Die Verfassungsbrecher
In Artikel 2 der spanischen Verfassung heißt es nahezu analog zu Artikel 5 der italienischen Verfassung: „La Constitución se fundamenta en la indisoluble unidad de la Nación española, patria común e indivisible de todos los españoles, […].“ (Die Verfassung gründet sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier). In Italien hat das Verfassungsgericht eigenmächtig und ohne Einbindung des Parlamentes über diesen Unteilbarkeitspassus sogar noch eine Ewigkeitsklausel verhängt. Das heißt, Artikel 5 kann auf demokratische Weise nicht mehr abgeändert werden.
Womit wir bei der Frage wären: Wie rechtstreu muss eine demokratische Gesellschaft angesichts undemokratischen Rechts sein? Wir kennen dieses Dilemma, mit dem sich die katalanische Unabhängigkeitsbewegung gegenwärtig konfrontiert sieht, nur zu gut bezüglich der Frage nach dem Maß an Toleranz gegenüber Intoleranz in einer offenen, demokratischen Gesellschaft. Und so wie ich der Überzeugung bin, dass Rassismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist und sich die Toleranz gegenüber Nazis und Faschisten demnach in Grenzen halten sollte, so denke ich, dass die demokratische Willensbekundung – solange sie keine Grundrechte antastet – über undemokratischem Recht steht. Gemäß einem Motto der katalanischen Grünen: „Legalität ist nicht unveränderlich und hat sich dem demokratischen Willen anzupassen und nicht umgekehrt“. Wesensmerkmal einer Demokratie ist die Veränderbarkeit von Regelungen. Lediglich Grundwerte wie das Recht auf Leben, die Gleichheit aller Menschen usw. stehen nicht zur Disposition. Die Zugehörigkeit zu einer Verwaltungseinheit (=Staat oder Staatengemeinschaft) tastet jedoch nicht im Geringsten Grundrechte an und kann somit selbstverständlich jederzeit einer demokratischen Entscheidung unterzogen werden.
Eine Unteilbarkeitsklausel in einer Verfassung ist somit ein – wie auch Landeshauptmann Arno Kompatscher bekennt – undemokratisches Recht. Ganz egal, ob es auf demokratische Art zustande gekommen ist oder nicht. Die Vergangenheit hat oft genug bewiesen, dass demokratische Entscheidungen nicht notwendigerweise demokratische Regeln nach sich ziehen müssen. So mancher Diktator ist perfekt demokratisch an die Macht gekommen. Sollte ein Land demokratisch beschließen, den Frauen das Wahlrecht zu entziehen und dies in seine Verfassung aufnehmen, wäre es für mich somit auch legitim, wenn dann eine Region oder ein Bundesland dieses Staates demokratisch entscheidet, Frauen dennoch wählen zu lassen.
Eine Unteilbarkeits- und noch mehr eine Ewigkeitsklausel sind gleich aus mehreren Gründen undemokratisch. Zum einen binden sie nachfolgende Generationen an die Entscheidung ihrer Vorfahren und zum anderen widersprechen Knebelverträge unserer gängigen Rechtsauffassung. Eine Abmachung, die auf ewig oder auch nur ungerechtfertigt lange keine Möglichkeit des Ausstieges eines Vertragspartners vorsieht, gilt im Zivilrecht als sittenwidrig. Zu guter Letzt ist die Einheit eines (meiner Meinung nach abstrusen) Konstrukts wie das einer Nation alles andere als ein Grundrecht, das vor einer demokratischen Entscheidung „geschützt“ werden muss. Im Gegenteil. Die meisten Staatsgrenzen in Europa sind Resultat von Kriegen oder absolutistisch-monarchistischen Exzessen. Es wäre höchst an der Zeit, sie demokratisch zu legitimieren, wie wir das mit allem anderen auch tun, was unser Zusammenleben betrifft.
Verbindungen – sei es zwischen Personen oder Institutionen – werden in demokratischen Ländern einvernehmlich – sprich demokratisch – eingegangen. So müssen beide Ehepartner einer Heirat zustimmen. Und beim Beitritt zur Europäischen Union beispielsweise bedarf es des Einverständnisses sowohl des Beitrittskandidaten als auch der aufnehmenden Institution. Eine Trennung hingegen muss nicht einvernehmlich erfolgen. So wie es also völlig normal ist, dass ein Ehepartner allein die Scheidung einreichen kann, so sollte auch eine demokratische Verwaltungseinheit ihren Austritt aus einer Verbindung selbst entscheiden dürfen. Nicht zuletzt deshalb, weil Organisationen ja auch im Laufe der Zeit Richtungen einschlagen können, die man einfach nicht mehr mittragen möchte.
