Katalonien vor der Selbstbestimmung
Spanien hat die entsprechenden UN-Konventionen und Chartas ratifiziert und explizit dieses Recht anerkannt, auch wenn es sich als „unteilbar“ betrachtet. Katalonien hat dasselbe Recht auf staatliche Eigenständigkeit wie alle anderen 47 Nationen Europas, die einen eigenen Staat erreicht haben. Warum sollte dies den 7,5 Millionen Katalanen auf Dauer versagt bleiben, wenn sie das mit klarer Mehrheit wünschen? Warum sollte man dieses Votum als grundsätzlich weniger legitim betrachten als jenes der Balten, Slowenen, Kroaten, Montenegriner, Mazedonier, Kosovaren, Südsudanesen, Eritreer, Osttimoresen, die fast alle von der EU anerkannt worden sind?
Katalonien begreift sich als Willensnation und will seiner Bevölkerung mit dem morgigen Referendum die Möglichkeit geben, frei und demokratisch über den Status des Landes zu entscheiden. Das ist ein Gebot der Demokratie und des Völkerrechts. Spanien sperrt sich dagegen mit dem Verweis auf die Verfassung. Mit striktem Verbot und harter Repression glaubt es, die Demokratie abwürgen zu können. Dunkle Zeiten aus den 1930er Jahren werden damit heraufbeschworen.
Dabei ist ein solcher Prozess nichts so Ungewöhnliches. Seit 1991 haben weltweit 53 Unabhängigkeitsreferenden von substaatlichen Einheiten stattgefunden, weitere 4 sind bis 2019 schon angesetzt. 27 davon haben zur Unabhängigkeit geführt, meist zugunsten weit kleinerer Völker als den Katalanen. Andere sind im bisherigen Staat verblieben, weil eindeutige Mehrheiten gegen Sezession waren. Die Staatspraxis zeigt, dass Regionen und Staaten immer wieder solche Prozesse friedlich vereinbaren und durchführen. In den meisten Fällen gingen den Referenden Verhandlungen voraus. Einige heutige Staaten Europas waren früher bloße Gliedstaaten größerer Einheiten. Von den 53 seit 1991 abgehaltenen Referenden über die Souveränität eines Gebiets sind 26 ohne Zustimmung des Nationalstaats erfolgt, 27 mit Einverständnis. Dennoch sind sie in den meisten Fällen als souveräne Staaten anerkannt worden.
Es gibt kein internationalrechtliches Verbot für Völker und Regionalgemeinschaften ohne Staat, Volksabstimmungen über die Eigenstaatlichkeit abzuhalten. Auch das Gemeinschaftsrecht der EU verbietet solche Selbstbestimmungsprozesse nicht, regelt allerdings auch nicht den Fall der „inneren Erweiterung“ der EU. In der Praxis hat sie mehrfach neue Staaten nach Unabhängigkeitsreferenden anerkannt und als Mitglieder aufgenommen. Zwar hat die EU keine Pflicht, in Sezessionsprozesse aktiv einzugreifen, hat aber mehrfach eine aktive Rolle beim Übergang zur Unabhängigkeit gespielt (z.B. im Kosovo). Zudem anerkennt die EU im Lissabon-Vertrag den gesamten Kodex der Menschen- und Völkerrechte einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung. Nicht zuletzt postuliert sie im Vertrag von Lissabon eine „immer engere Union der Völker Europas“ (nicht der Staaten).
Kataloniens politische Vertretung hat seit 2010 immer wieder versucht, Verhandlungen mit Madrid zur Einleitung eines Selbstbestimmungsprozesses aufzunehmen, ist aber immer auf taube Ohren gestoßen. Diese Blockade seitens der Zentralregierung hat Barcelona geradezu gezwungen, einseitig weitere Schritte zu setzen. Die Katalanen fordern seit Jahren zu Recht, frei über ihre staatliche Zukunft entscheiden zu dürfen. Madrid tut dieses Anliegen einfach als verfassungswidrig ab. In Katalonien geht es um einen politischen Grundkonflikt, der mit demokratischen Verfahren zu lösen ist, nicht mit bloßer Berufung auf einen einzigen, vermeintlich unabänderlichen Verfassungsartikel. Ein politischer Waffenstillstand kann nicht die Lösung sein. In einer offenen Demokratie muss eine Diskussion über den Status einer historisch begründeten Regionalgemeinschaft möglich sein, die sich mit guten Gründen als Nation begreift. Dass dies im demokratischen Rahmen geht, haben westliche Demokratien immer wieder bewiesen, wie die Niederlande, Dänemark, das Vereinigte Königreich und Kanada. Die Loslösung Kataloniens von Spanien ist keine Frage des positiven Rechts allein, sondern der demokratischen Selbstbestimmung einer ganzen Nation. Eine Mehrheit der Spanier kann nicht auf Dauer einem anderen Volk, den Katalanen, das Recht versagen, sich frei über ihren zukünftigen Status auszudrücken.
