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Politik | Aus dem Blog von: Benno Kusstatscher

Was ist das, ein Tiroler?

Die Silvia ist schuld! Allein wäre ich doch nie auf die Idee gekommen, so einen Beitrag zu schreiben. Was ein Tiroler ist? Ist mir doch egal. Unwichtig. Blöde Frage. Und doch: Sieht man sich die aktuellen, politischen Diskussionen an, hat man schon das Gefühl, als ob wir nicht recht wüssten, wer wir denn wären. Rechtzeitig zum Herz-Jesu-Sonntag könnte da ein Selbstversuch einer Eigendefinition schon hilfreich sein. Nur, es ist mir peinlich! Nicht nur wegen der Öffentlichkeit, nein auch gegenüber engstem Freundes- und Familienkreis. Mir schwitzen die Hände, ich spüre, wie ich belächelt werde, wie mein Beitrag genervt weggeklickt wird. Darf man das überhaupt fragen? Darf man sich anmaßen, das zu beantworten? Fühlt sich so ein Tabu an? Na, dann lohnt es sich ja, es zu wagen.

Also vorne weg: Ich kann es nur für mich versuchen. Jedem/r seine/ihre eigene Tiroler/in-Definition, alles andere wäre ein nationalistischer Ansatz. Schließlich gehören Tiroler wie Basken, Kurden und den vielen anderen zu den Verlierern der Nationengründungen in den letzten beiden Jahrhunderten. Erst unsere „Italiener“ im Österreich der späten Habsburger, dann unsere „Deutschen“ im jungen Italien, und die Ladiner sowieso.

Jetzt das Outing: Ja, ich habe für mich beschlossen, ein Tiroler zu sein! Natürlich bin ich Kind der südlichen Sonne. Natürlich haben mich unserer Eltern Faschismus-, Options- und Katabombenschulen-Erfahrungen geprägt. Natürlich erlebte ich Bomben auf meinem Schulweg und natürlich lebe ich als Bozner mitten drin in der heutigen Multisprachlichkeit und Multikultur. Die letzten knapp 100 Jahre haben also auch mir ein gewisse Südtiroler Identität beschert, selbstverständlich. Trotzdem, steht Südtirol für mich in erster Linie für Enge. Für eine Enge, die mich würgt. Ich leide wie ein Hund wegen der .bz-Zufriedenheit unserer Medien, Politik und eigenen Schädel. Salurn, Winnebach, Brenner und Sesvenna sind wie Bretter vor den Köpfen, wirken als in Beton gegossene Ursache für die Unlösbarkeit unserer gesellschaftlichen Probleme. Die von Karl Felderer besungene Landesdefinition lastet auf meinen Schultern wie unentlarvte Propaganda einer schon lange vergangenen Ära. „Ich will hier raus!“, um es mit Purple Schulz zu sagen.  

Ein Tiroler bin ich, ein tiroler Europäer, wenn ihr wollt. Was das bedeutet, weiß ich ja selber nicht, aber wenn ich in mich hineinhorche, dann werden schon ein paar Dinge klar: Ich mag es nicht, wenn im Herz-Jesu-Land das Tirolersein wichtiger sein soll als minimalste christliche Werte. Das sage ich, ohne mich auch nur ansatzweise als Vorzeigechrist definieren zu wollen. Im Gegenteil. Dem Walschenhass und der Ausländerfeindlichkeit haben wir nicht die ewige Treue geschworen. Und überhaupt, wir Tiroler sprechen seit jeher ladinisch und trentin genauso wie bajuwarisch, manchmal auch alemannisch. Wir sprechen's nicht nur, wir sind es auch. Von wegen, „tirolerisch“ wäre eine bairischere Abwandlung. Da hat jemand etwas Wesentliches nicht verstanden!

