„Das ist immer noch mein Traumjob“
Herr Warasin, Sie sind Ende Jänner von EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani zum Verantwortlichen für Minderheiten ernannt worden. Bringt uns es Südtirol Vorteile, wenn ein Landsmann dem Parlamentspräsidenten in Minderheitenfragen einflüstert?
Markus Warasin: Ja natürlich. Jeder Präsident des EU-Parlaments hat sein eigenes Kabinett, das aus 30 Mitarbeitern besteht. Ich bin einer von ihnen und habe einen recht breit gefächerten Aufgabenbereich, zu dem beispielsweise auch die Beziehungen zu den Abgeordneten zählen. Schwerpunktmäßig soll ich mich allerdings mit Minderheiten beschäftigen. Und das ist eine Premiere, also bisher gab es diese Funktion im Kabinett des Parlamentspräsidenten noch nie. Damit hat Tajani Minderheitenfragen zur Chefsache erhoben. Das bedeutet zwar nicht, dass es dem Präsidenten nun darum geht, den Mitgliedsstaaten in dieser Frage hineinzupfuschen. Doch ein Parlament soll alle BürgerInnen repräsentieren. Und mit meiner Nominierung wollte Tajani eben auch sein Anliegen zum Ausdruck bringen, dass Europa nicht allein von den Staatsgrenzen her gedacht werden soll, sondern viele Identitäten hat.
Sie sprechen schon seit ihrer Studienzeit vier Sprachen fließend, leben seit 20 Jahren in einem der internationalsten Umfelder, das es in Europa geht. Fühlt man sich da überhaupt noch als Mitglied einer sprachlichen Minderheit?
Manchmal entwickelt man in der Ferne ein noch stärkeres Identitätsbewusstsein als zu Hause. Ich beobachte das bei vielen Menschen hier in Brüssel. Auch ich spüre den Südtiroler sehr stark in mir, wir haben hier zum Beispiel auch einen Südtiroler Stammtisch. Lustig ist immer wieder, dass natürlich viele meiner Kollegen aufgrund meines Namens nicht gleich auf die richtige Staatsbürgerschaft tippen. Wenn ich Marco Warasino heißen würde, wäre das vielleicht ein wenig anders....
Doch ein Markus Warasin wird eher den Österreichern oder Deutschen zugeordnet?
Ja. Im Zuge meiner Ernennung hat beispielsweise das Magazin Politico, ein wichtiges Medium hier in Brüssel, in einem Bericht über Tajanis Kabinett meinen Posten als einzigen innovativen hervorgehoben. Ich war darüber schon einigermaßen geschmeichelt. Das verging mir allerdings, als ich den Bericht weiterlas. Denn als Grund für ihr Interesse nannten sie die Tatsache, dass es witzig sei, dass der Präsident ausgerechnet einen Österreicher mit der Minderheitenfrage betraue, wo es in Österreich doch nicht einmal Sprachminderheiten gäbe.
Auch renommierte Medien versagen also bei der Recherche. Sie dagegen haben eine sehr enge Beziehung zum Lokalmatador der Südtiroler Medienlandschaft....
Ich schreibe schon seit 1997 regelmäßig Beiträge für die Tageszeitung Dolomiten und das verbindet mich sehr stark mit Südtirol. Ich verfolge aber auch die Entwicklungen im Land, und wenn in dann wieder zu Hause bin, ist es immer wieder toll, wie viele Leute ich noch kenne, wenn ich durch Bozen spaziere – wie beispielsweise ehemalige Schüler aus der Zeit, in der ich bei den Franziskanern unterrichtet habe.
„Als ich 1997 hierherkam, habe ich gedacht, ich bin in einem Schlaraffenland. Da wurde nur positiv über die Zukunft geredet, alles waren nur opportunities und alles war toll. Heute dagegen wird, wo immer man auch hingeht, nur mehr von letzten Chancen gesprochen.“
Hierzulande hat sich letzthin gerade wieder eine recht lebhafte Diskussion zur Mehrsprachigkeit entwickelt. Wie sehen Sie die Ängste vor dem Verlust der Muttersprache von Brüssel aus?
