Politik | Syrien

Warum schweigt der Westen zu Afrin?

Rasch ist der türkische Angriff auf Afrin aus den Schlagzeilen verschwunden, doch sterben dort täglich Soldaten und Zivilisten unter türkischen Bomben und Panzerbeschuss.
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Afrin
Foto: upi

Zehntausende Menschen sind auf der Flucht und suchen Schutz vor den türkischen Luftangriffen in Berghöhlen. Nach offiziellen kurdischen Angaben sollen 134 Zivilisten verletzt und 59 getötet worden sein. Das türkische Militär gibt die Tötung von insgesamt 343 "Terroristen" an. Die türkische Regierung behauptet auch, dass sie bei ihrem Militäreinsatz Rücksicht auf zivile Opfer nimmt. Angesichts des Einsatzes von Artillerie, Raketenwerfern und Kampfflugzeugen ist diese Behauptung lächerlich. In Afrin werden seit zwei Wochen hunderte zivile Ziele aus der Luft angegriffen. Die Hilfsappelle der Vertreter dieser autonomen Gemeinschaft sind bisher ungehört verhallt. Warum schweigen die EU, die USA, die UN? Warum lässt man die autonome Kurdenregion völlig im Stich? Warum reagiert die NATO nicht, wenn einer ihrer Mitgliedstaaten ohne Grund eine autonome Region in einem Nachbarland angreift?

Die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft

Als UN-Mitglied müsste die Türkei auf jeglichen Angriffskrieg verzichten. Afrin gehört weder dem türkischen Staatsterritorium an, noch ist von Afrin aus eine reale Bedrohung für die Türkei ausgegangen. Angriffskriege sind durch die UN-Charta absolut verboten. Die UN sollte umgehend reagieren, da ein Mitglied die UN-Charta verletzt und einen Angriffskrieg gegen eine autonome Region (Afrin) auf dem Staatsgebiet eines anderen unabhängigen Staates (Syrien) führt. Der syrische Staat kann und will anscheinend die autonome Region Afrin nicht gegen den türkischen Angriffskrieg schützen. Das Assad Regime in Damaskus hat diesem Angriffskrieg auch nicht zugestimmt, sondern scharf verurteilt und ihn explizit als "Angriffskrieg" bezeichnet. Doch die von Russland gesteuerte syrische Luftwaffe greift nicht ein.

Die türkische Regierung verletzt auch den Artikel 20(a) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR). Dieser Pakt verbietet Kriegspropaganda. Die türkische Regierung führt aber eine bis dahin nicht bekannte Kriegspropaganda und verfolgt jeden Bürger in der Türkei, der diesen Krieg kritisiert. Die Religion wird von der türkischen Regierung instrumentalisiert.

Der türkische Angriff auf Afrin stellt einen krassen Bruch des Völkerrechts dar: Die Türkei hat weder eine Zustimmung der syrischen Regierung noch eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingeholt. Die Türkei kann sich auch nicht auf das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen berufen, da kein bewaffneter Angriff im Sinne dieser Vorschrift vorliegt. Die UN und andere internationale Organisationen müssen daher alles dafür tun, damit der türkische Angriffskrieg gegen Afrin und Nordsyrien sofort beendet wird. Dieser Krieg muss verurteilt werden und alle Seiten müssen aufgefordert werden, sich zu einer friedlichen, international getragenen Lösung der Kurdenfrage in Syrien unter Einbeziehung der Vertreter der dortigen Autonomen Selbstverwaltung sowie zur Wahrung der Menschenrechte bekennen.

Informationsveranstaltung zum Hintergrund des Einmarschs

Um auf die Hintergründe des Einmarschs der Türkei in Afrin einzugehen laden die Gesellschaft für bedrohte Völker und POLITiS am Freitag, 9.2.2018, 20 Uhr, zu einem Informationsabend ins Bozner Kolpinghaus: „Afrin-Rojava: der türkische Vernichtungsfeldzug gegen die Kurden Syriens“. Es sprechen: Giovanni Giacopuzzi, Mauro di Vieste (GfbV) und Thomas Benedikter (POLITiS) sowie Kamal Sido aus Afrin mit einer Videobotschaft.