Der Brexit (den ich im Übrigen für eine Fehlentscheidung halte, der jedoch als demokratische Willensbekundung zu akzeptieren ist) illustriert dieses Prinzip recht gut. Die Briten haben 1973 entschieden, der damaligen EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) beizutreten, was 1975 noch zusätzlich durch eine Volksabstimmung bestätigt wurde. Auf der anderen Seite musste die Aufnahme von allen damaligen Gemeinschaftsmitgliedern ratifiziert werden. Der nunmehrige Austritt wiederum erfolgt auf einseitigen Wunsch und gegen den Willen der meisten, wenn nicht aller anderen Vertragspartner.
Wenn wir den Brexit jetzt auf die katalanische Situation umlegen, erkennen wir recht schnell, wie absurd und undemokratisch Unteilbarkeitsklauseln sind. Demnach hätten das Vereinigte Königreich und die EWR 1973 freiwillig und demokratisch entschieden, dass weder das Vereinigte Königreich, noch ein anderes Mitgliedsland je wieder die Union verlassen darf. Höchstens ein Mehrheitsbeschluss aller (die aber mittlerweile nicht mehr die gleichen Personen sind, die damals die Unteilbarkeit beschlossen haben) könnte daran etwas ändern – und analog zum Fall Italien nicht einmal ein solcher. Das heißt über den Brexit hätten nach der spanischen Verfassungslogik nicht nur die Briten, sondern ganz Europa abstimmen müssen. Das ist ungefähr so, wie wenn alle Bewohner eines Mehrfamilienhauses abstimmen, ob eine Familie aus ihrer Wohnung ausziehen darf, weil das die Urgroßeltern der Mieter irgendwann einmal unumstößlich so beschlossen haben. (Exkurs: Im Falle Südtirols ist die besagte Verfassungsklausel noch absurder und undemokratischer, da unsere Vorfahren am Inkrafttreten der italienischen Verfassung nicht beteiligt waren und in späterer Folge zwangsbeglückt wurden). De facto hätte das Vereinigte Königreich also keine Möglichkeit, selbstverantwortlich und demokratisch über seine Zukunft zu befinden.
Genau das ist das katalanische Dilemma. Die gegenwärtig von Spanien betriebene Verjudizierung der Angelegenheit halte ich angesichts obiger Analyse für fatal. Rechtssicherheit und Rechtstreue sind zweifellos hohe demokratische Güter. Jedoch dürfen wir in Anbetracht zweifelsfrei undemokratischer Regelungen die politische Dimension von Demokratie nicht außer Acht lassen. Ich verstehe, dass das vielen – Politikern zumal – schwer fällt, weil auch Legislative und Exekutive in den meisten westlichen Demokratien mit überproportional vielen Juristen besetzt sind. Am Ende sind es jedoch immer der politische Prozess respektive die demokratische Willensbekundung, die Recht erst entstehen lassen, die aber auch vor undemokratischem Recht nicht zurückstecken dürfen.
Diese
Diese Unabhängigkeitsbestrebungen gehen mir alle viel zu wenig weit, ich wäre dafür, dass man sich vom Staat abspaltet, dann von der Region, dann von Provinz, dann vom Bezirk, dann die Gemeinden in ihre Fraktionen auflöst, dann das Oberdorf vom Unterdorf trennt und den Ortskern von der Neubauzone, dann einen Schlagbaum zum Nachbarn aufstellt und sich dann mit der Frau das Haus aufteilt, sie unten und ich oben. Alles demokratisch selbstverständlich. Erst dann könnte ich selbstbestimmt leben. Sonst werd ich immer unterdrückt.
Antwort auf Diese von Ludwig Thoma
Witz lass nach...
Witz lass nach...