Ich finde die Muttersprache sehr wichtig. Das sieht man auch hier in Brüssel, wo sich im EU-Parlament jeder Abgeordnete in seiner Muttersprache äußert. Darauf möchte auch niemand verzichten. Wir sind zwar ein multinationales Parlament und haben 751 Abgeordnete aus 28 Ländern, doch täglich wird in 24 Sprachen gedolmetscht. Es gibt allerdings auch Abgeordnete wie beispielsweise die Katalanen, die ihre Muttersprache nicht verwenden dürfen, weil sie keine offizielle Staatssprache ist. Die Vertreter der ungarischen Minderheiten in der Slowakei oder in Rumänien dagegen können ihre Muttersprache zu Hause in ihrem Parlament nicht verwenden, hier in Brüssel aber schon, weil Ungarn Mitgliedsstaat ist. Dasselbe gilt auch für uns Südtiroler, die in Rom als Abgeordnete nicht Deutsch sprechen könnten und hier zwischen Deutsch und Italienisch wählen können.
Die Vorstellung, dass in den Brüsseler Korridoren nur Englisch und Französisch parliert wird, ist also falsch?
Teilweise sicher. Die Muttersprache ist für viele Abgeordnete hier ein zentrales Anliegen und immer, wenn das Parlament versucht, bei den Kosten der Mehrsprachigkeit einzusparen, also zum Beispiel nicht alle Sitzungsprotokolle in alle Sprachen übersetzen zu lassen, gibt es einen Aufstand. Man muss auch sehen, dass es viele Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof gibt oder die Kommunikation mit den Bürgern zu Hause, für die es einfach wichtig ist, dass die zentralen Dokumente in der Muttersprache verfügbar sind.
Heißt das aber auch, dass man aus Angst vor dem Verlust der Muttersprache auf die Vorteile der Mehrsprachigkeit verzichten sollte, wie in Südtirol nun wieder hinterfragt wird? Nicht zuletzt von immer mehr Eltern, die fürchten, dass ihren Kindern damit Zukunftschancen genommen werden.
Natürlich sollten wir darauf setzten, dass Kinder Sprachen gut lernen. Nachdem wir als Europäer nicht Europäisch sprechen, sollten wir auch in verschiedenen Sprachen zu Hause sein. Also, es wäre sicher ein völliger Irrtum, wenn sich Südtiroler nur auf ihre Muttersprache konzentrieren würden. Es geht darum, auch die zweite Muttersprache gut zu lernen, wie wir Italienisch in meiner Schulzeit genannt haben, und dazu zumindest noch eine internationale Sprache.
„Generell haben wir tatsächlich eine furchtbare Technokratie hier. Der Vorwurf stimmt, den kann auch ich teilen. Wenn es auch die oft zitierten Gurken- oder Bananen-Verordnungen längst nicht mehr gibt.“
Die Frage ist aber, ab wann und wie man sie lernen muss, damit eine gute Sprachkompetenz erworben wird.
Meine Kinder sind derzeit zweieinhalb und vier Jahre alt und werden hier in Brüssel auf eine Europaschule gehen. Das ist eine Schule, in der es eigene Sektionen für verschiedene Sprachen gibt. In unserem Fall sollten wir theoretisch zwischen der deutschen und italienischen Sektion wählen können, da meine Frau Italienerin ist und ich italienischer Staatsbürger deutscher Muttersprache. Doch praktisch nehmen sie unsere Kinder in der deutschen Sektion nicht. Denn die Europaschule geht davon aus, dass Kinder in jener Sprache eigenschult werden sollen, in der sie am fließendsten sprechen. Also, man denkt nicht an den multilingualen Zukunftsschüler, sondern an das Kind, wie es jetzt ist. Und jetzt hat es eben eine Sprache, die es am besten beherrscht und in dieser soll es eingeschult werden und seine Kompetenzen entwickeln. Erst wenn diese Sprache konsolidiert ist, sollen diese auf andere Sprachen ausgeweitet werden.
Das klingt nach dem traditionellen Ansatz, auf dem auch das getrennte Südtiroler Schulsystem beruht. Überraschend, dass dies auch in Brüssel so gelebt wird.
