Politik | EU

Das große Missverständnis

Viele großen Krisen der letzten Jahre hätten gelöst werden können - wenn die Mitgliedsstaaten mehr Mut zu europäischen Lösungen gezeigt hätten.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Zu viel Bürokratie, keine Transparenz, keine Lösungen. Europa-Bashing ist en vogue. Wen wundert es? Schließlich waren die letzten Jahre reich an Krisen. In vielen Fällen ist Brüssel eine klare Antwort schuldig geblieben, die Strategien waren oft alles andere als optimal. „Die“ EU als unfähige Institution, um die Herausforderungen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu meistern. Und die Nationalstaaten, die verzweifelt, aber vielfach erfolglos versuchen, ihre Interessen zu wahren. Dieses Bild kommt mehrheitlich bei den über 500 Millionen Bürgern in den 28 Mitgliedsstaaten an.

Doch ist dieses Bild korrekt? Welches sind die tatsächlichen Gründe, dass wir vor den großen Herausforderungen unserer Zeit keine adäquaten europäischen Antworten finden? Sind es vor allem die Nationalstaaten, die europäische Lösungen verwässern und verhindern?

Als in der zweiten Jahreshälfte 2015 die Flüchtlingskrise zunehmend eskaliert, gibt es von Seiten der EU-Institutionen umgehend Lösungsvorschläge und Sofort-Maßnahmen. Doch was passiert? Ein Großteil der Mitgliedsstaaten widersetzt sich ganz einfach den Verpflichtungen. Aus Warschau heißt es, man wolle nur „christliche Flüchtlinge“, Budapest baut einen Grenzzaun und Prag erklärt den Asylsuchen „niemand hat euch eingeladen“. Bis zum Frühjahr 2016 wurden beispielsweise nur knapp mehr als 1.150 Personen umverteilt – bei einer Zielsetzung von 6.000. Europäische Zusammenarbeit sieht anders aus.

Die Pläne und Maßnahmen aus Brüssel können auf dem Papier noch so gut sein: Wenn die Regierungen der Mitgliedsstaaten nicht mitspielen, wird es gesamt-europäische Lösungen nie geben. Zu Recht bezeichnete Parlamentspräsident Martin Schulz deshalb schon im August 2015 die Blockadehaltung vieler Mitgliedsstaaten als „zynisch“.

Für immer mehr Regierungen und Parteien ist Europa Teil des Problems, nicht der Lösung. Das gemeinsame Credo: Weniger Brüssel, mehr Nationalstaat. Von der Einrichtung von Grenzkontrollen, über die Aufgabe des Euro und Wiedereinführung der nationalen Währung bis hin zu einem EU-Austritt: Politik wie die Fußball-Europameisterschaft: Jeder gegen jeden.

Paradox an der ganzen Sache: Viele dieser „europäischer“ Versäumnisse sind das Ergebnis nationalstaatlicher Verweigerungen. Europäische Herausforderungen können nicht gelöst werden, wenn sich die Regierungen in Warschau, Athen, London oder Madrid querstellen. Das führt unweigerlich zu Ergebnissen, welche die tatsächlichen Probleme nicht lösen, sondern eher verschlimmbessern. Was wiederum zu einem Ruf nach mehr nationaler Politik führt. Und der Kreis schließt sich…

Es ist also nicht die Europäische Union, die keine Lösungen bietet, sondern es sind die Regierungen der Nationalstaaten, welche die Umsetzung dieser Vorschläge blockieren und verhindern. Nur um im Umkehrschluss das Fehlen einer „europäischen Lösung“ zu kritisieren.

Seitdem die Staatsschuldenkrise eskaliert ist, erleben wir innerhalb der EU ein neues Zeitalter der Mutlosigkeit. Anstatt Probleme und Fehlfunktionen innerhalb des bestehenden Systems mit europäischen Ansätzen zu lösen, stellen die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Interessen über gemeinschaftliche Lösungen. Das mag kurzfristig funktionieren, um anstehende Wahlen zu gewinnen. Langfristig löst es das Problem nicht.

Beispiel Staatsschuldenkrise. Es ist offensichtlich, dass zumindest die Staaten der Eurozone eine gemeinsame Wirtschafts- und Haushaltspolitik sowie eine Art europäischer Staatsanleihen (Stichwort Eurobonds) benötigen.

Beispiel Flüchtlingskrise. Es ist offensichtlich, dass es in Fragen der Grenzsicherung, der Asylpolitik und der Verteilung von Flüchtlingen eine gemeinsame, zentral gesteuerte Politik benötigt.

