Gesellschaft | Reportage

Wenn Heimatliebe gefährlich wird

Im letzten Teil meiner Reiseserie möchte ich noch einige Erkenntnisse teilen, die der Südkaukasus uns Südtirolern mit auf den Weg geben kann.
Landschaft im umstrittenen Bergkarabach
Foto: Julia Tappeiner

Der europäische Populismus-Trend und Rechtsruck hält nun auch in Südtirol Einzug. Die SVP verkündet vor den Landtagswahlen, in Zukunft sich der Heimatpolitik stärker widmen zu wollen. Was das konkret heißt? Eine Plattform Heimat soll entstehen, die sich um Heimatthemen dreht, also um Themen, die der Heimat wichtig sind und die in der Heimat stärker der Heimat entsprechend behandelt werden sollen. Dazu gehört die Stärkung heimatlicher Traditionen, das Thema der Doppelstaatsbürgerschaft, natürlich nur für echte Heimatmitglieder. Es soll um die Stärkung deutschsprachiger Schulen und Kindergärten gehen, also Heimatinstitutionen, die unsere Heimatsprache schützen. Wenn man bedenkt, dass immer weniger Heimatmitglieder durch die Italienischprüfung der 1. Mittelschule fallen, sollte man schon anfangen, sich um die Heimatsprache sorgen zu machen. Denn wo mehr in eine Fremdsprache investiert wird, geht an der eigenen Sprache etwas verloren, richtig? Ergo, wenn das Italienisch besser wird, wir das Deutsch schlechter, und die Heimat geht natürlich vor Fremdsprachenausbildung.

Nun stelle ich mir die Frage, wer denn genau mit Heimat gemeint ist. Italienischsprachige Südtiroler sind sowieso ausgeschlossen, die können ja nicht mal Dem Land Tirol die Treue akzentfrei singen. Über diejenigen, die je ein Elternteil aus einer der beiden Sprachgruppen besitzen, wird man sich noch einigen müssen. Ich stelle mir hierfür einen Heimatkundetest vor. Nur wer Oachkazerlschwoaf perfekt heimatlich aussprechen kann, darf als Heimatmitglied gelten. Bei den Ladinern ist es wohl auch etwas schwer abzuwägen, wie viel Heimattreue in ihnen steckt. Sie sind nicht immer ganz einfach in unserer Heimatsprache zu verstehen, und besitzen etwas zu individualistische Züge. Aber vielleicht durch eine überwachte Zwangsernährung mit Schlutzkrapfen, Käseknödel und Speckkrautsalat und der Vorschrift, mindestens 2 Stunden am Tag Kastelruther Spatzen zu hören, könnte man in einigen Wochen eine ausreichende Verheimatlichung erzielen.

Aber Spaß beiseite. Wenn ich diese Abgrenzungspolitik sehe, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Jetzt mehr als vorher, denn ich habe mit eigenen Augen gesehen, zu was übertriebene Heimatliebe und Patriotismus führen. Der Südkaukasus kann als potentielles Zukunftsszenario für Südtirol gesehen werden, sollten wir uns nicht endlich von dieser Politisierung der Sprache und ethnischen Segregation lösen. Die drei Länder des Südkaukasus sind alle multiethnisch, deren Bevölkerungen haben sich in der jüngeren Geschichte durch zahlreiche Migrationsbewegungen, Kriege oder territoriale Verschiebungen vermischt und es herrschen drei große eingefrorene ethnische Konflikte - Abchasien, Südossetien und Bergkarabach. Die ersten beiden Faktoren sind bei uns ebenso gegeben. Wir sind ein multiethnisches Territorium, und auch viele Menschen und Familien sind mittlerweile multiethnisch. Den gewaltsamen ethnischen Konflikt hingegen scheinen wir überwunden zu haben. Doch der Ursprung solcher Streitigkeiten liegt oft unter der Oberfläche, in den Köpfen und Herzen der Menschen. Befeuert durch eine gewisse Politik, kann ein Konflikt deshalb jeder Zeit wieder entflammen. Ich möchte daher eine Geschichte erzählen, von einem Land, dessen Menschen ihre Heimat so sehr liebten, dass sie bereit waren, ihre Kinder dafür zu opfern...