Der Unterschied ist vielleicht, dass unsere Kinder in Brüssel im Kindergarten Englisch und Französisch haben. Zu Hause sprechen wir mit ihnen Italienisch und Deutsch. Das heißt, Zeichentrickfilme schauen wir mit ihnen beispielsweise in allen vier Sprachen und beide Kinder verstehen in jeder Sprachversion, worum es geht. Doch sie haben eine Sprache, in der sie den Film nacherzählen, und das ist eben Italienisch.
Haben Sie eigentlich das Gefühl, in Belgien zu leben, oder ist Brüssel ein eigenes Universum, in dem man unter einer Art Glocke lebt?
Ich lebe schon ziemlich unter einer EU-Glocke. Umso mehr haben mich die Attentate vor einem Jahr irritiert. Damals ist mir so richtig klar geworden, wie sehr wir nebeneinander statt miteinander leben. Und dass es Parallelgesellschaften gibt, in denen Menschen wie ich gehasst werden – so sehr, dass man ihnen nach dem Leben trachtet, wenn sie morgens auf dem Weg zur Arbeit aus der U-Bahn steigen.
Zurück zu Ihrem neuen Job. Wie viele Sprachminderheiten gibt es überhaupt in Europa?
Das ist schwierig zu zählen, denn es gibt anerkannte und nicht anerkannte Minderheitensprachen, es gibt Fälle, in denen nicht eindeutig ist, ob es sich um eine eigene Sprache oder einen Dialekt handelt, wie zum Beispiel beim Elsässischen. Und nicht überall ist so klar wie bei uns, wie groß der Anteil dieser Minderheitensprache überhaupt ist.
Das heißt, unter den Sprachminderheiten gibt es eine unglaubliche Vielfalt?
Und wie! Südtirol ist ein gutes Beispiel, da bei uns Deutsch zwar innerhalb der italienischen Grenzen als Minderheitensprache gilt, doch in einem europäischen Rahmen keineswegs mehr eine ist. Dann gibt es andere wie das Ladinische, das auch von der Unesco als bedrohte Sprache eingestuft wird, die aussterben könnte. Es gibt das Baskische, das sich auf verschiedene Länder wie Frankreich und Spanien verteilt. Es gibt Situationen wie Katalonien, wo sechs Millionen Katalanen keine offizielle Amtssprache haben, während Katalanisch im kleinen Andorra sehr wohl Amtssprache ist. Deshalb wünschen sich die Katalanen auch immer, dass Andorra EU-Mitglied wird, damit Katalanisch zumindest in Europa offizielle Amtssprache wird. Es gibt starke Minderheiten, die eine starke Gesetzgebungskompetenz und wirtschaftliche Stärke hinter sich haben, und es gibt es sehr schwache bedrohte Minderheiten, also es sitzen keineswegs alle im selben Boot.
Wo würde Südtirol dabei in einem Ranking stehen? On the top oder gibt es in Europa Sprachminderheiten, denen es noch viel besser geht als uns?
Wir sind schon wirklich ziemlich top. Und werden vielfach auch sehr bewundert. Vor allem von unseren ungarischen Freunden wird Südtirol oft als Vorbild herangezogen. Auch die Schweden finden uns ganz toll, obwohl die teilweise sogar noch ein wenig besser sind als wir. Aber dann gibt es jede Menge andere Situationen. Zum Beispiel Zypern, wo gerade erst der Gesetzesentwurf einer rechts-orientierten Bewegung durchgegangen ist, mit dem ein jährlicher Gedenktag für das Referendum über den Wiederanschluss Zyperns an Griechenland durchgebracht wurde. Das macht viele fassungslos, dass so ein rückwärtsgewandter Akt mitten in den Friedenverhandlungen durchgeht, noch dazu mit Unterstützung einer Regierungspartei. Doch diese konservative Partei wollte ihre eigenen Wähler nicht enttäuschen, die sich ursprünglich eben sehr mit den Griechen identifiziert haben.
In solch eine Bredouille kommt in Südtirol immer wieder auch die SVP, vor allem angesichts der regen Aktivitäten der Südtiroler Freiheit.
Manchmal muss man eben über den eigenen Schatten springen. Selbst wenn man riskiert, dass andere am rechten Rand dann Stimmen gewinnen, weil man die eigene Bevölkerung enttäuscht.