Wenn ich wieder einmal ungeduldig die halbherzige Neugierde amerikanischer Kollegen mit "austrian minority in northern Italy" abzuwimmeln versuche, wohl wissend wie verkürzt diese Darstellung ist, oder wenn ich erkläre, dass die Trentiner den selben Dialekt sprechen wie wir, nur halt in einer anderen Sprache und dann sofort die Frage bekomme, warum denn die Italiener in Bozen keinen solchen Identitätsakzent in der Aussprache hätten, dann quälen mich wieder diese bösen Gedanken, wie wenig wir auf beiden Seiten die Anomalien unserer gemeinsamen Geschichte aufgearbeitet haben. Ich tue so, als hätten wir ein Sprach- und Kulturgrenzenproblem, so vereinfacht kann es ein Ami verstehen.

Sprachgrenzenproblem. Bah! Von wegen, in Sachen Sprachgrenze haben wir jahrhundertelange, problemlose Erfahrung. Wir haben wohl eher immer noch ein Zugreistenproblem, mit Zugereisten, die noch immer nicht richtig angekommen, weil immer noch nicht aufgenommen worden sind. Vielleicht wäre es für die damals zugereisten erstrebenswerter, ein Trentiner Tiroler zu werden, denn als zweit-klassiger Südtiroler geduldet zu werden. Ich spreche von der Sicherheit, die ein Trentiner Hinterland auch auf Bozner Boden geben könnte. Welchen Preis wir mit dem damals wohl notwendigen Los von Trient bezahlt haben: chè disagio. Vielleicht würde mir das Wort „Welschtiroler“ leichter über die Lippen gehen, wenn ich mir unserer früheren, schmutzigen Gedanken nicht allzu bewusst wäre, oder wenn wenigsten heute nicht mehr diese Aorta bz-italienischer Bodenverbundenheit von vielen am liebsten an der Salurner Klause gekappt werden würde. „Trentiner“ ist auch ein schönes Wort und ich verspüre überhaupt keinen Bedarf nach Abgrenzung, nicht nur weil Schlagbäume historisch überall nur nie dort gestanden sind. Mein „Tiroler“ schließt den Trentiner selbstverständlich mit ein und das nicht nur, weil Trentino der Schlüssel zur Disagio-Thematik ist. Ich bin kein opportuner, einmal mit einmal ohne Trient Euregio-Tiroler. Ich bin den Trentinern ein verlässlicher und treuer Freund, wie man das von Tiroler Aufrichtigkeit eben erwarten könnte. Das einmal ausgesprochen gehören Italiener beidseitig Salurns so selbstverständlich mit dazu, dass ich mich fast schon wieder trauen dürfte, wie früher „Walsche“ zu sagen, ohne dass mir jemand dabei irgendetwas Böses, Unanständiges, Abgrenzendes oder Abwertendes andichten würde. „La storia siamo noi, attenzione, nessuno si senta escluso.”, nach Francesco De Gregori. Mit neuen Realitäten zurück zur vornationalen Normalität.

Da fällt mir ein romantischer Lagerfeuerabend ein, den ich mit romanischen Freunden im Engadin genießen durfte. Da begannen die zu meiner Überraschung italienische Volks- und Bergsteigerlieder zu singen. Der romanische Kulturkreis wäre nicht so groß, da gäbe es kein so reichlich eigenes Volksgut. Da muss ich unweigerlich an die intelligente, moderne Margarethe von Maultasch denken, die schon im fernen Jahre 1363 erkannt hatte, dass unser kleines Land am zoll-lukrativen Brenner viel zu klein ist, um im rauen Ambiente bestehen zu können. Natürlich schließe ich den Bogen ins moderne, frühe 21ste Jahrhundert, in dem sich ein Bruchteil des Maultasch-Reiches als .bz selber genügt und sich am liebsten noch verfreistaatlichen würde, ohne zu erkennen, dass ein geteiltes Land ein schwaches Land ist.

