Politik | Eingriff in Genua

Der Große Garant

Grillo macht es seinen Anhängern nicht leicht. Er fordert ihnen einiges an "Vertrauen'" ab. Aber sie werden es schon schaffen.
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Eigentlich wollte ich jetzt nicht schon wieder über Grillo und seine „Bewegung“ schreiben. Aber Aufschlussreiches ist geschehen.

„Uno vale uno“, einer gilt einer, so lautet das heilige Grundprinzip der 5-Sterne-Bewegung. Laut Paolo Flores Arcais, dem Philosophen und Herausgeber der Zeitschrift MicroMega, der noch vor Kurzem Grillos unerschütterlicher Bewunderer war, beruht die Mathematik der 5SB noch auf einem weiteren Axiom: „Zwei gelten mehr als der ganze Rest“. Mit anderen Worten: Alle Mitglieder sind gleich, aber im Zweifelsfall entscheiden Grillo und Casaleggio.

Die annullierte Vorwahl von Genua

Dass sich diese Mathematik in Praxis übersetzen lässt, bewies Grillo letzte Woche. Wie in anderen Städten Italiens stehen demnächst auch in Genua Kommunalwahlen an, und wie es sich für eine moderne basisdemokratische Bewegung gehört, wollte die 5-Sterne-Bewegung ihren Bürgermeister-Kandidaten durch eine Vorbefragung ihrer  „zertifizierten“ genuesischen Mitglieder im Netz ermitteln. Es gab mehrere Aspiranten, von denen einer, Luca Pirondini, erkennbar Grillos Gunst besaß, weshalb man seinen glatten Sieg erwartete. Aber es kam überraschenderweise anders: 332 stimmten für Pirondini, 362 für eine Marika Cassimatis, die damit eigentlich – nach dem Prinzip „uno vale uno“ – zur Kandidatin gewählt war (das Problem, dass dies etwas wenig Stimmen für die Auswahl eines Bürgermeister-Kandidaten sind, der eine 600.000-Einwohner-Stadt wie Genua regieren soll, lasse ich beiseite – das ist bei der 5SB so üblich). Dank Pirondini, dem Favoriten Grillos, wissen wir inzwischen Genaueres über sie: „Sie glaubt nicht fest an die 5SB“ – schlimm! Und sie halte Kontakt zu Dissidenten – noch schlimmer! Grillo erklärte, ihm sei eine Dokumentation zugeschickt worden, dass die Cassimatis das Image der 5-Sterne-Bewegung geschädigt, andere Mitglieder angegriffen und Ausgetretene unterstützt habe.

Die Dokumentation zeigte Grillo niemandem (bemerkenswert bei jemanden, der allen anderen Parteien „Transparenz“ abfordert). Aber als „Garant“ der 5SB müsse er Konsequenzen ziehen: Er erkläre das Abstimmungsergebnis für ungültig, und zwar „unwiderruflich“. Kandidiere die Cassimatis trotzdem, dann nicht unter dem Logo der 5-Sterne-Bewegung (über das Grillo persönlich verfügt). Nun setzte Grillo eine zweite Abstimmung an, aber wandte sich dabei nicht mehr nur an die „zertifizierten“ Mitglieder in Genua, sondern in ganz Italien: Sie sollten auf der Stelle („zwischen 10 und 19 Uhr“) darüber abstimmen, ob sie für Pirondini sind oder dafür, dass die 5SB in Genua überhaupt nicht an der Kommunalwahl teilnimmt. Die Cassimatis hatte Grillo gestrichen. Im Blog berichtete er stolz das Ergebnis: 16.000 für Pirondini, 3.762 für den Teilnahme-Verzicht. Grillo hatte, was er wollte. Noch Zweifel? Entwaffnende Antwort: „Wenn jemand meine Entscheidung nicht versteht, der muss mir eben vertrauen“. Ich weiß nicht, was hier trostloser ist: Grillos Vorgehen oder die Komplizität der 16.000, die dieses Spiel mitspielten.

Grillos Alternative zur repräsentativen Demokratie

Genua zeigt, von welchem Stoff die „direkte“ Demokratie der 5-Sterne-Bewegung ist. Wie in der berühmten Bananenrepublik wird so lange gewählt, bis das Ergebnis stimmt. Der Hammer hängt beim „Garanten“, der zugleich Siegelbewahrer der Bewegung ist. Was „direkt“ ist, sind seine Eingriffsmöglichkeiten. Er entscheidet, ob das Ergebnis einer Abstimmung gilt. Er wirft schon gewählte Kandidaten aus dem Rennen, aufgrund von Informationen, über die nur er verfügt. Er entscheidet, auf welcher Ebene worüber abgestimmt wird. Seine Entscheidungen sind „unwiderruflich“. Wer hier von „Vertrauen“ redet, meint Gehorsam, und wer hier noch von „direkter“ Demokratie redet, meint autoritäre Herrschaft. Ohne die umständlichen, aber einklagbaren Regeln der repräsentativen Demokratie.