"Als ich hier angefangen habe, wäre der Ton noch völlig unvorstellbar gewesen, den wir heute in den Medien haben: Schlagzeilen von den „faulen Griechen“, Frau Merkel, die in Dritter-Reich-Manier dargestellt wird... Dieser Ton hat auch dazu geführt, dass die einzelnen Staaten einander heute viel skeptischer gegenüber stehen, dass das Gemeinsame schwieriger zu finden ist als die Unterschiede."
Wie erleben Sie separatistische Bewegung von Brüssel aus und welche Strategie legt der Minderheitenverantwortliche dem EU-Parlamentspräsidenten diesbezüglich nahe?
Separatistische Bewegungen hätten in einem Vereinten Europa eigentlich überhaupt nichts mehr zu suchen. Denn in dem Moment, wo die Idee der Nationalstaaten überwunden wird und wir in einem gemeinsamen Europa leben, sollte sich die Abspaltung von einem Staat erübrigen. Gerade in Südtirol hat ja die europäische Integration dazu geführt, dass man zu Österreich keine Grenze mehr hat und eine gemeinsame Währung hat. Was mehr sollte eine Wiedervereinigung also bringen?
Das ist die hehre Theorie. In der Praxis erleben separatistische Bewegungen gerade regen Zulauf.
In Brüssel hätte man einfach nicht mehr damit gerechnet, dass wir in diese Versuche der Abspaltung und den Irrglauben zurückfallen, dass man dadurch mit den großen Herausforderungen unserer Zeit besser umgehen kann als innerhalb der Union. Der Brexit ist ja das beste Beispiel dafür.
Doch wie soll man – jetzt einmal abseits der Briten – mit dem Thema Separatismus umgehen?
Es ist klar, dass wir ganz klar gegen solche Abspaltungen sein müssen. Einerseits weil die EU von 28 Mitgliedsstaaten getragen wird und es vollkommen undenkbar wäre, dass sich Brüssel gegen die eigenen Mitglieder wendet. Andererseits sind Abspaltungen ein Energieverlust, den Brüssel in keiner Weise befürworten kann. Denn wohin soll eine Abspaltung führen? Zu einem Austritt aus der EU und damit kann Brüssel nicht einverstanden sein. Und wenn es ein Austritt aus einem Staat und ein Wiedereintritt in die EU sein soll, macht es für die Union keinen Sinn. Das Gemeinsame ist für Brüssel wichtiger als die Teile, deshalb wäre es Unsinn, für eine weitere Aufteilung zu sein.
In Südtirol wird die Tatsache, Teil des Nationalstaates Italien zu sein, oft mit dem Schlagwort „Europa der Regionen“ beschönigt. Diesbezüglich haben Sie vor den letzten EU-Wahlen, zum Ärger mancher Patrioten, klare Worte gefunden...
Die habe ich nicht nur 2014, sondern auch schon vor der Wahl im Jahr 2009 gefunden. Nur hat sie damals offenbar keiner gehört. Die Frage ist, ob wir unter einem Europa der Regionen verstehen, dass die Entscheidungen nicht mehr auf europäischer Ebene, sondern von den rund 280 Regionen getroffen werden. Soll zum Beispiel die Stützung der Währung von 280 Regionen beschlossen werden statt von den EU-Staats- und Regierungschefs? Wollen wir für den Schutz der EU-Außengrenzen einen Deal zwischen 280 Regionen finden oder die Verteilung von Flüchtlingen auf dieser Ebene regeln lassen?
Die funktioniert aber auch nicht, wenn sich 28 Staats- und Regierungschefs darauf einigen sollen....
Umso wichtiger ist, dass man Kompetenzen nach Brüssel verlagert. Und umso schlimmer wäre es, wenn solche Entscheidungen von 280 Regionen getroffen werden müssten. So ein Europa der Regionen wird es nie geben. Wenn man dagegen von einem Europa der Regionen light spricht – das gibt es das ohnehin schon längst. Dafür gibt es ja eigene Strukturfonds, dorthin fließt mittlerweile das meiste Geld des EU-Budgets. Selbstverständlich hat Europa immer auf eine Stärkung der Regionen gezielt, eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, aber nicht um Staaten zu ersetzen. Auch wenn das die Schützen in Südtirol bedauern mögen, kann ich nur sagen, man muss der Wirklichkeit ins Auge sehen. Und dazu gehört auch, dass der europäische Integrationsprozess sehr zu Stärkung der Regionen beigetragen hat. Ohne die EU wären sie heute sicher nicht so stark.