Ein Blick auf historische Landkarten zeigt mir deutlich: wir Tiroler sind kein, ein gewisses Territorium besiedelndes Völkchen. Einmal mit, einmal ohne Görz. Mit, ohne Tarasp, Trentino, Osttirol, Zillertal, Souramont etc. Da ist mein Tirol territorial anders als das vom Hofer Ander oder das vom Gaismair Much. Und wenn ich mir die kürzlich vom Euregio-Büro herausgegebene Landkarte anschaue, die fast millimetergenau an den momentan geltenden Grenzen der heutigen drei Länder abgeschnitten ist, dann müsste ich mir eigentlich eine Gemütsregung erwarten, wenn ich über dessen Grenzen fahre. Salurner Klause? Ich spüre nichts! Borghetto? Njet! Aber doch, dann irgendwo hinter der Berner Klause, dort wo sich die letzten Alpenausläufer verlieren, da fühl ich mich plötzlich ein bissel fremder. Und von Norden kommend, wenn ich vom Irschenberg erstmals einen Blick bis tief ins Unterinntal erhasche, dann spüre ich schon dieses "ich komm heim" und zwar dank des bairischen Wendelsteins und nicht etwa wegen der militärisch trutzigen Kufsteiner Burg.

Ein Tiroler ist halt ein Bergler. Ich auch und irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass mein Herzschlag vielmehr der eines Alpenländers ist. Dieses Gefühl definiert aber nicht den Tiroler und schon gar nicht einen Großtirolwahn. Ich bemerk aber dieses Blitzen in meinen Augen, wenn immer jemand mit uns gemeinsame Sache machen will, vielleicht in Belluno, in Salzburg oder in Vorarlberg oder so, und dann wird mir diese abgrenzende Tirolerdefinition so etwas von wurscht, weil mir das Gemeinsame eben viel wichtiger ist als das Trennende. Nennt mich einen schlechten Tiroler, wenn ihr wollt. Ich spüre derweil, dass der „Tiroler“ zwar meine kulturelle Identität ist, dass ich aber meine Zukunft als europäischer Alpenländer bestreiten werde.

Reise ich nach Osten, dann kann ich mich noch in der tiefen Steiermark als Österreicher durchaus heimisch fühlen. Im Westen lasse ich mich in Bormio gerne als Italiener bezeichnen, in St. Moritz schmeichelt mir der „Schweizer“ fast, und zwar nicht nur, weil in meinen Adern auch Schweizer Blut fließt. Trotzdem, stehen für mich die Nationen Austria, Germany und Switzerland genauso emotionslos im Nirgendwo wie Italy. Es ist ganz bestimmt kein Anti-Italien-Sentiment, es ist dieses Anti-Nationen-Sentiment, das mich an der Nahtstelle zwischen Deutschland, Schweiz, Österreich und Italien dann doch wieder bemüßigt, mich als Tiroler zu definieren, als Nicht-Nationalist sozusagen, vielleicht gar als aktiver Anti-Nationalist, oder um es keck zu formulieren: als Post-Nationalist.

Ist das mit den Grenzen schwierig, so versuch ich die Definition über die Menschen: „Ihr Tiroler seid kulturelle Lahmärsche und spießig oben drein“ sagen mir die aus dem Salzkammergut. Einspruch! Aber dann fliegen die Bilder Goisern, Hardbradler, Frei.Wild durch meinen Kopf und komprimieren sich zu Kopfschmerzen. Dann stelle ich mir den Aufschrei vor, wenn eine Gitsch oben ohne am Montiggler See..  aber wir haben doch die Tania Cagnotto, die für den Playboy... und da bin ich irgendwie stolz auf die Tania, die ausgebrochen ist aus unserem üblichen, mit Sicherheit spießigen Rahmen. Ein Ausbrechen, das anderswo nichterwähnenswert normal wäre. Dumm, so etwas zu erwähnen hier. Und dann fällt mir unweigerlich Benedikter Junior ein, der schon lange keine Plakate mehr geschmiert und ein Messner, der auf alles eine Antwort hat. Seh den stolzen Bauern, breitbeinig, stolz und frei, den Individualisten, eben. "Ich will nicht mit den Wölfen heulen, schreib mich in keinen Verein ein" hätte Reinhard Mey ein guter Tiroler sein können? Aber dann,  Feuerwehr, Musikkapelle, Schützen, Jäger, SSV, AVS, ACI, Partei... Richtige Vereinsmeier sind wir, Verein.Wild, und ich verwerfe den freien Individualisten sogleich wieder. Woher ich bloß dieses verklärte Hofer-Prototypen-Klischee habe?