Sinn und Zweck
Sinn und Zweck konstitutioneller Rigidität würde ich nicht allzu leichtfertig relativieren, und den demokratischen Willen nicht zu sehr verabsolutieren. Es gibt sehr wohl einen Grund, weshalb gewisse Grundsätze unserer Verfassung dem politischen Diskurs entzogen worden sind: Es handelt sich um objektive Werte, etwa Republik, Rechtsstaat etc., die vor dem nicht ausschließbaren Fall geschützt werden müssen, dass die demokratische Mehrheit sie im Überschwang nationalistischer, faschistischer oder sonstiger inhumaner Gefühle und im Bann irgendeiner autoritären Bewegung abschafft. Ewigkeitsklauseln für Grundrechte und Freiheiten in die Nähe der Sittenwidrigkeit zu rücken finde ich schon gewagt. Nicht der reine, von jedweder moralischer Betrachtung losgelöste Mehrheitswille soll jedem Demokraten sakrosankt sein, sondern die Maxime, dass eine Volksherrschaft nur gegeben ist, solange die Würde jedes Einzelnen geachtet wird und Gerechtigkeit das Ziel der Machtausübung ist. Und da muss man tatsächlich darauf vertrauen dürfen, dass dies auf ewig gilt.
Anders sieht es freilich bei Regelungen aus, die die ewige Unteilbarkeit einer Nation vorschreiben, das räume ich ein. Bloß vermisse ich im Kommentar oben eine mäßigende Differenzierung hinsichtlich der Bewertung der "Ewigkeitsklauseln". Ich nehme aber an, dass dies nur zeitlichen und Platz-Gründen geschuldet ist.
Antwort auf Sinn und Zweck von Julian Nikolau…
@ rensi
@ rensi
ich bin mit allem einverstanden, was du schreibst - nur ist eben nationalismus bzw. nationale einheit kein grundrecht, das vor demokratischen (fehl)entscheidungen geschützt werden muss. und nur darauf bezieht sich mein text.
die mäßigende differenzierung lese ich aus diesen zeilen sehr wohl heraus:
"[...] so denke ich, dass die demokratische Willensbekundung – solange sie keine Grundrechte antastet – über undemokratischem Recht steht. [...] Wesensmerkmal einer Demokratie ist die Veränderbarkeit von Regelungen. Lediglich Grundwerte wie das Recht auf Leben, die Gleichheit aller Menschen usw. stehen nicht zur Disposition." (das usw. steht unter anderem für prinzipien, die du aufzählst).
ich verabsolutiere den demokratischen willen also nicht. jedenfalls ist meine abhandlung genau so gemeint, wie du schreibst. und somit ist die ewige unteilbarkeit der nation ein undemokratisches verfassungsrecht, das man als demokratische gesellschaft nicht einfach hinnehmen muss/darf - im sinne der "verfassungstreue". eine vorstufe zum tyrannenmord-dilemma, wenn man so will.
Antwort auf Sinn und Zweck von Julian Nikolau…
@ rensi
@ rensi
und hier auch noch einmal: "Zu guter Letzt ist die Einheit eines (meiner Meinung nach abstrusen) Konstrukts wie das einer Nation alles andere als ein Grundrecht, das vor einer demokratischen Entscheidung „geschützt“ werden muss." dieser satz impliziert, dass es grundrechte gibt, die vor demokratischen entscheidungen geschützt werden müssen.
ich habe den text geschrieben, weil man den katalanen vorwirft, gegen die spanische verfassung zu agieren und dass man dies unter keinen umständen dulden dürfe. ich bin jedoch der meinung, dass es eben schon umstände gibt, die eine demokratisch legitimierte umgehung rechtfertigen. auf ewig festgeschriebener nationalismus ist für mich so ein umstand, da es sich dabei um ein objektives demokratisches unrecht handelt. es sei denn, jemand kann mir schlüssig erklären, dass artikel 5 der spanischen verfassung mit heutigen demokratischen standards kompatibel ist.
@ thoma
@ thoma
dein konservatismus in ehren, aber mir scheint, du hast nicht wirklich verstanden, worum es geht. aber vielleicht klappt's mit einer metapher: nur weil wir homosexuellen das recht geben, zu heiraten, heißt das weder, dass alle homosexuellen paare heiraten müssen, noch dass nur noch homosexuelle eine ehe eingehen können.
und überhaupt: wer bitte fühlt sich unterdrückt? ich nicht. ich probier's ein weiteres mal mit einer metapher.
eine frau führt seit 10 jahren eine harmonische ehe. ihre frau ist nett zu ihr. sie kann sich gut verwirklichen und genießt ihre freiräume. von unterdrückung oder gar gewalt keine spur. dennoch beschleicht die frau seit einiger zeit das gefühl, dass sie sich verändern möchte. ihr geht es nicht schlecht; vor allem wenn sie mit anderen frauen in ihrem bekanntenkreis spricht, die häusliche gewalt erfahren. aber sie möchte sich dennoch verbessern und sieht in ihrer ehe und mit ihrer derzeitigen frau dafür keine basis. der ehekäfig ist ihr zu eng. sie fühlt sich isoliert. sie möchte sich wieder einmal mit anderen frauen treffen und zusammen auf die piste gehen. als single.
dein posting bringt eine grundsatzfrage jedoch gut auf den punkt: wieviele verwaltungsebenen braucht ein hierarchisches, nach dem subsidiaritätsprinzip funktionierendes system. ich bin der meinung, dass wir unter dem mantel der eu zu viele ebenen haben.
