fb_1200x.jpg
Foto: upi
Gesellschaft | Zoom

Land ohne Kinder

Der Geburtenrückgang in Italien nimmt dramatische Ausmaße an.
Von den Medien kaum beachtet, vollzieht sich in Italiens Gesellschaft eine folgenschwere Entwicklung, die seit Jahren andauert: ein offenbar unaufhaltsamer Geburtenrückgang. 2015 registrierten die Demografen mit der niedrigsten Geburtenrate in der Geschichte des Landes ein Alarmsignal. Die Bevölkerung war erstmals rückläufig, die Zahl der Todesfälle wesentlich höher als jene der Geburten.  Während 485.780 Babys zur Welt kamen, starben 647.571 Italiener. Um eine derart negative Geburtenbilanz zu finden, muss man in die Jahre des ersten Weltkriegs zurückblättern, als die spanische Grippe zwischen 1918 und 1920 Zehntausende Opfer forderte.
Seit sieben Jahren wächst der Geburtenrückgang unaufhörlich. 2015 wurden 16 Prozent weniger Kinder geboren als 2008. Selbst die hohe Einwandererzahl wiegt die negative Statistik nicht auf. Mit 1,4 Kindern pro Frau weist Italien europaweit die schwächste Geburtenrate auf, auch im weltweiten Vergleich gehört das Land zu den Schlusslichtern. Für 2016 liegt noch keine offizielle Statistik vor. Doch der Rückgang von sechs Prozent im ersten Halbjahr stellt einen neuen Negativrekord dar.
Um eine derart negative Bilanz zu finden, muss man in die Jahre des ersten Weltkriegs zurückblättern, als die spanische Grippe zwischen 1918 und 1920 Zehntausende Opfer forderte.
Die OECD geht davon aus, dass eine Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau notwendig ist, damit das Bevölkerungsniveau einer Gesellschaft stabil gehalten werden kann. Fällt die Zahl darunter, dann droht eine Gesellschaft zu schrumpfen und zu überaltern, was die Sozialsysteme belastet.
 

Jugendarbeitslosigkeit bei 40 Prozent

Der Hauptgrund für die fatale Entwicklung in Italien ist die Jugendarbeitslosigkeit, die mit fast 40 Prozent auf eine neue Rekordmarke geklettert ist – im Süden lebt fast die Hälfte der Jugendlichen zuhause. Wegen mangelnder Zukunftsperspektiven sind 16 Prozent der alleine wohnenden Jugendlichen wieder zu ihren Eltern zurückgekehrt. 60 Prozent aller jungen Italiener denken daran, sich im Ausland eine Arbeit zu suchen.
Die Gründe für diese Tristesse sind vielschichtig: die anhaltende Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, der Mangel an Wohnungen und hohe Mieten und vor allem das Fehlen einer familienfreundlichen Politik. Faktoren, die zu einer bedrohlichen Überalterung der Bevölkerung führen. Fast ein Viertel aller Italiener ist über 60 Jahre alt.
Südtirol ist mit 1,9 Geburten pro tausend Einwohner die einzige Provinz mit positivem Bevölkerungssaldo. Ligurien weist mit -7,8 den Negativrekord auf. 20 Prozent der jungen Eltern auf der Halbinsel sind Einwanderer.
 

Fertility day

Dieser bedrohlichen Entwicklung wollte Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin mit einer geeigneten Initiative abhelfen und führte erstmals einen fertility day  („Fruchtbarkeitstag“) ein: am 22. September sollten Frauen und junge Paare in allen größeren Städten Gelegenheit haben, sich über Familienplanung zu informieren. Gleichzeitig initiierte das Ministerium eine Twitter-Kampagne. Unter #FertilityDay waren zwölf Bilder mit unterschiedlichen Leitsätzen zu sehen, die den Italienern die Lust am Kinderkriegen zurückbringen sollen.

Der Grundton der Bilder wa nicht unbedingt ermutigend: „Schönheit hat kein Alter, aber Fruchtbarkeit schon“, hieß es da, während eine Frau angestrengt lächelte und dem Betrachter eine ablaufende Sanduhr entgegen streckte. Ein anderes Bild appellierte an die Verantwortung, die die Frauen für die Gesellschaft hätten: „Fruchtbarkeit ist ein Allgemeingut.“
Lorenzins fertility day erlitt Schiffbruch, noch bevor er stattfinden konnte. Nach einer Welle der Empörung über den paternalistischen Ton wurde die Webseite der Kampagne geschlossen.
Die Gesundheitsministerin selbst leistete vor wenigen Monaten ihren Beitrag gegen den Babyschwund und brachte Zwillinge zur Welt.
Dass für einen Baby-Boom nicht unbedingt große Werbekampagnen notwendig sind, sieht man in Deutschland. 2015 wurden dort 738 000 Kinder geboren - das sind 23.000 mehr als 2014.
Bild
Profil für Benutzer Martin B.
Martin B. Sa., 28.01.2017 - 23:21

Sollte unseren lokalen Verwaltern, pardon Polikern, als Memento ständig vor Augen sein, das eine gute Familienpolitik kein Marketinggag sein sollte und modernen Ablenkungen (Förderungsverschiebungen) standhalten sollte.