Vielleicht von den strammen Mander der Schützen, wie neulich, als ein paar Orden behangene die Erstkommunionsfeier meines Buben verschönten, und ich meinen Kindern keine zufriedenstellende Auskunft geben konnte, warum diese schönen Tiroler in der Kirche nicht wie alle anderen den Hut abnehmen und sich nicht einmal bei der Wandlung niederknien. Schön stolz die Tiroler, sakra! Ob denn die feinen, weißen Offiziershandschuhe zur Tiroler Tracht gehörten und ob man mit dem Vorderlader über der Schulter dem Herz Jesu besser dienen könne? Und ob denn die Freiheitskämpfer am Berg Isel mit der Mistgabel auch so stramm marschiert wären wie die Franzosen und letztes Jahr die Schützen? Wie unverkrampft die Kinder den Bogen zum Computerspiel „The Lemmings“ spannen und die unvorstellbare Vorstellung so lustig finden, auch mich in Reih und Glied zu sehen. Wie gut, dass meine Kinder als auch ich den post-war dream noch immer leben dürfen und ich ihnen diesen Anblick, also mich in Reih und Glied, hoffentlich ersparen werden kann und zwar in bester Tradition des Landlibells.

Dann fällt mir der Arbeitskollege aus Kenya ein, der so wie ich in der Krachledernen auf der Münchner Wiesn mit mir, mit ein paar Ober- und Niederbayern und ein paar preusischen Mädels, die übrigens auch respektierlich ihr Dirndl füllen, ausgelassen feierte. Und keiner hat Stress, dass irgendwelche Kultur geschändet werden könnte, wie bei uns. Bei uns, wo man wegen der Lederhosn von den einen, wegen des dunkelhäutigen Kollegen von den anderen und wegen der prall gefüllten Dirndln von wieder anderen suspekt beäugt wird, weil den unseren eben jedes Selbstbewusstsein fehlt und bei jedem bissel Andersartigkeit gleich der totale Heimatverlust prophezeit wird. Ein Chapeau der „Lederhosn-Lite-Fraktion“, die mit den bescheidenen, manchmal auch lustigen, blauen Schürzen die Gratwanderung mit lobenswerter Leichtigkeit bewältigt.

Wenn ich dieses Wochenende meinen Kindern beim Anblick der vielen Herz-Jesu-Feuer ein bissel Tirolerstolz vermitteln möchte, frage ich mich innerlich bekümmert, wie viele dieser Feuer für den christlichen Gedanken des Herzens Jesu entfacht werden, und wie viele eben gegen Italiener und Zuwanderer und für die "Freiheit des Landes" und ob ich mir und den Kindern etwas vorlüge, beim Anblick der Feuer etwas Romantisches zu verspüren. Ewiggestriges mit einer Würze von Aufbruchsstimmung flammt über, aber Aufbruch wohin? Da flammen die Feuer in unterschiedliche Richtungen und das ist gut so. Diversität ist eben das Gemeinsame der vielen Feuer. Vielleicht auch noch dieser Stolz auf unsere Berge, die wir geschenkt bekommen und uns nicht etwa verdienen mussten. Ich zündle heuer auch und hebe Herz und Hand zu meinem ganz privaten Himmel - und zu meinem Ortler natürlich.  

Und dann weiß ich, was den Tiroler ausmacht: es sind diese Widersprüche tief im Herzen, dieses Ringen zwischen Nostalgie und Moderne, zwischen Opfer und Leader, zwischen Knecht und Bauer, zwischen IG-L und 150km/h, zwischen Nordwand und Hintergrat. Eben diese Widersprüche, die jedes menschliche Wesen in sich trägt. Da können wir zögerlichen Tiroler und Tirolerinnen schon stolz drauf sein, aber nur, wenn wir immer diesen einen Schritt nach vorne gehen, oder halt den einen Salto. Wenn wir diesen und die nächsten Schritte als menschliche Menschen, als alpenländische Europäer und ein bissel weniger als Tiroler gehen, na, was kann dann noch schiefgehen?