Antwort auf @ thoma von Harald Knoflach
Was ist denn der Unterschied
Was ist denn der Unterschied zwischen "ewig daurendem Nationalismus", den man verabscheut und der Bildung von neuen "National"-Staaten auf ethnischer Basis, den man herbeisehnt? Ich kann da keinen Sinn erkennen (daher mein obiges Posting). Ob ich jetzt italienischer Staatsbürger oder sonstwas bin, ändert nichts an meinem Lohn und ob ich davon leben kann, dem Preis einer Semmel, ob ich irgendwann eine Rente kriege, der Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Verseuchung des Grundwassers, pestizidbelasteten Lebensmitteln, der Verkehrsbelastung usw.; also wäre die Frage folgende: Was trägt die Bildung eines neuen Staates dazu bei, die wichtigen Sachen im Leben zu lösen und was ändert die Bildung eines neuen Staates an der Verwaltung auf mehreren Ebenen?
Antwort auf Was ist denn der Unterschied von Ludwig Thoma
@ thoma
@ thoma
"Was ist denn der Unterschied zwischen "ewig daurendem Nationalismus", den man verabscheut und der Bildung von neuen "National"-Staaten auf ethnischer Basis, den man herbeisehnt?"
da besteht gar kein unterschied und wäre nach meinem dafürhalten auch ein völliger blödsinn.
Antwort auf @ thoma von Harald Knoflach
Naja, dem Königreich Spanien
Naja, dem Königreich Spanien wird unterstellt, es habe eine Verfassung die einen ewig daurenden Nationalismus als gegeben hinstellt (sowas haben übrigens die meisten Staaten). Als Alternative dazu denkt man sich einen katalanischen Nationalstaat aus, der eben genau dasselbe postuliert, nur mit einem kleineren Territorium. Sich zu fragen, ob aus dem größeren Nationalstaat mit demokratischen Mitteln zwei kleinere zu machen seien, ist daher höchstens eine Denkübung. Es ändert sich praktisch nichts. Eventuell könnte man aus Katalonien eine Republik machen, das wars dann aber auch schon. Man ist in einem Nationalstaat und wird es auch nachher sein. Unter den gegebenen Prämissen ist das Ergebnis der Abspaltung also völlig sinnfrei (es sei denn man ist Bindestrichtiroler u/o sonst wie im 19.Jh. hängen geblieben und freut sich ob solchen Ereignissen).
Antwort auf Naja, dem Königreich Spanien von Ludwig Thoma
@ thoma
@ thoma
"Bildung von neuen "National"-Staaten auf ethnischer Basis, den man herbeisehnt?"
ich sehne einen solchen staat gewiss nicht herbei. vielmehr möchte ich in einem staat mit ethniesäkularismus leben, wo der staat sich gegenüber der herkunft ebenso neutral verhält wie gegenüber der religion. die meisten europäischen staaten - von italien über österreich bis deutschland bieten das allerdings nicht.
"Ob ich jetzt italienischer Staatsbürger oder sonstwas bin, ändert nichts an meinem Lohn und ob ich davon leben kann"
ich bin zwar kein freund dessen, alles immer auf den ökonomischen aspekt zu reduzieren, aber der wirtschaftliche faktor ist freilich ein wichtiger. und die staatsbürgerschaft ändert - wie du richtig bemerkst - in der eu für gewöhnlich nichts am lohn. ob ich als österreichischer oder italienischer staatsbürger in italien arbeite, macht keinen unterschied, in welchem staat ich lebe (egal welcher staatsbürger ich bin) hingegen schon. es macht in vielen belangen einen großen unterschied, ob du in gossensaß oder gries am brenner wohnst.