Merkel und Schulz haben selbstverständlich nichts dagegen, wenn die Türkei mit deutschen Leopard-Panzern auf Kurden, Yesiden und Christen in Afrin schießt. Das ist gut für das Rüstungsgeschäft, ein paar Tote mehr oder weniger stören diese GroßKopfaten überhaupt nicht.

Do., 08.02.2018 - 21:21 Permalink

Warum schweigt der Westen zu Afrin?
Weil die Türkei NATO-Partner sind und diese Beziehung wichtiger ist als zu den Kurden in Afrin. Die Türkei ist von strategischer Bedeutung in der Region. Zivile Schicksale werden nur dann als Vorwand ernst genommen wenn sie einem dienlich sind und das sind sie hier einfach nicht. So hart dies auch klingen mag, es ist leider die Realität.

Fr., 09.02.2018 - 10:31 Permalink

Europa hat nur zwei Möglichkeiten: Die Türkei in der Nato zu behalten und mit EU-Versprechen an den Westen zu verlieren, oder die Türkei gänzlich an den Einflussbereich Russlands zu verlieren. Es sei bitte allen bewusst, dass Russland vor, zwischen und nach den Weltkriegen immer mit dem Bosporus geliebäugelt hat, dass der Bosporus den Weg zum ersten Weltkrieg (mit)geebnet hat und dass sich der Kreis zu den Krimkriegen bekanntlich wieder geschlossen hat. Europa hat sehr viel aus der Geschichte gelernt, denke ich.

Fr., 09.02.2018 - 17:37 Permalink

Der Erste Weltkrieg hat damit begonnen, dass Italien am 29. September 1911 der Türkei den Krieg erklärt hat. Es folgten die beiden Balkankrieges, die sich nach den Schüssen von Sarajevo zum Weltkrieg ausgeweitet haben. Europa hat aus dieser Geschichte bis heute gar nichts gelernt, weil jeder die Geschichte nur nach seinem eigenen Gutdünken interpretiert.

Fr., 09.02.2018 - 21:55 Permalink

@Staffler: dann werde ich den 28. Juli 1914 aus meinen Geschichtsbüchern streichen, nachdem ich hier gelernt habe, dass Italien immer an allem Schuld ist. Wer auch sonst?

Ich hatte mir einmal den ganz unwissenschaftlichen Spaß erlaubt, die Vorzeit des WK1 aus reinem Eigeninteresse nachzuzeichnen.
https://www.salto.bz/it/article/25072014/happy-birthday-great-war
Auch wenn es Salto nicht Respekt und Mühe wert war, beim letzten Relaunch die beigelegten Bilder zu erhalten, bekommt man dort ein Gefühl für den Fluss der Dinge jener Zeit, und auch ein Gespür dafür, wie unsinnig es ist, irgendein Ereignis, Datum oder einen Akteur als Auslöser deuten zu wollen.

So., 11.02.2018 - 10:45 Permalink

Der 28.Juli 1914 (Kriegserklärung Österreichs an Serbien) bleibt natürlich wichtig, nur darf man nicht vergessen, dass es damals eine Kriegserklärung von vielen war (29. September 1911 Kriegserklärung Italiens an die Türkei, 25. September 1912 Kriegserklärung Montenegros an die Türkei, 16. Oktober 1912 Kriegserklärung der Türkei an Bulgarien, 17. Oktober 1912 Kriegserklärung Serbiens und Griechenlands an die Türkei, 29. Juni 1913 Angriff (ohne Kriegserklärung) von Bulgarien gegen Serbien und Griechenland, 8. Juni 1913 Kriegserklärung von Serbien und Griechenland an Bulgarien, 10. Juli Kriegserklärung von Rumänien an Bulgarien, 11. Juli Kriegserklärung der Türkei an Bulgarien. Ich empfehle die Lektüre des Buches "La Scintilla. Da Tripoli a Sarajevo. Come l'Italia provocò la prima Guerra mondiale", Milano, 2014. Italien war nicht immer schuld, allerdings hat es im Laufe seiner unrühmlichen Geschichte ausschließlich Angriffskriege geführt. Das ist eine Tatsache.