 

PS: An Silvia, und wenn Du mit mir die Sprache etwas entrümpeln würdest, wäre meine Wort- und Bilderwahl nicht gar so maskulin geraten. :-)

Was ist das, ein Tiroler? Benno; es ist erst mal ein gran casino. Nördlich des Brenners ist 'Tiroler' erst einmal ganz unverfänglich ein Bewohner des Österreichischen Bundeslandes Tirol; und hat erst einmal weder etwas historisches geschweige denn etwas genuin politisches. Bei uns in Südtirol oder noch besser in bestimmten politischen Kreisen ist Tiroler ein hochemotionaler, hochpolitischer und mit hohen Erwartungen überfrachteter Begriff der das heutige 'Leid' in Bilder gießt und für die Zukunft das erwünscht was Tiroler bis 1918/19 waren; die (meist deutschen) Bewohner eines Landes das von der Südgrenze der Monarchie bis zur Grenze mit Bayern reichte. Dabei vergessen die 'Fans' daß es gerade der Nationalismus war der Tirol, das Passland, für immer geteilt hat. Nördlich des Brenners ist der Tiroler ein Teil des neuen(nicht des alten) Österreichs; die Südtiroler haben diesen 'Österreicherwerdung' nie mitgemacht weil sie bereits vorher davon abgetrennt wurden. "Austrian minority in northern Italy" eignet sich bestenfalls für Sonntagsreden, Dokumente, Traktate und Ähnlichem; außerhalb einschlägiger Kreise(den Bindestrich Süd-Tirolern) kenne ich keine die sich selbst als Österreicher bezeichnen würden. Südtirol selbst ist wieder in sich ein gran casino, geteilt und geteilt; für die meisten die ich kenne gilt die Bezeichnung Südtiroler nur für die deutsche und wenn man großherzig ist noch für die ladinische Sprachgruppe; die anderen gelten als Italiener und der Rest dann als Ausländer/Migranten. Wir sind eben kein Land mit einem gemeinsamen Bewußtsein und geschichtlichem Gedächtnis; an sich nur wenig mehr als mehrere Ethnien die sich ein Territorium teilen; ironischerweise sind es gerade die Sezessionisten aller Couleur die dazu am meisten beitragen. Die Abgegrenztheit die Du in Deinem Beitrag beschreibst trifft so leider zu, dabei sind gar Einige der Karikatur(wie die von Dir beschriebenen Schützen) näher als der Wirklichkeit; den Begriff Tiroler lehne ich für mich als Eigendefinition ab weil er gerade bei uns dermaßen überfrachtet und politisch eindeutig konnotiert ist daß ich in keinem Fall darunterfallen will; und noch weniger die Ziele dieses mehr politischen als kulturellen Tirolertums teile; noch weniger halte ich von den Freistaatlern und ähnlichen Varianten die das Südtirolertum freistaatlich überhöhen wollen und glauben man könne und müsse sich einen Staat(der wohl einem Bunker ähneln würde) am Reißbrett entwerfen; weniger als einen schlechten Witz halte ich es auch für politisch&gesellschaftlich vermessen. Anstatt „Ich will hier raus!“ kommt mir ein „Ich will da gar nicht rein!“ im Sinn. Meine Eigendefinition lautet Südtiroler(in der Version die alle Bewohner des Landes einschließt, aber nicht als postethnischer Witz) und als solcher kann man auch mit der ganzen Umgebung(Nord-Süd-Ost-West) in Verbindung treten.