"Was trägt die Bildung eines neuen Staates dazu bei, die wichtigen Sachen im Leben zu lösen"
demokratische kleinstrukturiertheit bei gleichzeitigem echten europäischen parlamentarismus kann analog zu wirtschaftlichen modellen, die auf regionalen kreisläufen abseits der nationalen logik beruhen, sehr wohl ein mehr an bürgernähe und unmittelbarer verantwortlichkeit bringen. zumindest legen so gut wie alle sozialen und wirtschaftlichen kennzahlen (bip, pressefreiheit, peace-index, korruptionsindex, hdi, social progress index usw.) nahe, dass kleinstrukturiertheit gewiss kein nachteil ist. zudem tendieren kleine staaten weniger zur isolation, weil sie im gegensatz zu großen flächenstaaten viel mehr interesse an zwischenstaatlicher kooperation haben (auch für diesen befund gibt es einige indikatoren in diversen studien), was wiederum eine chance für eine weitere integration der europäischen union wäre (wie ja auch katalonien und schottland zeigen, deren bevölkerung sich viel mehr mit europa identifiziert, als jene in den ländern, von denen sie sich lossagen möchten).
"was ändert die Bildung eines neuen Staates an der Verwaltung auf mehreren Ebenen?"
ganz einfach - wir sparen die ebene "nationalstaat" aus. es gibt die eu, mit einem echten europäischen parlamentarismus, darunter kleine verwaltungseinheiten mit - sagen wir - 500.000 bis max. 10 millionen einwohnern (stichwort regionalisierung) und noch eine ebene darunter die gemeinden. und das wars.
"einen ewig daurenden Nationalismus als gegeben hinstellt (sowas haben übrigens die meisten Staaten)"
bist du dir da sicher? dann wäre es höchst an der zeit, das zu ändern. dem denken aus dem 19. jahrhundert sollten wir doch schön langsam entwachsen.
"Als Alternative dazu denkt man sich einen katalanischen Nationalstaat aus, der eben genau dasselbe postuliert, nur mit einem kleineren Territorium."
nein. tut man nicht. die katalanische unabhängigkeitsbewegung (wie auch die schottische, die von sozialdemokraten, grünen und liberalen vorangetrieben wird) ist geprägt von einem "inclusive bzw. civic nationalism". wobei nationalismus im wörtlichen sinne die falsche bezeichnung ist. ich würde eher von willensgemeinschaft sprechen. natio (lat. geburt) geht davon aus, dass es eine ethnische gemeinschaft und somit eine durch blut begründete zusammengehörigkeit gibt, wie das im artikel 5 der spanischen verfassung ausgedrückt ist. in katalonien und schottland geht man vom demos, nicht vom ethnos aus. jordi pujols berühmter sager bringt dieses staatsverständnis recht gut auf den punkt: "És català tot aquell qui viu i treballa a Catalunya, i qui en vol ser." das ist schon sehr weit weg von blut und boden und meines erachtens ein wichtiger schritt hin zu einem neuen europäischen staatsbürgerverständnis, dass sich territorial (soli) und nicht nach abstammung (sanguinis) definiert. ein indiz dafür, dass diese bewegung nicht mit den "bindestrich-tirolern" vergleichbar ist, ist die liste jener, die das katalanische anliegen unterstützen: noam chomsky, rigoberta menchú, josep carreras, pep guardiola, pol antràs, dario fo (+), hu jia usw. sind jetzt nicht wirklich die klassischen nationalistischen hinterwäldler aus dem vorigen jahrhundert. http://www.letcatalansvote.org
wobei im endeffekt die natur der unabhängigkeitsbewegung keine rolle spielt. eine unteilbarkeitsklausel und das damit einhergehende verbot, demokratisch über seine zugehörigkeit abstimmen zu dürfen, muss jedem überzeugten demokraten ein dorn im auge sein. ich sehe keinen grund, warum durch kriege, eroberungen und mauscheleien entstandene grenzen nicht einer demokratischen legitimation unterzogen werden dürfen. dadurch werden keine grundrechte verletzt oder angetastet (für mich das einzige, was wir nicht zur disposition stellen sollten und somit auch vor demokratischen entscheiden zu schützen haben) - im gegenteil. das verfassungsmäßige verbot der sezession verletzt meiner auffassung nach demokratische grundprinzipien. und aus diesem grund, habe ich obigen text verfasst, da der vorwurf "verfassungsbruch" gegenüber den katalanen etwas zu kurz greift.
