Politik | Mut zur Entscheidung

Das existentielle Drama der SVP

Die SVP sollte sich in diesen Tagen fragen, was sich schon Ödipus bei Sophokles gefragt hat: Wer bin ich, woher komme ich?

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Foto: unknown

Ödipus wird von dunklen Mächten beherrscht, die seine Seele aufwühlen. Auch was der herrschenden politischen Kraft in Südtirol gerade widerfährt, deren Kinder wir alle irgendwie sind, hat das Zeug, sich zu einer perfekten Tragödie zu entwickeln. Aristoteles verortet in seiner „Rhetorik“ den menschlichen Fehler auf halber Strecke zwischen Pech und Schuld. So wie Ödipus, der seinen Vater erschlägt, würde die SVP den aristotelischen Fehler begehen, die Ideen derjenigen zu töten, die sie geschaffen haben. Und die dabei hohe Messlatten angelegt haben, was zum Beispiel Prinzipien wie echte Menschlichkeit, Konsequenz, Hilfe für die Schwächsten betrifft.

Die SVP würde – irgendwo zwischen Pech und Schuld – den Fehler begehen, die Wertschätzung derjenigen zu verlieren, die in die SVP geglaubt haben und (auch bedeutende Staatsmänner waren darunter) in ihre Treue, ihren Geist des friedlichen Zusammenlebens, in die Menschenrechte, in ein erweitertes, integratives Konzept von Heimat. Mehr noch: So wie Ödipus, der selbst Opfer seines Fehlers wurde, weil er seine Herkunft nicht kannte, würde die SVP nicht nur ihre Ideen verraten, sondern auch ihre Gründerväter. Sie würde – absichtlich oder nicht –  vergessen, wo sie eigentlich herkommt. Bei Sophokles gerät nach dem Vatermord Ödipus ganzes Leben durcheinander. Ödipus ist nicht wirklich unschuldig, aber auch nicht komplett schuldig, obwohl er glaubt, seinem freien Willen zu folgen. Die SVP glaubt das auch, allerdings folgt sie nicht mehr ihrem historischen Willen. Was die SVP sich vorstellt, ist eine freiwillig – wenn auch nicht böswillig - gewählte selbstmörderische Allianz.

Völlig aus den Fugen geraten ist das Leben der SVP; dabei gibt es doch Kinder, die sie total lieben und immer lieben werden, so wie Ödipus Tochter Antigone. Doch es ist eine irrationale Leidenschaft, bockig gegen das Gesetz, gegen die Stadt, gegen alle, gegen das Leben selbst: Ist es wirklich das, was die SVP möchte? Eine Leidenschaft, die sich in Obsession verwandelt und schließlich in thánatos endet, in der Selbstzerstörung?

Was kann es Erschütternderes geben als einen Sturz vom höchsten Glück ins tiefste Elend? Ödipus entdeckt schließlich, wer er ist (und wer zu sein er nie auch nur geträumt hätte) – ein grausames, höhnisches Schicksal. Grausam ist auch die Lega, für die die politische Autonomie mehr zählt als die Menschenwürde. Doch das Herumtreten auf den Menschenrechten gehört einfach nicht zum Erbgut der SVP, die sich über Jahrzehnte hinweg integer verhalten hat. Jetzt aber haben wir das Drama einer alteingesessenen Partei, die – wie König Ödipus das Urteil des Volkes fürchtet – als Sammelpartei das Urteil der italienischen Wähler fürchtet. Ein Drama, in dem es um Leidenschaft ebenso geht wie um Schicksal. Ödipus ist Spielball seines thymós, seiner Aggressivität, und das gilt gerade auch für unser Edelweiß: Gebeutelt vom Machtwillen und einer Anmaßung, die eigentlich nicht zu ihm passt, glaubt es nun, in einer Art Selbstzerstörungswahn die Grenzen seiner Kernwerte sprengen zu müssen. Ödipus Drama bringt ihn erst zum Töten und dann dazu, sich selbst zu blenden, und dieses Schicksal könnte auch bei dieser unbesonnenen Entscheidung der SVP drohen. Die sich jetzt entscheiden muss, ob sie mit den fremdenfeindlichen Populisten koalieren möchte, während der von ihr selbst in Bewegung gesetzte Mechanismus sein Werk tut.

Wie bei Ödipus gegen Ende des Dramas in einer alles verzehrenden Wartephase, die ihn fast wahnsinnig macht. Es ist ein tragischer Moment, der Ödipus mit völlig verwirrten Sinnen vorfindet. Sein Bewusstsein ist nicht ganz klar, die Leidenschaften und Ängste eines ganzen Lebens spielen mit hinein. Wie ein Fluss bei Hochwasser riskiert die SVP, alles zu zerstören, die Überzeugungen ihres ganzen Lebens und vieles mehr. Es herrscht eine große Aufregung im Inneren dieser Sammelpartei, doch es sollten Entscheidungen vorherrschen, die mutig den alten Prinzipien treu bleiben. Gleichzeitig sollte die Partei die Demut besitzen, neue Allianzen einzugehen und sich dabei auch von Ideen, Wegen, Anregungen inspirieren lassen, die sie bisher nicht für gangbar gehalten hat – sei es, weil die Zeiten noch nicht reif dafür waren, sei es, weil sie es schlicht nicht nötig hatte. Es ist ein sensibler Moment, und wir brauchen unser Europa. Wir brauchen auch größere Rücksicht auf alle Lebewesen und auf die Welt, die uns umgibt. Und vor der großen, endgültigen Entscheidung sollte daher die Frage stehen: Wer bin ich und woher komme ich?