Sa., 28.01.2017 - 23:21 Permalink
Bild
Profil für Benutzer G. M.
G. M. So., 29.01.2017 - 07:44

Ob die Entwicklung wirklich bedrohlichen ist sei mal dahingestellt, aber wer denke man könne das Problem mit einem Marketinggag lösen hat zu kurz gedacht. Wenn man sich die Gesamtsituation in Italien ansieht erklärt dies einiges. Und das in einer Leistungsgesellschaft weniger Zeit für Kinder da ist ist auch zu beachten. Es brauch eine grundlegende Wende in der Familienpolitik in Italien und anderen Ländern. Das im Artikel befindende Plakat finde ich übrigens geschmacklos, den Frauen wird suggeriert Gebärmaschinen zu sein.

So., 29.01.2017 - 07:44 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Sylvia Rier
Sylvia Rier So., 29.01.2017 - 08:55

Also ich habe mal gelesen, dass Frauen in patriarchal aufgestellten Gesellschaften radikal weniger Kinder (haben) wollen, sobald sich ihnen die Möglichkeit dazu bietet (aus dem patriarchalen Gefängnis auszubrechen). Wäre vielleicht mal eine Überlegung wert. --- Außerdem wäre es vielleicht sinnvoll, wenn die Herren und Damen Politikerinnen die doch radikalen Veränderungen im Familien-"Himmel" anerkennen wollten, statt sie zu bekämpfen, und aufs Nebengleis zu schieben, um stur auf der "traditionellen" Familie beharren. ("Traditionell" ist NICHT gleich und per se "wertvoll" oder "erhaltenswert", sondern nur eine Form, die bisher (!) überwog. Wie übrigens am Beispiel Russland zur Zeit sehr schön gesehen werden kann: "Abgeordnete: Schläge sind Teil der russischen Familientradition. "https://www.welt.de/politik/ausland/article161587829/Seine-Frau-zu-verp… ). Insofern wäre es vermutlich das Gescheiteste (und wahrscheinlich eh das effektivste Mittel zur Ankurbelung der Geburtenrate), wenn dafür gesorgt würde, dass "Kinder" auch für Frauen ohne größere Abstriche mit Job, ggf. Karriere, Privatleben usw. vereinbar sind. ---
Und weil ich schon mal hier bin, ein paar Beispiele, wohin die Entwicklung zum Thema "Familie" bzw. "Kinder" zu gehen scheint (ganz und gar ohne Rücksicht auf den Willen und das Wollen mancher Südtiroler LTAbgeordnet*innen...):
https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2015/sep/14/no-stigma-single-m…
oder hier:
http://www.zeit.de/2017/02/co-parenting-kinder-erziehung-familienplanun…

PS: https://www.youtube.com/watch?v=B00grl3K01g

So., 29.01.2017 - 08:55 Permalink
Bild
Profil für Benutzer gorgias
gorgias Mo., 30.01.2017 - 11:37

Antwort auf von Sylvia Rier

"Also ich habe mal gelesen, dass Frauen in patriarchal aufgestellten Gesellschaften radikal weniger Kinder (haben) wollen, sobald sich ihnen die Möglichkeit dazu bietet (aus dem patriarchalen Gefängnis auszubrechen). Wäre vielleicht mal eine Überlegung wert."
Ja dann müsste man doch auch "Überlegen" oder besser gesagt denken. Die Schlussfolgerung daraus wäre, dass man die Frauen wieder in das "patriarchale Gefängnis" stecken müsste, aber darauf wollen Sie ja sicher nicht hinaus, wäre aber die einzige Schlussfolgerung, die man für unsere Gessellschaft ziehen könnte. Denn in den noch patriarchalen Gesellschaften bekommen Frauen durchaus mehr als fünf Kinder. Wenn diese Frauen dann anstatt 7-8 Kinder nur noch 2 - 3 haben wollen ist das sicher weniger, hat aber nichts mit unserer Gesellschaft zu tun.
Und wir leben ja nicht in einem Patriarchat, außer Feministinnen in ihren Hirngespinsten. Ich sehe das Problem stückweise in den Feministinnen selbst die ja anderen Frauen einreden wollen, dass die Mutterrolle, die Fürsorge für Familie und ein aktives Leben in der Gemeinde nur vom Patriarchat aufgezwungen werden und dass sie statt dessen sich auf Karriere orientieren müssen um Glücklich zu sein. Ja das sind halt Feministinnen, die oft eine gestörte Beziehung zu Männer haben und dem Hierngespinst des Patriarchat nachlaufen, weil Sie ja sonst nicht verstehen.
Nebenbei Alleinerziehung von Kindern ist nur eine Notlösung. Für die Kindesentwicklung ist die Triade Vater - Mutter - Kind entscheidend. Ist diese gestört leiden Kinder darunter. Einem Kind von vorn herein den Vater oder die Mutter vorzuenthalten zu wollen ist ein Verbrechen.