Antwort auf Was ist denn der Unterschied von Ludwig Thoma
Ludwig Thoma "Ob ich jetzt
Ludwig Thoma "Ob ich jetzt italienischer Staatsbürger oder sonstwas bin, ändert nichts an meinem Lohn und ob ich davon leben kann, dem Preis einer Semmel, ob ich irgendwann eine Rente kriege, der Sicherheit des Arbeitsplatzes ...". Das glauben Sie wohl selbst nicht wirklich. Im Dreiländereck Reschen Nauders Samnaun hat die Bevölkerung der drei Orte also exakt die gleichen Bedingungen und Voraussetzungen und kann immer und überall auf gleicher Augenhöhe reden und handeln? Bitte Fakten und nicht Fantasie-Sprüche.
Antwort auf Was ist denn der Unterschied von Ludwig Thoma
@thoma
@thoma
"und der Bildung von neuen "National"-Staaten auf ethnischer Basis, den man herbeisehnt?"
http://www.spiegel.de/politik/ausland/katalonien-carles-puigdemont-im-i…
Spiegelinterview mit dem katalanischen Ministerpräsidenten
SPIEGEL ONLINE: Wer ist für Sie eigentlich Katalane?
Puigdemont: Der katalanische Nationalismus ist nicht ethnisch. Das ist unsere Stärke, darauf sind wir stolz. Katalonien ist ein Land der Einwanderer. 70 Prozent aller Katalanen haben mindestens ein Elternteil, das Wurzeln außerhalb unseres Landes hat. Es gibt viele Identitäten und Traditionen, sie widersprechen sich nicht. Wir stehen nicht für das alte Konzept: Ein Staat, eine Nation, eine Sprache, ein Volk. Katalane ist, wer hier lebt und arbeitet - und das auch will.
"demokratische
"demokratische kleinstrukturiertheit bei gleichzeitigem echten europäischen parlamentarismus kann analog zu wirtschaftlichen modellen, die auf regionalen kreisläufen abseits der nationalen logik beruhen, sehr wohl ein mehr an bürgernähe und unmittelbarer verantwortlichkeit bringen."
Dazu brauch ich keinen neuen Staat.
"zumindest legen so gut wie alle sozialen und wirtschaftlichen kennzahlen (bip, pressefreiheit, peace-index, korruptionsindex, hdi, social progress index usw.) nahe, dass kleinstrukturiertheit gewiss kein nachteil ist. " Im Ernst? Keine Korruption in Kleinstaaten wie L, FL, RSM, VAT? Und "social progress index" auf Kosten von wem?
Antwort auf "demokratische von Ludwig Thoma
@ thoma
@ thoma
"Dazu brauch ich keinen neuen Staat."
vielleicht nicht notwendigerweise. aber es macht die sache leichter. und ich sehe auch nichts schlimmes und keine große sache daran. staaten sind doch nicht in stein gemeißelt und waren sie auch nie. und es macht sinn, uns so zu organisieren, wie es am sinnvollsten ist und wo sich die meisten synergien ergeben.
"Im Ernst? Keine Korruption in Kleinstaaten"
ich hab niemals gesagt "keine". aber einen automatismus - je kleiner desto mehr korruption, den gibt es nicht. eher eine gegenteilige korrelation (keine kausalität wohlgemerkt).
"auf Kosten von wem?"
da besteht gewiss kein zusammenhang zwischen groß und klein (d.h. dass kleinstaaten ausbeuterischer wären als große). das ist vielmehr ein problem zwischen arm und reich - zwischen uns, die ihren wettbewerbsvorteil ausnützen und "den anderen" - egal ob wir in großen oder kleinen staaten leben.
Harald, deine Überlegungen
Harald, deine Überlegungen sind allesamt sehr interessant, aber die Abspaltung von einem Staat mit dem Brexit zu vergleichen ist schon etwas weit hergeholt. Sowohl von der Ausgangslage, als auch von den Folgen her. Hast du dir überlegt, was es für das geopolitische und besonders wirtschaftliche Gesamtbild bedeuten würde, wenn Regionen (im Sinn von territorialen Gebieten eines Staates) sich immer weiter spalten oder fusionieren, dann wieder spalten würden (denn wo würdest du eine Grenze setzen)? Unter dem "rechtsphilosophischen" Standpunkt kann man deine Überlegungen absolut teilen, aber bei der praktischen Umsetzung dürfte es hapern und die ist für die Menschen nun mal wichtiger.