In beiden Fällen ist eine einheitliche europäische Politik zweifelsfrei lösungsorientierter und effizienter als es Kompromisslösungen vor dem Hintergrund einzelner Partikularinteressen je sein können. Trotzdem verweigern sich die nationalen Regierungen diesen Ansätzen. Stattdessen zieht ein Großteil der Mitgliedsstaaten ihren Schwanz ein, wenn es plötzlich hart auf hart kommt. Die EU-Mitgliedschaft darf nicht noch weiter zu einem Freischein für Rosinenpicken verkommen. Wer von den europäischen Grundfreiheiten oder der Währungsunion profitieren möchte, muss auch bereit sein, in bestimmten Fällen nationale Interessen zurückzustecken. So hat die europäische Integration über viele Jahrzehnte funktioniert.

Es ist das große Missverständnis: Die EU ist nicht schwach. Und sie ist auch nicht ideenlos. Vorschläge und Strategien, um Probleme ganzheitlich anzugehen, liegen auf dem Tisch. Was mehr denn je fehlt, ist der politische Wille der Nationalstaaten.

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F. T. So., 03.07.2016 - 21:23

Sehr gut. Es ist ja nicht tragbar dass z.B. die Polen jedes Jahr 9 Milliarden Euro
einstecken, und bei jeder Gelegenheit gegen alles was beschlossen werden sollte Opposition machen. Dasselbe gilt für andere Oststaaten wie Ungarn u.s.w. Da müsste man sofort bei den Beiträgen auf die Bremse steigen bis diese Staaten kapieren dass man nicht nur nehmen, sondern auch geben muss.

So., 03.07.2016 - 21:23 Permalink
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Thomas Benedikter So., 03.07.2016 - 22:25

Gottardis Beitrag trifft eine ganze Reihe von Punkten richtig. Wenn 28 Staaten in bestimmten Bereichen gemeinsam handeln wollen und ihre Souveränität an den Verbund genannt EU abtreten, sollten sich auch daran halten. Also Vertragstreue und Solidarität. In einem demokratischen Staatenverbund wird niemand gezwungen, sich zu unterwerfen. Art. 50 AEUV bietet jedem auch die Möglichkeit, den Club wieder zu verlassen, was ein Mitglied jetzt genutzt hat. Die gemeinsame politische Willensbildung klappt immer noch nicht, schreibt Gottardi zu Recht. Somit nicht nur gemeinsame Finanz- und Haushaltspolitik der Euroländer und gemeinsame Asylpolitik - stimme ich völlig zu - sondern auch eine echt demokratische Architektur der EU, die demokratisch legitimierte gemeinsame Willensbildung ermöglicht.

So., 03.07.2016 - 22:25 Permalink
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gorgias Mo., 04.07.2016 - 19:57

Antwort auf von Thomas Benedikter

Man hat die EU von 15 auf 25, 27, 28 erweitert ohne die Regeln daran anzupassen. Dass der Lissabonvertrag doch durchgegangen ist, ist zum Teil auch Glück und der damaligen Wirtschaftskrise von 2008 zu verdanken. Thomas Benedikter spricht genau essentielle Punkte an an denen gearbeitet werden muss.

Eben nicht!

Mo., 04.07.2016 - 19:57 Permalink
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Klemens Kössler Mo., 04.07.2016 - 08:51

Europa ist die Einheit in der Vielfalt, das heißt europäische Gesetze überall und regionale Charakter. Nationalstaaten haben in diesem Europa ausgedient, vielleicht ist genau dies der Grund dass sich die Nationalstaaten mit ihren aus Kriegen gezogenen Grenzen aufbäumen und ein einheitliches Europa der Vielfalt verhindern. In der Eurozone müssen Eurobonds möglich werden, auch wenn dies nicht ganz gerecht ist aber alles andere und vor allem das jetzige System der Staatsfinanzierungen ist ungerechter als es Eurobonds je sein können.

Mo., 04.07.2016 - 08:51 Permalink
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Mensch Ärgerdi… Mo., 04.07.2016 - 21:33

Ich so den Eindruck, als würde man hier die Staaten mit deren Regierungen verwechseln. Die EU hat im Sinne der Lobbys und stiller Zustimmung der Regierungen eine Osterweiterung nach der anderen erlebt. Die EU-Bürger der alten Länder haben davon nie so richtig profitiert, solange es aber wirtschaftlich noch gut ging hat keiner gemeckert. Wie sich die Situation entwickelt hat, sobald die Finanzwelt angefangen hat zu bröckeln ist allen bekannt. Wundert es jemanden wirklich wenn Politiker und Marktschreier auf den Karren aufgesprungen sind?
Ich will nicht sagen, dass der Ansatz zusammen Lösungen für unsere Probleme zu finden wäre falsch, aber auf das was die EU geworden ist, nämlich ein gemeinsamer Markt mit verschiedenen Steuersätzen wo die Großen auf Kosten der kleinen hin und her wandern, können wir gern verzichten.

Mo., 04.07.2016 - 21:33 Permalink
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Profil für Benutzer Aaron Gottardi
Aaron Gottardi Mi., 06.07.2016 - 22:32

Antwort auf von Mensch Ärgerdi…

Vielen Dank für die Kommentare und die Diskussion. In der Tat spreche ich in erster Linie die Regierungen der Staaten an - schließlich sind sie es, welche durch den Rat die höchste nationale Entscheidungsgewalt innerhalb der EU-Legislative haben.