Mo., 30.01.2017 - 11:37 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Sylvia Rier
Sylvia Rier Mo., 30.01.2017 - 17:52

Antwort auf von gorgias

richtig geschlussfolgert. gleich zwei mal. aber doch wieder nicht, denn eigentlich wäre die einzige richtige schlussfolgerung, die daraus zu ziehen wäre eben die, die ich ja, meine ich, anreiße: die rahmenbedingungen schaffen, dass eine frau, die kinder hat, eben nicht zwingend ausschließlich auf diese ihre rolle sich zu reduzieren hat. ps. dass für die kindesentwicklung die triade (in dieser Reihenfolge) Vater-Mutter-Kind entscheidend sein soll, kann ich nicht bestätigen. Denn erwiesenermaßen sind für die gesunde Entwicklung vor allem zwei Dinge wichtig: Liebe, und Sicherheit (beides, wie Sie genauso gut wissen wie ich, in den Triaden Vater-Mutter-Kind keineswegs zwingend gegeben.)

Mo., 30.01.2017 - 17:52 Permalink
Bild
Profil für Benutzer gorgias
gorgias Mi., 01.02.2017 - 16:48

Antwort auf von Sylvia Rier

Dass Zuneigung und Bestänigkeit wichtige Faktoren für die Entwicklung eines Kindes sind, können wir uns beide einig sein, doch kann diese "Liebe und Sicherheit" wie Sie es formulieren, nicht das Fehlen eines Elternteils ersetzen. Für die Entwicklung des Kindes spielt die vorgelebte Beziehung zwischen Vater und Mutter eine wichtige Rolle. Der gleichgeschlechtliche Elternteil nimmt eine wichtige Funktion als Blaupause für die eigene Entwicklung ein und der gegengeschlechtliche Elternteil für die des zukünftigen Partners.
Der Vater, als starke männliche Bezugsperson, nimmt eine wichtige Rolle ein in dem er das Gleichgewicht der Mutter-Kind-Symbiose stört, um dem Kind die Welt neu zu eröffnen. Das Kind hat Phasen in dem es sich zum einen oder zum anderen Elternteil stärker orientiert, und zwar Mutter, dann Vater und dann dem geschlechtlichen Elternteil. Gleichgeschlechtliche Paare und Alleinerziehende können dies niemals Ersetzen.
Natürlich ist die intakte Kernfamilie bestehend aus Vater-Mutter-Kind (stellen Sie sich die Reihenfolge in ihrem Kopf so zusammen wie es Ihnen beliebt) kein Garant, dass sonst nicht was fehlt und es gibt auch Schicksalsschläge denen man nicht ausstellen kann, aber diesem Optimum in geplanter weise auszustellen oder es leichtfertig auf spiel zu setzen mit ungewollten schangerschaften oder nicht ernsthaft vorgenommener Aufbau der Beziehung, geht auf kosten des Kindes.
Nebenbei ist bei alleinerziehenden gefährlich, dass sich sich dieser aber vor allem diese sich zu stark auf das Kind fixierten oder dieses sogar als Ersatzpartner herhalten muss.

https://www.welt.de/debatte/kommentare/article125896077/Ohne-Vater-blei…

Mi., 01.02.2017 - 16:48 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Christian Mair
Christian Mair Mi., 01.02.2017 - 16:40

Die Gründe für den Geburtenrückgang sind ,wie im Artikel angesprochen, im wirtschaftlichen Bereich zu suchen. Deutschland hat durch die harte Haltung gegenüber Griechenland eine Ursünde in der EU-Politik begangen und zu Renationalisierungstendenzen beigetragen. Die Jugendarbeitslosigkeit Italiens hängt nicht zuletzt mit dem Handelsbilanzüberschuss von Deutschland zusammen. siehe:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=36830

Mi., 01.02.2017 - 16:40 Permalink