So., 11.02.2018 - 18:09 Permalink

DAs Brechen internationalen Völkerrechts im Kosovo Konflikt hat einen Präzedenzfall geschaffen, der nun die Ursache dafür ist, dass das Ringen um Einflusszonen wieder an der Tagesordnung steht. Der sogenannte Westen hat die vermeintliche moralische Überlegenheit mit den Versprechen des Exports von Demokratie, Menschenrechten etc. nicht eingelöst.
Die Aufnahme von Flüchtlingen Deutschlands war wohl der letzte gescheiterte Versuch diesen Platz, den ursprünglich Schweden mit dem Modell des sozialen Wohlfahrtsstaats geschaffen hat, einzunehmen.

Europa steht nun vor der Entscheidung das Spiel um Einflusszuonen mit der Türkei und wohl auch ISrael mitzumachen oder einen Weg einzuschlagen, der sich an internationalen Verrechtlichung orientiert. Das Projekt Rojava und die Realisierung von demokratischen Konföderalismus könnte ein Weg für die gesamte Region inkl. Palästina sein. Der Stopp von Waffenexporten an die Türkei und Saudi Arabien muss wohl Mindestziel sein

So., 11.02.2018 - 09:00 Permalink

Stopp von Waffenlieferungen ist natürlich eine folgerichtige Forderung, aber gilt in der Nato nicht der Bündnisfall, sobald die erste Rakete (oder siehe 9/11, das erste Attentat) auf türkischem Boden aufprallt? Irgendwo beginnt ein unaufhaltbarer Mechanismus, an dessen Ende der Ausschluss der Türkei aus der Nato steht. Russland, Iran, Saudi Arabien, Israel würde es freuen. Der Balkan wäre das nächste Ziel der Begierde.

So., 11.02.2018 - 10:58 Permalink

Du beklagst einen unaufhaltbaren Mechanismus, bemerkst aber nicht, dass auch der Bündnisfall Teil eines Automatismus ist. Oder nicht?
ISt Russland wirklich eine Bedrohung für die EU?
Und wenn ja, warum treiben wir dann Handel mit Saudi Arabien?
Warum exportieren wir Landwirtschaftsgüter in die sogenannten Entwicklungsländer und zerstören dort die Märkte?

So., 11.02.2018 - 13:24 Permalink

Viele gute Fragen, Christian. Ich wollte, ich hätte die Anworten. Türkei, Russland, Iran , Kurdistan ... alles wunderbare Länder mit wunderbaren Menschen. Es ist kein Naturgesetz, dass wir uns gegenseitig bedrohen müssen, aber dass die jetzige russische Führung ihre Freude daran hat, wenn die EU destabilisiert wird, gehört wohl zu den zu akzeptierenden Realitäten. Dass die EU durch inkonsistente Moral ihres dazu beiträgt, wohl auch, da widerspreche ich nicht.

So., 11.02.2018 - 18:25 Permalink

Beim Thema Russland bin ich ganz anderer Meinung, Benno. Meiner Meinung nach ist deine Russlandfeindlichkeit das Ergebnis von Propaganda und mangelnder Geschichtsaufarbeitung des Kalten Kriegs. Es ist schon komisch, dass alle Feinbilder aus dem Osten kommen Islam, Russland, China etc.) Wenn der Europazentrismus nicht schon lange hinfaellig ist, sollte er doch wenigstens Russland als Teil davon akzeptieren.
Russland ist ein geographisches Problem und kein ideologisches. https://t.co/RGjGydDoiL

Mo., 12.02.2018 - 20:23 Permalink

Europa muss es schaffen die Aussenpolitik nicht nach wirtschaftlichen Interessen anzuordnen (denn darin liegt die Ursache aller Interventionen des Westens im nahen Osten angefangen bei der Tötung des demokratisch gewählten Mossadeghs im Iran). Anstelle dessen muss das Versprechen für Demokratie und Freiheit für die Menschen vor Ort eingelöst werden. Nur so kann wieder Vertrauen hergestellt werden.
Zustimmung für eine solche Politik sollte selbst bis weit ins rechte LAger vorhanden sein, ist doch Solidarität bei "Ihnen" zuhause selbst bei casapound salonfähig.

So., 11.02.2018 - 13:36 Permalink

Der demokratische Konföderalismus in Rojava erfüllt einen Wertekatalog, nach dem eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft möglich ist.
Darf Europa es zulassen, dass dieser Strohhalm zugrunde geht?
Sollte das PKK Verbot überdacht werden und so wie in der Schweiz aufgehoben werden?

So., 11.02.2018 - 13:43 Permalink