Das morgige Referendum wird die demokratische Legitimation des Anliegens des katalanischen Volks bekräftigen. Das Selbstbestimmungsrecht demokratisch auszuüben, ist eine notwendige, allerdings aber nicht hinreichende Bedingung, um ein unabhängiger Staat zu werden. Es gibt keine Zukunft für einen isolierten Staat, eine regionale Gemeinschaft allein kann das Ergebnis einer Volksabstimmung nicht „validieren“. Das nur von der Türkei anerkannte Nordzypern und das nur von Russland anerkannte Abchasien lassen grüßen. Der gesamte Prozess und sein Ergebnis benötigen das Einverständnis und die Anerkennung Spaniens, um zum Ziel zu gelangen.
Die Unabhängigkeit steht in Katalonien seit 2010 auf der Tagesordnung, gleich nach der Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts, einen Teil des neuen Autonomiestatuts von 2006 zu kippen. Barcelona wollte verhandeln, doch hat Spanien wiederholt katalanische Verhandlungsangebote abgelehnt. Das Parlament und die Regierung in Barcelona können nicht unbegrenzt warten. Die entscheidende Aufgabe liegt heute bei Spanien, das sein grundsätzliches Veto gegen einen Selbstbestimmungsprozess aufgeben muss. Die aus demokratischer Perspektive erfolgreiche Ausübung des Selbstbestimmungsrechts hängt dann von der Regelung der Verfahren ab. Der Abstimmungsmodus, die Abstimmungsfrage, unabhängige Wahlbehörden, Beschwerdemöglichkeiten, unabhängige Beobachter, die Bindungswirkung des Ergebnisses usw. All das muss in einem Abkommen geregelt werden.
Das EU-Recht verbietet nicht die Abhaltung von Unabhängigkeitsreferenden. Völkerrecht und Staatenpraxis der EU-Mitglieder mit Anerkennung der meisten neuen Staaten – auch durch Spanien - weisen in Richtung Zulassung von Selbstbestimmungsprozessen. In einer offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie muss ein Dialog zu Verfassungsreformen möglich sein. Der Rechtsstaat kann die demokratische Legitimation nicht permanent übertrumpfen. Demokratisch legitime Anliegen einfach auf Dauer als „verfassungswidrig“ abzutun, wird den Konflikt anheizen, nicht lösen. Heute steht die demokratische Legitimation für die staatliche Eigenständigkeit Kataloniens versus spanisches Verfassungsrecht. Beides muss in einem modernen demokratischen Staat in Einklang gebracht werden. Wenn die spanische Regierung Verhandlungen darüber mit Katalonien ablehnt, ist der einzige Weg die einseitige Unabhängigkeit mit hohen Risiken für beide Seiten. Alle Selbstbestimmungskonflikte enden früher oder später in Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, also besser gleich. Die EU sollte sich als Vermittler anbieten. Katalonien könnte in der Übergangsphase eine beschränkte Souveränität unter EU-Kontrolle erhalten und später als unabhängiger Staat und EU-Mitglied mit Spanien in bester Nachbarschaft leben so wie Portugal.
prinzipiell und inhaltlich
prinzipiell und inhaltlich stimme ich dir zu. wobei ich meine, dass wir noch mehr die demokratische legitimation denn das völkerrecht betonen müssen. das völkerrecht bietet keinen geeigneten rahmen für bevölkerungen, die sich als "willensnationen" verstehen. die völkerrechtliche selbstbestimmung geht von einem nationalistischen grundsatz aus. dieser war nicht nur immer schon korrupt, sondern ist im 21. jahrhundert geradezu wahnwitzig - angesichts der heterogenität innerhalb der bevölkerungen in europäischen staaten. die demokratische willensbekundung des demos muss also genügen. es braucht keinen - im wahrsten sinne des wortes - rückgriff auf das völkerrecht in diesem zusammenhang.