Die alte Frau, die uns am Hostel empfing hieß Laura. Genauso wie meine Reisegefährtin. Das freute sie, und zum ersten Mal bildete sich ein Lächeln auf ihrem faltigen Gesicht. Sie trug ein blumiges Kleid und ging etwas krumm. Englisch sprach sie nicht, Touristen war sie nicht so gewohnt und ihr Enkel, der sonst das Hostel führt, befand sich zu dieser Zeit beim Militär. „In Shushi“, erklärte Laura. Sie fing an, etwas warm zu werden mit uns, das anfängliche Misstrauen verflog. Sie brachte uns Kaffee und wir plauderten ein bisschen in gebrochenem russisch. Wir waren gerade aus Armenien über die Grenze in Stepanakert angekommen, und hatten einen weiteren umstrittenen Grenzübergang hinter uns gebracht. Stepanakert ist die Hauptstadt von Nagorno-Karabach, auch Bergkarabach genannt. Der Originalname setzt sich aus dem russischen Wort für Bergig, dem türkischen Wort für Schwarz und dem persischen Wort für Garten zusammen. Der Name des bergigen schwarzen Gartens deutet bereits an, dass dies ein stark umstrittenes und von verschiedenen Völkern besiedeltes Gebiet war. In dieser Bergregion zwischen Armenien und Aserbaidschan leben heute fast ausschließlich Armenier, die Menschen sprechen armenisch und fühlen sich auch so. Doch gebe ich auf der Wetter-App meines i-phones Stepanakert ein, dann erscheint Stepanakert, Aserbaidschan. Völkerrechtlich gesehen gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan und wird als unabhängige Republik nicht anerkannt. Weder von Aserbaidschan, noch von Armenien, zwei Länder, die sich jahrhundertelang um die Region stritten. Der Disput hat dazu geführt, dass die beiden Länder bis heute verfeindet sind, und die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan geschlossen ist. Nach dem zweiten Kaffee stand Laura kurz auf und kam mit einem alten vergilbten Foto zurück.  Darauf abgebildet war ein junger Mann in Uniform. Ihre Stimme wurde traurig, als sie mir von ihm erzählte. Er war ihr Sohn. Mit 23 Jahren kämpfte er im Armenisch-Aserbaidschanischen Krieg und fiel. Und trotzdem sind heute in der Stadt überall Plakate verteilt, die für das Militär werben.

Es dauerte wenige Tage, bis ich dem Krieg schließlich selbst begegnete. Ich kam ihm so nahe, wie nie zuvor. Bisher kannte ich ihn aus Erzählungen. Über fernere, verblasstere Erinnerungen meiner Großeltern, und über schmerzhafte, frische Erfahrungen in den Gesichtern der Menschen in Abchasien und Bergkarabach. Nun sah ich dem Krieg zum ersten Mal direkt ins Auge, beziehungsweise dem, was er unmittelbar hinterlassen hatte. Wir fuhren durch Agdam, einer Stadt, die vor 1993 noch etwa 40.000 Einwohner hatte. Währen des Krieges wurde die Stadt fast komplett zerstört. Heute ist Agdam militärisches Sperrgebiet, eine Geisterstadt. An der Waffenstillstandslinie zu Aserbaidschan kommt es immer wieder zu Schusswechsel. Nur eine schmale Schotterstraße ist Minenfrei und befahrbar. Aus dem Autofenster aus sah ich Ruinen, die im Laufe der Zeit von der Natur übermannt wurden, von Bäumen überwuchert. Wir fuhren an Stellen vorbei, wo einst Häuser standen, ein Marktplatz, Büros. Heute sind an der Stelle nur mehr grasbewachsene Hügel zu sehen, oder die letzten Überbleibsel einer Moschee. Links und Rechts waren notdürftig Absperrungen gebaut worden aus allem, was so gefunden wurde. Neben Stacheldrahtzaun waren es verrostete Mülltonnen, alte Panzertüren und sogar manche kaputte Toiletteneinrichtung.