Sa., 08.06.2013 - 08:00 Permalink

so verschiedene Antworten aus zwei so südtirolerischen Seelen. Aber erst mal ein schönes Danke! an dich für die so ausführliche Beantwortung meiner Frage. Ich persönlich empfinde sie als (d)ein Ideal, Martin's Ausführungen hingegen beschreiben meiner Meinung nach, wie's wirklich ist. Eigentlich hätte ich mit meiner Frage ja darauf hinaus gewollt, aber du hast mich entlarvt und den "Stolperstein" elegant umschifft ;-). Und jetzt widme ich mich mit größtem Vergnügen deinem Postscriptum.

Sa., 08.06.2013 - 08:35 Permalink

hab ich eigentlich schon einmal erwähnt, dass wir uns verstehen würden :-)

p.s.: obwohl ich freilich nicht alles unterschreiben kann, kommt deine tiroler persönlichkeitsfindung der meinen doch recht nahe. und so schön formuliert noch dazu!

p.p.s.: du kennst die ausseer hardbradler? hab die mal live gesehen. in rauris. bei einer art zeltfest. eines der besten konzerte ever. und ich hab in meinem leben recht viele konzerte besucht.

p.p.p.s.: zur "enge" und "weltoffenheit" hab ich einen etwas anderen zugang. ich habe eine zeit lang in england gelebt und auf meinen reisen von kamtchatka bis patagonien, von kambodscha bis neuseeland, von china bis israel, von kanada bis vietnam, von indien bis in die türkei, vom baltikum bis indonesien, von brasilien bis thailand usw. (nur afrika ist leider noch ein weißer fleck auf meiner landkarte) wie ich mir einbilde viel gesehen, viele menschen kennengelernt und viel kultur aufgesaugt. und dabei habe ich auch festgestellt, dass es keine frage der herkunft ist, ob man weltoffen oder verschlossen ist, ob man sich eingeengt oder frei fühlt. der algenzüchter mit blick aufs offene meer auf der insel nusa lembongan in indonesien sprach genauso von "enge" und dass hier alles so "verschlossen" sei, wie der "barista" in einem hotel in nha trang in vietnam oder wie der arbeitersohn im argentinischen el calafate in den weiten patagoniens oder wie der portier eines kleinen gästehauses in rio de janeiro, der in einer favela lebt oder wie die junge studentin und fremdenführerin in tartu in estland oder wie der drusische polyglotte jugendliche aus majdal shams auf den golanhöhen oder wie der sohn reicher indischer unternehmer aus mumbai/bombay oder wie der student mit indischem migrationshintergrund in der millionenstadt birmingham in england usw. sie alle haben mir erzählt, wie einengend und engstirnig alles bei ihnen zu hause sei und wie sehr sie sich wünschten, in einem "weltoffeneren" umfeld zu leben. die südtiroler "enge" ist also ein weltweites phänomen und kein spezifikum. ich halte es da schon mehr mit den ausseer hardbradlern:

wia i dahoam woa
hob i gschimpft üba di
doch hiatz wo i fuat bin
hob i gmerkt was du wert bist für mi

i hob hoamweh - hoamweh nach BA
just a little bit of hoamweh - i hob hoamweh nach aussee

da loser wia er obaschaut
i möcht sei kraft wieda gspian
i hob scho gmoant de berg daschlogn mi
konn koa luft neama kriagn
des salz komma zwoa im meer
a ganz guat schmeckn
oba tat mi mi gern haitz wieda amoi
in mein bett zuadeckn

Sa., 08.06.2013 - 10:19 Permalink

Obwohl ich den Benno nicht kenne, halte ich ihn für eine verwandte Seele und ich habe diesen Text sehr genossen.

Das zentrale Element der Widersprüchlichkeit und die vielen aufgezeigten Möglichkeiten des Tirolerseins enthalten viele beruhigende Botschaften. Eine vor allem: Niemand hat die Deutungshoheit darüber, was es heißt - oder heißen sollte - TirolerIn zu sein. Jeder Versuch ist zum Scheitern verurteilt und die, die ihn unternehmen, outen sich als kleingeistige Teil-Tirolerchen. Oder Teil-Tirolerchinnen, wie's beliebt.