„Separatistische Bewegungen hätten in einem Vereinten Europa eigentlich überhaupt nichts mehr zu suchen. Denn in dem Moment, wo die Idee der Nationalstaaten überwunden wird und wir in einem gemeinsamen Europa leben, sollte sich die Abspaltung von einem Staat erübrigen.“
Sie sind 1997 das erste Mal für ein Praktikum nach Brüssel gekommen. Plötzlich lebt man an dem Ort, an dem die Basis für den Frieden in Europa geschaffen wurde, schwärmten sie damals. Was spüren sie heute in Brüssel, eine tiefe Depression?
Ja, die Krise spürt man schon sehr stark. Vor allem im Gegensatz zu meinen Anfängen hier. Damals war gerade die Agenda 2000 veröffentlicht worden, der Fahrplan, wie die EU in den folgenden zehn Jahren von 15 auf 28 Mitgliedsstaaten erweitert werden sollte. Da war eine unglaubliche Aufbruchsstimmung zu spüren. Das war eine Zeit, in der man wirklich daran geglaubt hat, dass Europa den USA im nächsten Jahrtausend die Vormachtstellung abringen wird, dass sich das europäische Modell weltweit durchsetzen wird.
Doch dann kam alles ganz anders....
Ich kann mich noch an die ersten Dämpfer erinnern. Ich war damals im Klimawandel-Ausschuss, als auf der Klimakonferenz in Kopenhagen keine Einigung erzielt wurde. Auch als der Annan-Plan beim Friedensprozess in Zypern abgelehnt wurde, war das ein Schockerlebnis. Wie ist es möglich dass wir so ein so großartiges Konfliktlösungsmodell haben, dank dem sich Länder wie Deutschland und Frankreich aussöhnen konnten und dann schwappt das nicht auf eine so kleine Insel wie Zypern über, fragte man sich damals. Dann ging es Schlag auf Schlag, von der Ablehnung der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden, über den Einmarsch der russischen Truppen in Georgien zur Finanzkrise und der politische Krise...
Wie hat das die Arbeit im Parlament verändert?
Als ich 1997 hierherkam, habe ich gedacht, ich bin in einem Schlaraffenland. Da wurde nur positiv über die Zukunft geredet, alles waren nur opportunities und alles war toll. Heute dagegen wird, wo immer man auch hingeht, nur mehr von letzten Chancen gesprochen. Und wenn die nicht klappen, ist es vorbei. So wie damals alles übermäßig positiv war, wird es jetzt übermäßig trüb gesehen, man merkt das sehr stark. Jeder Vorschlag wird zwei oder drei Mal überprüft und trotzdem bleiben alle voller Zweifel. Zwischen der ersten und der zweiten Kommissionspräsidentschaft von José Manuel Barroso hat sich beispielsweise die Zahl der Gesetzesvorschläge halbiert, weil man auf die kritische Stimmung in der Bevölkerung reagiert hat. Unter Jean-Claude Juncker wurden sie noch einmal radikal gekürzt. Mittlerweile klagt man im Parlament, dass es zu wenig zu tun gibt. Was soll ein Parlament auch machen, wenn es keine Gesetze beschließen kann?
Eine Krise des Systems?
Absolut. Man spürt einfach sehr stark, dass man heute in Brüssel in eine Richtung denkt, die nicht mehr mehrheitsfähig ist. Eine Agenda 2000 war noch mehrheitsfähig. Die wurde in Brüssel geplant, beschlossen und mit Hilfe der Mitgliedsstaaten durchgezogen.
Heute dagegen streben Mitgliedsstaaten Referenden gegen EU-Beschlüsse an. Haben die Mitglieder selbst den Glauben an die gemeinsame Union verloren?