Antwort auf Harald, deine Überlegungen von Manfred Klotz
@ manfred
@ manfred
klar ist das alles nicht einfach. menschliches zusammenleben ist nie einfach. und der status quo ist es auch nicht. es gibt offenbar nicht wenige menschen, deren vorstellungungen die "praktische umsetzung" derzeit nicht entspricht.
ich glaube aber schon, dass es da eine art automatischen regelungsmechanismus gibt, der sich an praktischer umsetzbarkeit und überlebensfähigkeit orientiert. beispielsweise hat in liechtenstein jede einzelne gemeinde sezessionsrecht. dennoch zerklaubt es den kleinstaat nicht weiter. das sezessionsrecht bewirkt jedoch, dass politische möglichkeiten viel eher ausgelotet werden. gibt es kein solches, beruft sich der zentralstaat einfach auf - wie im falle spaniens - undemokratisches recht und schaltet auf stur - ohne ein interesse daran zu zeigen, auf die bedürfnisse der (katalanischen) bevölkerung einzugehen. ich glaube jedoch, dass der politische dialog viel eher zu akzeptablen lösungen für alle führt, denn beharren, diskussionsverweigerung und rechtlicher druck bis hin zu strafrechtlichen drohungen gegenüber demokratischen bestrebungen, die sich aus einer aufoktroyierten undemokratischen hierarchie speisen. das sezessionsrecht verunmöglicht eine derartige situation und zwingt die "streitparteien" zur lösungsfindung. zudem definiert es exakt, wo für alle die schmerzgrenze liegt: ab welchen punkt lässt ein staat einen seiner teile ziehen und ab welchem punkt glaubt ein teil ohne seinen bisherigen überbau besser voranzukommen - sei es als eigenständige einheit oder als teil eines anderen apparates.
Eine Verfassungsänderung muss
Eine Verfassungsänderung muss mit einer Mehrheit von zweidrittel beschlossen werden. Und für eine Abtrennung von einem Staat oder einer Staatengruppe sollen 50,01 Prozent genügen ? Das wäre demokratisch ? Und die andere Hälfte der Bevölkerung muss sich so einem Diktat fügen ? Für solche Vorhaben braucht es doch eine qualifizierte Mehrheit.
Antwort auf Eine Verfassungsänderung muss von 19 amet
über das ausmaß an mehrheit,
über das ausmaß an mehrheit, das für die jeweiligen schritte nötig ist, kann man freilich diskutieren.
Es ist empörend und unwürdig
Es ist empörend und unwürdig wie der spanische Nationalstaat einen demokratischen Vorgang juristisch und polizeilich niederknüppeln will. Radikalen Separatisten wird dabei kräftig in die Hände gespielt und Eskalationen Tür und Tor geöffnet. Ein Staat der sich seiner Vorteile sicher ist, sollte viel souveräner handeln können.
Antwort auf Es ist empörend und unwürdig von Martin B.
ich glaube auch, dass diese
ich glaube auch, dass diese aktionen nicht unbedingt dazu führen, den verbleib beim spanischen staat für die katalanen attraktiver erscheinen zu lassen. im sinne: "wir wollen doch nicht in einem polizeistaat leben, der militär schickt, wenn wir ein referendum veranstalten".
Die Nationalstaaten sind in
Die Nationalstaaten sind in Legitimationsnot. Die Gründe hierfür sind vielfältig: In Europa hat sich nach den Weltkriegen mit dem europäischen Einigungsprozess das Modell der Kooperation vormals verfeindeter Nationalstaaten durchgesetzt, auch unter dem Eindruck der verheerenden Folgen nationaldarwinistischer Weltbilder. Wirtschaftskrise und Misswirtschaft haben die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger geschürt, befeuert durch eine von rücksichtlosen und kriminellen Elementen durchsetzte politische Landschaft. Von neoliberaler Seite wird der Staat als überflüssiger Ballast für die freie Entfaltung der Menschen und des Marktes angeprangert und als Blutsauger für die Steuerzahler/-innen, dessen einziges Ziel es ist, einen ineffizienten Verwaltungsapparat weiter zum Schaden der Gemeinschaft aufzublähen. Sprachlich-kulturelle Minderheiten müssen um die Anerkennung ihres Anspruchs auf eigenständige Entwicklung und Respektierung der Vielfalt in zentralistisch ausgerichteten Staaten ringen. Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft führt dazu, dass egoistisches Vorteilsdenken und gruppenspezifische Wohlstandsansprüche die gemeinsamen Wertgrundlagen für eine solidarische Gemeinschaftsvision zersetzen usw.