Und dann tun sich unendliche Weiten und Perspektiven auf, was hier in Kernalpinien alles passieren könnte, wenn wir an morgen denken und uns nicht in das enge Korsett eines gestrigen morgens zwängen lassen.

Danke, Benno, für diesen Text. Man sollte ihn bei den Herz-Jesu-Feiern verlesen, die immer mehr zu einem "wer hat den Größeren"-Wettkampf verkommen.

Sa., 08.06.2013 - 10:28 Permalink

... den Beitrag in meinen Blog zu übernehmen, weil ich ihn für ein wichtiges Dokument halte. Ich hoffe, weder der Verfasser, noch salto.bz haben etwas dagegen.

Sa., 08.06.2013 - 10:43 Permalink
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a vegele

...für diesen schönen Text und diese tollen Gedanken. Bei solchen Ansichten könnte sogar ich ein bisschen patriotisch werden (die patria wären dann wohl die Alpen und nicht Südtirol, Tirol, Trentino-Alto Adige, oder was auch immer).
In diesem Sinne schönes Herz-Jesu-Fest euch daheim!

Sa., 08.06.2013 - 10:55 Permalink
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gorgias

Was ist die Tiroler Identität schon wirklich? Jemand kann das ganze Jahr nicht in eine Kirche gehen, aber sich aufregen wenn man in den Schulklassen die Kruxifixe entfernen will. Jemand bezeichnet sich als Tiroler und was ist das dann? Was unterscheidet uns als (Süd)tiroler von anderen Regionen Mitteleuropas wirklich? Die Sprache? Die Küche? Die Religion? Gibt es überall anders auch.
Was aber dem Tirolertum als Identität angeht ist es mehr ein Konstrukt als etwas wirklich etwas authentisches. Ein Konstrukt das über die Jahrhunderte und Jahrzente angepasst wurde um bestimmten Bedürfnissen zu erfüllen. Ein Konstrukt das seinen Achsenpunkt 1809 hatte und abgewandelt immer wieder auftaucht. So war das 1909 Gedenksjahr von den Habsburgern gelenkt und 2009 kam man drauf dass durch unsere politische Zugehörigkeit zu Italien die Tiroler Identität auf beiden Seiten des Brenners andere Entwickliungen nahm, so dass sogar Zwischen den Nord- und Südtiroler Schützenbund dauernd spannungen aufkommen.

Aber jetzt noch zur Frage wer hat gewonnen ( und jetzt meine ich nicht den Krieg sondern den Kulturikampf ) zwischen Tirolertum und Aufklärung? Ein Gedankenspiel:
Würde es heute wieder zwei Gruppen geben: Die eine würde sich für die Weihnachtsmette, das schließen der Gaststuben während der Messe und ein züchtiges und gottgefälliges Leben einsetzten, das die Religion so ernst nimmt in der Lebenspraxis wie sie es in Afrika heute noch getan wird, und die andere würde für Bildung, individuelle Freiheiten und Religionsfreiheit einsetzen. Für welchen Way of Life würde sich die heutige Bevölkerung Südtirols entscheiden? Welcher Seite würden Sie sich anschließen und es wert sehen zu kämpfen?
In Wahrheit sind wir alle schon Franzosen und Kinder der Aufklärung: libertè egalitè fraternitè!

Sa., 08.06.2013 - 15:10 Permalink

dann sind sie ein Opfer, ein Opfer Ihrer Kleingeistigkeit:

>. . . Frauen wie mich – von denen Sie instinktiv ganz genau wissen, dass sie keineswegs Opfer sind und sich in keiner Rolle suhlen und auch nicht „aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale“ dort sind wo sie sind oder nicht sind – möglichst zu zerrupfen wenn nicht zerfetzen.<
???