Wie bei vielen der ethnischen Konflikte im postsowjetischen Raum erreichte auch hier das territoriale Chaos nach der Auflösung der UdSSR seinen Höhepunkt. Die Region war multiethnisch, hier lebten islamische Völker wie Kasachen und Aserbaidschaner und christlich orthodoxe Armenier. Nach dem Ende der Sowjetunion und der neuen Grenzziehung brach ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan aus, der von 1990 bis 1994 andauerte. Die muslimischen Aserbaidschaner wurden vertrieben, einer Lösung ist das Land dennoch nicht nähergekommen. Es ist paradox, wenn man die Situation mit Abchasien vergleicht. Die Menschen dort sehen sich als Abchasier, während der Rest der Welt ihre Individualität nicht anerkannt. Hier hingegen sehen sich die Menschen als Armenier, der Rest der Welt erkennt ihre Zugehörigkeit nicht an. Selbst der große Bruder Armenien erkennt Bergkarabach nicht an und hütet sich auch davor, es sich einzuverleiben. Das Risiko eines erneuten Krieges wäre zu hoch. Ähnlich wie in Abchasien, sind die Menschen in Bergkarabach unmittelbar vom Krieg gekennzeichnet, er ist in den Köpfen der Bewohner noch sehr präsent.

Eine halbe Stunde Autofahrt entfernt liegt Shushi, die Stadt, in der Lauras Enkelsohn gerade seine Militärpflicht absolviert. Wer weiß, vielleicht ist es einer der Soldaten, die hier in den Straßencafés sitzen? Sushi ist ebenfalls ein Ort, der stark vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die ehemalige kulturelle Hauptoase Bergkarabachs hat nur mehr wenig von seinem reichen Antlitz übrig, angedeutet durch teilweise noch erhaltene schöne Häuser mit verschnörkelten Eingangstoren. Die Stadt war historisches Zentrum- sowohl für die armenische, als auch für die aserbaidschanische Kultur. Eine Schnittstelle zwischen Christentum und Islam. Die Überreste der Aserbaidschaner, die früher hier lebten, sind noch in den alten muslimischen Vierteln erhalten. Wir schlenderten durch enge von weißen Steinen bepflasterte Gässchen. Ein Armenier erklärte mir: „Diese engen kleinen Gassen sind typisch muslimisch. In Armenien sind die Straßen breit und offen. Man sieht hier eindeutig, wo früher die Aserbaidschaner lebten, und welche Teile der Stadt hingegen von Armeniern besiedelt waren.“ Die christlich orthodoxen Kirchen wurden mittlerweile restauriert. Die Moscheen sind halbverfallen, nur schüchtern blitzen kaputte Minarette zwischen den grünen Baumkronen hervor.

Mit Segregation bin ich selbst aufgewachsen und ich kann es nicht vermeiden an meine Heimatstadt Bozen zu denken. Der Obstmarkt, der Kornplatz und die Laubengasse- typische Viertel der Deutschen. Die Freiheitsstraße- eher italienisches Gebiet. Was wäre, wenn wir dieselbe Entwicklung durchmachen würden wie Abchasier oder die Menschen in Bergkarabach? Wenn es plötzlich Krieg gäbe um uns zwischen Österreich und Italien. Welche Viertel würden dann bei uns zerfallen? Wir müssen unsere deutschsprachigen Kindergärten schützen, unsere österreichischen Traditionen stärken. Und was ist mit den italienischen Bräuchen? Gehören die mittlerweile nicht auch zu unserer Kultur? Welcher Südtiroler fährt nicht gerne zu Ferragosto in den Urlaub? Welcher Südtiroler versteht nicht die Geste der zusammengepressten Fingerspitzen die nach oben schaukeln oder benutzt sie selbst wenn er denkt: Ma wos redschen? –Ma cosa dici? Und welcher Südtiroler zählt italienische Spaghetti oder Pizza nicht zu einem regelmäßigen Mahl? Muss Kultur denn statisch sein? Kann sich Kultur nicht vermischen und zu neuer Kultur werden? Wir waren doch auch nicht immer christlich. Heute gehört das Christentum zu unserer Kultur. Hat Ötzi damals schon Schlutzkrapfen gegessen? Ich glaube kaum. Das kam erst später. Lebte Ötzi heute, im Jahr 2018, dann würde er als Südtiroler nicht nur Kastelruther Spatzen hören, er würde auch zu Adriano Celentano singen. So wie Menschen sich entwickeln und neue Erfahrungen und Begegnungen sie prägen, so bereichern sich Kulturen durch neue Einflüsse.