Zur Osterweiterung: Erweiterungsrunden der EU hatten bereits in der Vergangenheit nicht nur wirtschaftliche Hintergründe, sondern auch demokratisch-politische. Siehe die Aufnahme von Portugal und Spanien 1986 nach dem Ende der jeweiligen autoritären Systeme oder Griechenland 1981 nach Ende der Militärdiktatur. Dasselbe gilt zum Teil auch für die Osterweiterung 2004 - nach dem Ende des Ostblocks haben diese Länder eine starke Perspektive benötigt und erhalten.

Die Umstellung von Plan- auf Marktwirtschaft in den 1990er Jahren war mit erheblichen sozialen und gesellschaftlichen Kosten verbunden, die Mitgliedschaft im Club der "reichen" EU war dabei sicherlich eine Art Ansporn, die schmerzhaften, aber notwendigen Reformen durchzuführen. Ein wichtiges politisches Zeichen, das Europa nach über vierzig Jahren Spaltung wieder zusammen gewachsen ist.

Indessen bin ich davon überzeugt, dass von dieser Erweiterungsrunde alle anderen 15 Mitgliedsstaaten profitiert haben in Form von neuen Märkten und wirtschaftlichen Potentialen. Die sich im volkswirtschaftlichen Umkehrschluss wiederum positiv auf die Gesellschaft auswirkten... Die Rolle dieser Staaten und etwaige negative Auswirkungen in der Wirtschafts- und Finanzkrise sind im Gesamtvergleich eher untergeordnet...

Unterschiedliche Steuersätze: Genau darum geht es ja - den Wirtschaftsraum noch weiter anzugleichen (zumindest im Euro-Raum), damit solche fiskalpolitische Differenzen beseitigt werden können. Neben Steuersätzen gibt es schließlich noch andere Elemente, die einen "Wettbewerber" zwischen verschiedenen EU-Staaten ermöglichen.

Sicher ist: Es läuft nicht alles rund in der EU, es gilt noch viel zu verbessern. Das ist aber kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken und 50 Jahre europäische Integration in die Tonne zu kippen...

Mi., 06.07.2016 - 22:32 Permalink
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Mensch Ärgerdi… Do., 07.07.2016 - 14:09

Antwort auf von Aaron Gottardi

Der Sinn der Gemeinschaft war ja der jedem es zu erleichtern überall zu exportieren. Davon hat auch jeder profitiert, heute sind wir aber so weit gekommen dass jeder von billigen Land importiert und da profitieren nur wenige.
"Indessen bin ich davon überzeugt, dass von dieser Erweiterungsrunde alle anderen 15 Mitgliedsstaaten profitiert haben in Form von neuen Märkten und wirtschaftlichen Potentialen. Die sich im volkswirtschaftlichen Umkehrschluss wiederum positiv auf die Gesellschaft auswirkten..."
Entschuldigung, aber das klingt schon sehr stark nach politischen Blabla bzw. heiße Luft. Um Konkret zu werden: das ist wieder das Missverständnis. Wer genau hat wann wo wie profitiert? Die Bürger, Arbeiter, Angestellten die zugesehen haben wie eine Firma nach der anderen abgewandert ist? Nein! Diese Leute haben bei dieser Aktion ihren Arbeitsplatz verloren, der wirtschaftliche Aufschwung des Ostens ist durch deren Opferung zu Stande gekommen. Profitiert haben dabei die Inhaber der selben Firmen die nun einen Arbeiter 250 anstatt 1200 Euro bezahlen. Im gleichen Moment sind durch die Erweiterungen in von den Firmen verlassenen Gebieten keine neue Arbeitsplätze entstanden. Nehmen wir mal ein konkretes Beispiel: Speditionsunternehmen. Ich kann sehr wohl verstehen, dass durch das verlagern in andere Länder der Industrie und Produktionsstätten viel mehr transportiert wird, das bringt aber den LKW-Fahrer aus Italien oder Deutschland nichts wenn drei bis vier rumänische Kollegen gleich viel kosten wie er alleine.

Do., 07.07.2016 - 14:09 Permalink
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Profil für Benutzer Peter Grünfelder
Peter Grünfelder Di., 05.07.2016 - 12:51

Weder die Mitgliedsstaaten noch Europa kann eine gute Politik bescheinigt werden. Wir, das Volk werden manipuliert bei der Wahl der Volksvertreter genauso wie bei Wahlen der direkten Demokratie! Wobei die Volksvertreter mit Ihren vollen Taschen den Bezug zum Volk total verlieren. Nur mehr Lobbyisten denen es an Geld nicht fehlt schaffen es noch mit der Politik auf Augehöhe zu kommunizieren.

Di., 05.07.2016 - 12:51 Permalink