Ich würde nicht sagen, dass die Mitgliedsstaaten per se Anti-Europäer sind. Doch wir haben in 60 Jahren europäischer Integration viele Politikbereiche vergemeinschaftet. Und je mehr Kompetenzen nach Brüssel gewandert sind, desto schwieriger wird es für die Mitglieder. Denn die allgemeine Empfindung ist, dass viel zu viele Kompetenzen abgewandert sind, dass die nationalen Parlamente zu wenig Einfluss haben, dass es in Brüssel zu viele Bürokraten gibt, die man nicht unter Kontrolle hat... Und mit dieser Stimmung umzugehen ist für die Staats- und Regierungschefs extrem schwierig, vor allem wenn sie wiedergewählt werden möchten. Da können sie nicht ständig nach Hause kommen und sagen, jetzt haben wir noch einmal etwas vergemeinschaftet. Doch auch der Ton untereinander hat sich sehr geändert.
Inwiefern?
Als ich hier angefangen habe, aber auch bis in die ersten Nuller Jahre hinein, wäre der Ton noch völlig unvorstellbar gewesen, den wir heute in den Medien haben. Schlagzeilen von den „faulen Griechen“, Frau Merkel, die in Dritter-Reich-Manier dargestellt wird... Dieser Ton hat auch dazu geführt, dass die einzelnen Staaten einander heute viel skeptischer gegenüber stehen, dass das Gemeinsame schwieriger zu finden ist als die Unterschiede.
„Bei den Attentaten vor einem Jahr ist mir so richtig klar geworden, wie sehr wir nebeneinander statt miteinander leben. Und dass es Parallelgesellschaften gibt, in denen Menschen wie ich gehasst werden – so sehr, dass man ihnen nach dem Leben trachtet, wenn sie morgens auf dem Weg zur Arbeit aus der U-Bahn steigen.“
Verliert die Arbeit in Brüssel bzw. Straßburg in dieser Atmosphäre auch für Markus Warasin an Reiz?
Nein, auch wenn man sie nach 20 Jahren natürlich anders sieht als am ersten Tag. Doch hier zu arbeiten, ist nach wie vor mein Traumjob. In Teams zu arbeiten, in denen es 20 verschiedene Nationalitäten gibt, mit extrem kompetenten Leuten zusammenzuarbeiten, intellektuell herausfordernde Aufgaben zu bewältigen wie eine Europa-Kampagne zu machen, die in 28 Staaten vermitteln soll, dass wir ein gemeinsames demokratisches Haus haben....das alles ist einfach mein Traum.
Ihr ursprünglicher Traumjob war das Lehramt, von ihrem Elternhaus her haben Sie das Hotelgewerbe im Blut. Was davon können Sie im EU-Parlament leben?
Mit kommt manchmal wirklich vor, dass es hier wie in einem Riesen-Hotel zugeht. So wie der Gast bei mir zu Hause König war, sind es hier die Abgeordneten. Die sind bei uns die Kings, wir sind die servants, die Funktionäre, die da sind, um den ganzen Betrieb am Laufen zu halten. Die Abgeordneten selbst nehmen das oft gar nicht wahr, was dafür alles geschehen muss. Wir sind schließlich 7000 Beamte gegenüber 751 Abgeordneten, und rund 10 Prozent davon sind wie ich im Management. In jedem Fall braucht man dafür eine Dienstleistungseinstellung, muss service-oriented sein. Doch auch den Lehrer kann ich regelmäßig leben, denn ich empfange hier viele Besuchergruppen, mit denen ich mich dann über die Integrationsgeschichte auslassen kann.
„Mit meiner Nominierung wollte Tajani auch sein Anliegen zum Ausdruck bringen, dass Europa nicht allein von den Staatsgrenzen her gedacht werden soll, sondern viele Identitäten hat.“
Tatsächlich sind Sie aber seit 2005 offiziell EU-Beamter, also einer der rund 50.000 Brüsseler Technokraten. Erkennen Sie sich in deren schlechtem Image wieder?
Nun, generell haben wir tatsächlich eine furchtbare Technokratie hier. Der Vorwurf stimmt, den kann auch ich teilen. Wenn es auch die oft zitierten Gurken- oder Bananen-Verordnungen längst nicht mehr gibt. Die wurden darüber hinaus auch nicht von der EU erfunden, sondern wurden damals von der Wirtschaft gefordert. Aber klar, mit über 35.000 Beamten in der Kommission, 7000 im Parlament, jeder Menge Diplomaten im Rat ist das hier ein gewaltiger Apparat. Dazu kommen dann auch noch all die Journalisten und Lobbyisten, die ebenfalls alle schon ein wenig verbürokratisiert sind. Was hier geschrieben wird, wird zu Hause oft gar nicht mehr verstanden...