Zu beachten ist, dass die Nationalstaaten trotzdem und immer noch als Aggregationskatalysator für die Identität der Massen dienen und z. B. im Sport diese Identifikationsmuster gezielt und erfolgreich gepusht werden. Die nationale Identität zählt also und das nicht wenig, wenn wir unseren Blick von der staatsbürgerlichen Perspektive auf andere Felder, auch auf die Sprache und die Kultur verlagern. Es wäre fatal, wenn anstatt klarer Identifikationsmuster, die die Nationalstaaten bieten, irgendwelche abstrakte Gebilde als Zwischenglied in den verschiedenen Governanceebenen eingeführt würden. Und davon abgesehen würde es große Komplikationen hervorrufen, die staatliche Ebene durch regionale Körperschaften zu ersetzen, bei denen jedwede neuerliche Abspaltungs- und Sezessionsmöglichkeit offen stünde. Dazu kommt, dass die völlige Regionalisierung der politischen Entscheidungsmechanismen in krassem Gegensatz zur massiven Aggregation der Akteure auf der unternehmerischen Ebene stünde und genauso zur Durchschlagskraft von internationalen Lobbyorganisationen, die vielfach unwidersprochen und ohne demokratische Kontrolle einen Führungsanspruch behaupten. Die einzelnen Staaten sind zumindest noch Gemeinschaftsstrukturen, die unter einer gewissen demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle stehen.
Konkret empfehle ich zur Lage in Spanien die Lektüre dieses Beitrags: https://www.socialeurope.eu/catalonia-dreaming
Antwort auf Die Nationalstaaten sind in von Karl Gudauner
Der größte von mehreren
Der größte von mehreren »Fehlern« im verlinkten Beitrag betrifft die angeblich fehlende demokratische Legitimität, ein Referendum anzuberaumen. Da die Unabhängigkeitsbefürworterinnen bei der Regionalwahl 2015 nicht 50+X% der Wählerstimmen erhalten haben, dürften sie die Abstimmung nicht vorantreiben — aber warum? Ist es nicht Konsens, dass Hürden für die Abhaltung von Abstimmungen so gering wie möglich sein sollten? In Südtirol reichen dafür wenige 1.000 Unterschriften. Wenn schon angeblich die Mehrheit der Katalaninnen keine Unabhängigkeit wünscht, wird dies in einem Referendum doch zum Ausdruck kommen.
Antwort auf Die Nationalstaaten sind in von Karl Gudauner
Bezüglich der Notwendigkeit
Bezüglich der Notwendigkeit von Nationalstaaten bin ich völlig anderer Meinung. Aber das ist eigentlich gar nicht wichtig. Wichtig ist, ob wir diese unterschiedlichen Auffassungen einer demokratischen Entscheidungsfindung unterwerfen wollen oder nicht. Selbst wer Nationalstaaten für unentbehrlich hält, sollte nicht so weit gehen, deren Beibehaltung gegen den Willen der jeweiligen Bevölkerung(en) durchzusetzen.
Antwort auf Die Nationalstaaten sind in von Karl Gudauner
@gudauner
@gudauner
"Und davon abgesehen würde es große Komplikationen hervorrufen, die staatliche Ebene durch regionale Körperschaften zu ersetzen, bei denen jedwede neuerliche Abspaltungs- und Sezessionsmöglichkeit offen stünde."
Warum?
"Dazu kommt, dass die völlige Regionalisierung der politischen Entscheidungsmechanismen in krassem Gegensatz zur massiven Aggregation der Akteure auf der unternehmerischen Ebene stünde ..."
Subsidiarität heißt nicht, dass Entscheidungen zwingend auf untere Ebenen verlagert werden müssen, sondern dass die Ebene, die am besten dazu im Stande ist, die Entscheidung trifft. Eine Europäische Union mit einer Vielzahl von "Abteilungen", die auf ihrem Spezialgebiet Entscheidungsbefugnis haben, würde den heutigen aggregierten aber doch subsidiär-hierarchischen Wirtschaftsstrukturen doch wohl sehr ähneln. Zudem würde ich mich der Idee verweigern, dass wir notwendigerweise und der Effizienz wegen in der Organisation des Gemeinwesens einer konzernartigen Logik folgen müssen. Konzerne funktionieren - trotz Aktionärsversammlung - für gewöhnlich nicht in der Weise demokratisch, wie wir das von unserem Zusammenleben erwarten können müssen.