra storia".
Die 37-jährige Römerin spricht sich selbst Mut zu. Raggi, die früher für den Ulivo gewählt und sich in Umwelt- und Stadtviertelgruppen engagiert hat, liebt das Surfen und Tauchen, die Musik von De Gregori und Subsonica, fährt gerne Rad und Motorrad. Ihr letztes Buch: "Raccordo Criminale" über den Mafia-Skandal in ihrer Stadt. Ihren Mann Andrea, einen Lazio-Fan, begleitet sie oft ins Stadion. Zum Spielen mit ihrem kleinen Sohn hätte sie gerne mehr Zeit. Die Grosseltern helfen aus.
Über ihren rapiden Aufstieg zum Polit-Star muss sie selbst staunen: "Nella vita non avrei mai pensato di arrivare qui." Der Grund für ihr Engagement sei eine Art Helfer-Syndrom, lächelt Virginia: "Ho un'anima da crocerossina.Giá da bambina volevo salvare il mondo."An ihrer Entschlossenheit lässt sie freilich keine Zweifel aufkommen. Ihren potentiellen Stadtrat möchte sie vor der Stichwahl präsentieren. Darunter sollen sich auch unabhängige Experten befinden. Von Beppe Grillo und der M5S-Führungsriege will sie sich wenig dreinreden lassen. Drei Jahre im Gemeinderat hat sie genutzt, um sich ein Bild der Lage zu machen und viele Dossiers zu studieren. Das soeben vom kommissarischen Verwalter Paolo Tronca präsentierte Dossier über das städtische Wohnbauinstitut Ater gibt der Spitzenkandidatin einen Vorgeschmack auf das, was sie erwartet: 85 Prozent der Bewohner zahlen seit Jahren keine Miete, für 7000 Wohnungen kassiert die Stadt weniger als acht Euro im Monat, 5000 sind illegal besetzt, Betrügerbanden fälschen die Ranglisten. Die Gemeinde Rom und ihre Kommunalbetriebe beschäftigen 62.000 Personen - das Doppelte des Autokonzerns Fiat.
Der Verkehrsverbund, die Müllabfuhr und der Strom- und Wasserbetrieb stöhnen unter Schulden in Milliardenhöhe, im städtischen Verkehrsbetrieb Atac melden sich täglich 1400 Bedienstete krank. Ein Drittel der Passagiere fährt ohne Ticket. Die Strassen der Hauptstadt sind mit Schlaglöchern übersät, die dritte U-Bahn, die im Jahr 2000 eröffnet werden sollte, fährt noch immer nicht.
Eine exzessiv gestiegene Zahl von Möwen und Ratten streitet sich um die Müllsäcke auf den Gehsteigen. Virginia Raggi kennt das Debakel ihrer Geburtsstadt. Und sie weiss um die Warnungen jener, die ihr prophezeien, dass sie im berühmten Amtszimmer am Kapitol mit Blick aufs Forum Romanum unweigerlich verheizt werde. Mit gewohnt mildem Lächeln versucht sie, kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht irritieren zu lassen. Gerne gibt sie sich den Anschein einer gewöhnlichen Bürgerin. Normalität schätzt Virgina Raggi als eine Art Tugend. Und die ist auch ihr politisches Ziel: "Per Roma la vera rivoluzione é la normalitá". Natürlich leistet sie sich trotz aller gebotenen Nüchternheit auch Träume. "Il mio sogno piú grande?" "Guarire Roma".