In Shushi war ich einer Touristenführerin aus Armenien begegnet, die einen reichen Touristen aus der Schweiz herumführte. Sie erzählte, wie sie vor fünfzehn Jahren hier gearbeitet hatte und wie anders es damals noch war: „Die Leute waren bettelarm. Sie hatten nichts, nach dem Krieg. Sie rannten alle zu unserem Jeep und baten um Essen.“ Zwanzig Jahre später erst fängt das Gebiet an, sich langsam zu erholen. Und war es das wert? War es die Heimat wert, historische Moscheen zu zerstören, Aserbaidschaner zu verjagen, nur um heute sagen zu können, wir sind Bergkarabach, nicht Aserbaidschan, nicht Armenien. Wie weit würden wir gehen um nicht nur sagen zu können, Südtirol ist nicht Italien, sondern um das zu erleben, diese Abspaltung. Ja und dann? Italienischsprachige Südtiroler vertreiben? Wäre es das alles wert, nur um eine nationale Zugehörigkeit zu klären, die es mittlerweile unmöglich ist, objektiv zu definieren? Krieg zu führen, für eine Heimat, die Heimat ist für verschiedene ethnische Gruppen? Ich muss an die alte Laura aus dem Hostel denken mit dem vergilbten Foto ihres verstorbenen Sohnes. Sie wüsste bestimmt eine Antwort auf die Frage, ob die Heimat das alles wert war.

Kommen wir zurück zur SVP und ihrer Heimatliebe. Selbst die Südtiroler Freiheit kritisierte diesen neuen Trend als einen Versuch, deren Wähler abzuwerben. Und das bereitet mir, als jemand der seine Heimat liebt, wirklich Sorgen. Ja genau, ich liebe auch meine Heimat. Aber dafür muss ich nicht patriotisch, oder in einem Schützenverein tätig sein. Ich kann auch auf eine zweisprachige Schule gehen und meine Heimat lieben, ohne mich von anderen Ethnien abzugrenzen. Unsere Heimat ist multiethnisch. Und das ist etwas was ich an ihr liebe. Ich schätze jeden Tag die tolle Landschaft, die es bei uns gibt, und versuche sie, so wenig wie möglich zu verschmutzen. Ich liebe meine Heimat, in dem ich das Fahrrad nehme oder den Zug, anstatt mit meinem Auto zum Supermarkt um die Ecke zu fahren. Ich liebe meine Heimat, in dem ich keinen Müll auf die Straße werfe oder indem ich auf dem Markt heimisches Freilandrind kaufe statt 90-Cent-Hühnchen von internationalen Supermarktketten. Ich liebe meine Heimat, indem ich Gäste willkommen heiße, damit sie sehen, dass wir Südtiroler nette Menschen sind, anstatt alles Fremde misstrauisch zu beäugen. Ich liebe meine Heimat, indem ich in die Welt gehe, und sehe, dass es an anderen Orten auch sehr schön ist, mein zuhause aber nun mal mein zuhause ist. Also da, wo meine Familie lebt. Und sie kann weiterhin hier leben, ich kann weiterhin mit meinen Freunden zuhause Zeit verbringen, egal ob in meinem Pass nun Italien oder Österreich steht. Das ist für mich Heimat. Dafür brauche ich keine Plattform und auch keine rein deutschsprachigen Schulen.

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Vinschgau Markus Mo., 01.10.2018 - 13:40

Kaukasus, du fernes Land
der Freiheit armes Domizil,
von soviel Unglück übermannt,
von blutigen kriegen allzuvielt.
Diese Zeilen hat der russische Dichter Michail Lermontov im 19. Jhd. verfasst. Scheint immer noch akutell.

Die Reisereportage der Frau Tappeiner (Georgien, Armenien, Berg-Karabach) finde ich sehr interessant.
Wer in Südtirol kennt schon Bergkarabach (armen. Arzach) und denkt daran, dass in den Jahren November 1991 - 1994 dort ein itensiver Krieg stattgefunden hat, welcher zur Zeit als eingefrohrener Konflikt gilt.
Ebenso darf der "Aufgeklärte Europäer" sich nicht den Tatsachen verweigern dass hier das christlich-ortodoxe Armenien auf die islamisch-schiitischen Republik Aserbaidschaner stößt.
Und im März 1921 wurde den Karabach-Armeniern versprochen, dass sie bis zu einer Volksabstimmung, welche nie stattfand, Teil Aserbaidschans bleiben sollten. Auch das schöne Land Aserbaidschan hat bis zum Waffenstillstand im Mai 1994 an der sog. Kontaktlinie zwei Präsidenten verbraucht... Aber wie aus den Medien zu erfahren ist, kommt es immer wieder an der sogenannten Kontaklinie zu schweren Scharmützeln....

Mo., 01.10.2018 - 13:40 Permalink