Eine Abschweifung nach Deutschland: Als die Grünen ihre ersten Gehversuche machten, wollten auch sie mehr Demokratie von unten praktizieren. Jeder konnte mitmachen, ohne sich erst mühsam hochdienen zu müssen, und wer es sich zutraute, konnte für ein Abgeordneten-Amt in der Kommune, im Land oder sogar im Bund kandidieren, wenn er genug Unterstützer in den Versammlungen der „Basis“ fand. Die Kehrseite waren endlose Sitzungen, in denen wichtige Entscheidungen durch Zufallsmehrheiten gefällt wurden, wenn die meisten schon gegangen waren; Kultur des Misstrauens gegenüber Führungsfiguren, die sich auf Dauer etablieren könnten; bewusste Hinnahme von Unprofessionalität. Aber alles in allem führte es doch eine neue Generation an die Politik heran, auch wenn sich die Grünen in den letzten Jahrzehnten zunehmend als „normale“ Partei etablierten.

Die basisdemokratischen Anfänge der 5SB

Mit den Grünen teilte die italienische 5-Sterne-Bewegung, die gut 25 Jahre später entstand, zunächst nicht nur inhaltliche Berührungspunkte (Umwelt), sondern scheinbar auch den basisdemokratischen Ansatz. Die sog. „Meetups“ der 5SB, die 2005 in vielen Städten entstanden, ermöglichten die sofortige Selbsttätigkeit für das Gemeinwohl, anders als z. B. die PD (oder ihre Vorläufer). So wurden auch sie zum Durchlauferhitzer für eine neue Generation, die in die Politik drängte. Aber es gab Unterschiede:

Erstens waren die Meetups von vornherein an den charismatischen Übervater Beppe Grillo gebunden (sie nannten sich oft „Meetups Amici di Beppe Grillo“), dessen Schimpfreden auf Politiker Tausende von Zuhörern auf die italienischen Plätze lockten. Da sich Grillo aus ihren kommunal ausgerichteten Aktivitäten weitgehend heraushielt, schien diese Bindung zunächst eher die eigene Sichtbarkeit zu stärken als die Eigenständigkeit zu belasten. Dies änderte sich, als sich die 5SB 2010 politisch auch überlokal organisierte und Grillo die Zügel fester in die Hand nahm. In der französischen Wochenzeitung „Journal du Dimanche“ (23. 01. 2017) bezeichnet er die 5SB als „politisches Laboratorium“, das von ihm und dem inzwischen verstorbenen Casaleggio sr. 2010  gegründet worden sei – als ob sie sein persönliches Versuchsobjekt ist. Eine analoge Figur gab es bei den Grünen nicht.

Zweitens hat der Einstieg der Unternehmensdynastie Casaleggio (erst des Vaters Gianroberto, dann des Sohns Davide) die Fremdbestimmung der 5SB verstärkt, deren Ziele nun unter Marketing-Gesichtspunkten ermittelt werden. Damit änderte sich auch der dominante Typ ihrer Aktivisten: An die Stelle des innengeleitete Wertorientierten trat mehr und mehr der außengeleitete follower. Ein Übergang nicht ohne Spannungen. Grillos Kampf gegen kritische Medien und die Leichtigkeit, mit der er traditionelle Werte der 5SB über Bord wirft (Menschenrechte, Basisdemokratie), ist auch ein Kampf gegen die interne Eigenständigkeit.

Opportunisten

Auch die Führungsschicht der „Bewegung“ scheint es sich gefallen zu lassen. Als zweiter Mann nach Di Maio gilt Alessandro Di Battista – wenn die 5-Sterne-Bewegung die nächste italienische Regierung stellen sollte, ist ihm ein Posten sicher. Die „Repubblica“ berichtete, bei ihm habe es nach Genua einen Moment des Aufmuckens gegeben. Aber die „Repubblica“ ist „Lügenpresse“, von ihr wohlwollend zitiert zu werden ist in der „Bewegung“ schon fast ein Todesurteil. Also leistete Di Battista schleunigst Abbitte und erklärte Grillo, der für sein Vorgehen schon seine Gründe gehabt haben werde, öffentlich sein volles „Vertrauen“. Grillo umarmte ihn ebenso öffentlich.

Das letzte Wort will ich Grillo selbst überlassen. Als er am Montag von den Journalisten auf sein Vorgehen in Genua angesprochen wurde, antwortete er: „Eine Demokratie ohne Regeln ist keine Demokratie“. Glückwunsch, das hat er also gelernt. Dann: „Wir haben unsere Regeln“. Unbestreitbar, auch wenn Grillo hier einen kleinen Zwischenschritt auslässt: den Nachweis, dass seine Regeln besser sind als die der repräsentativen Demokratie. Aber Grillo beschränkt sich nun einmal auf das Faktische. „Ich bin der Garant und sorge dafür, dass sie eingehalten werden“. Dass genau hierin das Problem liegt, spielt keine Rolle. Dann die Feststellung, der man sich wieder aus vollem Herzen anschließen kann: „Wer damit nicht einverstanden ist, mache sich eine andere Partei“.

Genauso ist es, Beppe. Wer drin bleibt, lässt sich das alles gefallen. Und spielt mit.