... weil auch die Journalisten zu sehr im Fachjargon drinnen sind?
Ja, die sind auch Teil dieser Brüsseler Käseglocke, die kennen die Themen genauso gut wie die Kommissare oder Beamten und verwenden dasselbe Vokabular.
Sind auch Sie Teil dieser Käseglocke?
Ich würde mich zumindest nicht als typischen Bürokraten bezeichnen, eher als sehr pragmatischen EU-Funktionär. Der, wie die Engländer sagen würden, versucht, to get things done, also konkret etwas zu leisten statt dem zweiten noch ein drittes und viertes Dokument nachzuschieben. Aber ich habe auch viele Kollegen, die so arbeiten, und sich hinter den Regeln verstecken. Dennoch muss ich sagen, dass Europa ohne diesen ganzen Apparat, ohne die Präsidenten von Rat, Kommission und Parlament, also ohne diese Brüsseler Klammer, schon längst zerfallen wäre. Denn so gibt es Spielregeln, die eben doch noch von allen anerkannt werden. Und wenn Tsipras in einer Woche mit Merkel streitet, beruft der Ratspräsident für die kommende Woche eben ein neues Treffen ein, und dann wird doch wieder signalisiert: Wir sind ein Europa.
Wie viel wetten Sie darauf, dass diese Klammer Europa auch noch in den kommenden Jahrzehnten zusammenhalten wird?
Vor 10 Jahren hätte ich alles darauf gewettet. Auch heute glaube ich nicht, dass die EU in den kommenden zehn oder 20 Jahren untergehen wird. Aber es ist wahrscheinlich, dass sie stark an Bedeutung verlieren wird. Ich sehe die große Gefahr, dass wir eine ähnliche Entwicklung wie die Vereinten Nationen machen werden. Die wurden nach dem Krieg als ganz großer Hoffnungsträger für eine künftige Weltregierung gesehen, doch heute wird Weltpolitik nicht von der UNO, sondern woanders gemacht. Ähnlich könnte es für den einstigen großen Hoffnungsträger EU laufen. Wobei man auch sagen muss, dass die UNO trotzdem wichtig ist. Wenn es sie nicht gäbe, wäre es noch schlimmer.
Ein schwacher Trost?
Vielleicht auch einfach eine Abrechnung mit unserer Geschichte. Vielleicht haben wir einfach zu viele Hoffnungen in die EU gesetzt. Und wir sind einfach zu langsam. Man muss sich nur vorstellen, dass wir 60 Jahre gebraucht haben, um bei der letzten Europawahl so etwas wie einen Spitzenkandidaten zu haben. In Brüssel war das eine Revolution, für jeden Europäer ist es das Banalste überhaupt. Die Europäische Union muss also dringend lernen, schneller zu sein. Wenn das gelingt, wird sie mehr zählen, wenn nicht, wird es sicher einen extremen Bedeutungsverlust gegenüber den Mitgliedsstaaten geben.
Exzellenter Artikel zu diesem
Exzellenter Artikel zu diesem Interview: http://www.brennerbasisdemokratie.eu/?p=33920
Interessante Einblicke.
Interessante Einblicke.
Ein bisschen beunruhigend bzw. traurig Warasins pessimistisch-resignierender Ausblick auf die Zukunft der EU.
Es ist eigentlich ganz
Es ist eigentlich ganz einfach: findet Europa nicht die Kraft, den Nationalstaat mit seinen Partikularinteressen zu überwinden und gemeinsam zu handeln, wird es wieder zu einem Spielball größerer Mächte und zum Schlachtfeld auf dem diese ihre Konflikte austragen. Also jenseits der Tatsache, dass eine Minderheit in einem Europa der Nationalstaaten auf verlorenem Posten steht, sollten dies besonders die Politiker der Freiheitlichen, der Bürgerunion und der Südtiroler Freiheit bedenken, wenn sie meinen wieder einmal auf die EU schimpfen zu müssen, die im Gegensatz zu ihnen mindestens konkret zum Wohle der Bürger (aller!) handelt.
Darauf wären wir nie gekommen
Wie schön, dass es immer wieder aufschlussreiche Kommentare von kreativen Namensschöpfungen gibt!
:-)