>So, und jetzt muss ich arbeiten, damit ich nicht am Ende doch noch als Opfer ende.<

>Das liegt daran, dass ich den Großteil meiner Kräfte für den täglichen (Über-)Lebenskampf für meine Tochter und mich – denn wir wollen beide kein Sozialfall werden und auch nicht dem Staat auf der Tasche liegen – aufwenden muss.<

>"Es ist nicht mein Wunsch, dass der Schwache durch den Mächtigen ungerecht behandelt wird; es ist nicht mein Wunsch, dass dem Mächtigen durch den Schwachen Ungerechtigkeit widerfährt; das Gerechte, das ist mein Wunsch".<

>Logisch schlussfolgern gehört wahrhaftig nicht zu meinen Stärken. <

>Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass das Thema für mich viel zu komplex ist, als dass ich eine tiefschürfende Diskussion darüber führen könnte.<

>Ich schreibe diese Kommentare und Beiträge stets zwischen Tür und Angel und mit ca. 300 anderen Dingen im Kopf <

>Weißt du, mit Dingen wie These, Synthese und Antithese kann ich wenig anfangen, auch mich Phasen, Strömungen, mit Mars und Venus, die beiden kenne ich als Planeten und ansonsten vom Hörensagen, mah, ist halt nicht wirklich mein Ding, was soll ich sagen. Ist das jetzt oberflächlich? Dümmlich? Seicht? Jedenfalls ist es halt so. Und natürlich werde ich bald 50, insofern wäre es durchaus plausibel, dass ich noch im letzten Jahrhundert feststecke. Aber vielleicht finde ich ja doch noch einen Weg da raus.<

Sa., 08.06.2013 - 16:51 Permalink

auf Ihre Frage, "welcher Seite würden Sie sich anschließen und es wert sehen zu kämpfen?". Ich habe Sie wohl wieder einmal falsch verstanden. Egal. Schönen Sonntag (nb: achten Sie auf die accents, égalité zwei Mal und auch die beiden anderen jeweils mit accent aigu pas grave auf dem Endungs-é).

Sa., 08.06.2013 - 16:59 Permalink

jener mit einer staende-mentalitaet. ich will Privilegien abbauen und sie wollen welche einführen. und ihre kleinkarierte sprachkosmetik hat nichts mit Gleichheit und Gleichberechtigung zu tun. das aber wäre wiederum zu kompliziert für sie zu verstehen, wie sie schon selbst eingestanden haben

Sa., 08.06.2013 - 17:22 Permalink
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Es hat mir die Tränen herausgedrückt bei Deinen Worten, lieber Benno. Ich bin eine Anhängerin der Psychologie, der wirklich guten, nicht der Feld- Wald- und Wiesen und ich glaube, den guten alten Freud würde das Herz höher schlagen, so gut hast Du Ambivalenz beschrieben, ohne die wir, so hab ich verstanden, keine wirklichen Menschen sind sondern nur vom Unbewußten fremdgesteuerte Roboter. Ein besseres Bild von einem Tiroler kann nicht gezeichnet werden, von dem menschlichen, der tief drin steckt, weg von dem was die letzten 25 Jahre daraus gemacht haben.

Sa., 08.06.2013 - 17:18 Permalink
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Hab's meinen Kindern geschickt, morgen, zum Herzjesusonntag, wissen auch oft nicht, was sie sind in der Welt von Berlin bis Zürich.

Sa., 08.06.2013 - 17:24 Permalink

Ich bin überwältigt von Euren Kommentaren, und meine ausnahmslos alle (bisherigen), die mir gegolten haben. Schon ist mir das alles ein bissel weniger peinlich. Danke, dass Ihr mich mir Mut gemacht habt und mich auch geerdet habt. Mir liegen ein paar Antworten auf den Lippen, aber da es sich um einen reinen Bauchgefühlbeitrag handelt und eben nicht um große Argumentationskunst, möchte ich das Gesagte auf sich ruhen lassen und nicht durch Details zerreden. Ihr habt alle so 100%ig Recht und ich spüre auch Euren Knacks im Herzen. Es ist ein schöner Moment für mich.

Sa., 08.06.2013 - 19:30 Permalink