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Hans Knapp So., 28.10.2018 - 16:58

Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?

In Völs am Schlern findet man - auf Plaketten an den rund zweihundert Bänken im ganzen Gemeindegebiet - diese drei Fragen, in vielen Varianten aus verschiedenen Quellen und in verschiedenen Sprachen.
Zwei Textbeispiele (leider kann ich hier keine Fotos von den Bänken mit den Plaketten einsetzen):

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung
Vorwort
Wer sind wir?
Wo kommen wir her?
Wohin gehen wir?
Was erwarten wir? Was erwartet uns?
Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt,
sie wissen nicht warum und von was.

Il ne faudrait que leur ôter tous ces soucis ;
car alors ils se verraient, ils penseraient à ce
qu’ils sont, d’où ils viennent, où ils vont ;
et ainsi on ne peut trop les occuper et les détourner.
Blaise Pascal

So., 28.10.2018 - 16:58 Permalink
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Alexander Wallnöfer Fr., 02.11.2018 - 11:07

Sehr treffendes Analogon. Mit Vergnügen diesen Rückgriff in die griechische Mythologie gelesen. Es hat einen gewissen Reiz, sich die Ritter von der Tafelrunde im SVP-Parteisitz als kollektiven Ödipus vorzustellen. Danke für diese inspirierende Politanalyse.

Fr., 02.11.2018 - 11:07 Permalink
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Paul Schöpfer Sa., 03.11.2018 - 11:16

Antwort auf von Greta Karlegger

Meine Aussage zielt darauf ab, dass der Artikel lustig ist, aber keinerlei Mehrwert im Inhalt bietet.

Über die Wertung italienischer Parteien halte ich mich zurück. Der italienische Wähler kann leider immer nur die zwischen Pest und Cholera wählen. Ich möchte die beiden Krankheiten auch nicht auf eine Stufe setzen ;-) Vielleicht könnte man aber den Vergleich anstellen, dass eine Grippe (PD) zu einer Lungenentzündung (Lega + 5*) geführt hat.

Sa., 03.11.2018 - 11:16 Permalink
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Greta Karlegger Sa., 03.11.2018 - 00:17

Einigermaßen tragisch, das Ödipus ins Feld geführt werden muss, um eine Volks-Partei zur Vernunft zu rufen. Fast schon episches Theater. So etwas hat es überhaupt noch nie gegeben. Oder ich erinnere mich nicht daran. "Pech und Schuld", eher "unschuldig schuldig", wie in dem sehr pointiertem Artikel angedeudet wird. Mehr noch: "Schuld und Sühne"!
Die Zukunft ist ... grün!

Sa., 03.11.2018 - 00:17 Permalink
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Martin Daniel Sa., 03.11.2018 - 11:08

Trotz dieses genüsslichen Exkurses in die griechische Tragödie glaube ich, dass der Bezug auf Macchiavelli angebrachter wäre. Die SVP wird jenen Partner wählen, der einfacher handzuhaben ist (= sich nicht in die, die dt. und ladinischsprachige Bevölkerung betreffenden Belange einmischt und alle diesbezüglichen Entscheidungen der Volkspartei überlasst ebenso alle von den beiden genannten Volksgruppen zu besetzenden Posten, wodurch die Macht trotz Stimmenverluste in einer einzigen Hand gehalten wird), die Italienerquote bei Landesräten, Landtagspräsidentschaft u. Regionalassessor liefert (= 4 Italiener*innen, die in den Landtag gewählt wurden, ohne auf Berufungen von außen zurückgreifen zu müssen) sowie eine vorteilhafte Beziehung zur Regierung in Rom und eine günstige Konstellation für die Bildung der Regionalregierung ermöglicht. Diese Kriterien der Partnerwahl erlauben der SVP, ihre Ziele so effizient wie möglich zu verfolgen und stünden in Kontinuität mit ihrer bisherigen Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen politischen Umstände. Der Principe würde auch so handeln.

Sa., 03.11.2018 - 11:08 Permalink
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Marcus A. Sa., 03.11.2018 - 13:03

Antwort auf von Martin Daniel

Da werden Sie wohl recht behalten....

In erster Linie geht es um die Erhaltung der Macht und deswegen wird der zukünftige Koalitionspartner wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit Lega heißen.
Im Grunde genommen absurd, wenn man bedenkt wie LH und Co. noch vor wenigen Monaten alle populistischen Bewegungen verteufelt haben und besonders dem LH Populisten zuwider sind.

Aber ja, nachdem ich beruflich und privat viel mit Bauern zu tun habe, ist aus diversen Gesprächen ganz klar erkennbar, dass diese (und somit eine der wichtigsten Vertretungen innerhalb der SVP) einem Pakt mit der Lega nicht abgeneigt sind. Der hemdsärmelige Pseudo-Macher-Typ Salvini kommt gut an. Hier spielen ideologische Bedenken wohl eine weniger wichtiger Rolle....

Sa., 03.11.2018 - 13:03 Permalink