Gesellschaft | Nachdenken

Der Herr ist kein Hirte

Oratio in Religionem – Der Bozner Oberschüler Joachim Nicolodi hat mit dieser Rede über Religion in der modernen Gesellschaft einen Jugend-Redewettbewerb gewonnen.
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Foto: upi
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Oder Sie? Oder Sie? Nicht umsonst ist diese Frage aus Goethes Faust als „Gretchenfrage“ in die Geschichte eingegangen.
Ich hoffe Sie verzeihen mir, wenn ich in meiner kurzen Rede dem Thema, über das ich sprechen will, nicht ganz gerecht werden kann. Es ist nämlich eines der wichtigsten Themen, über die man überhaupt sprechen kann: der Glaube, oder vielmehr: das Nicht-Glauben. Ein Thema, über das bereits häufig und hitzig diskutiert wurde, aber ein Thema, über das zu streiten nie langweilig wird. Denn die Auseinandersetzung mit dem Glauben bildet die Grundlage und den Ursprung aller Auseinandersetzungen über die Philosophie, die Wissenschaft und das Wesen des Menschen.
Wir können uns gern mal bei einer Flasche Messwein zusammensetzen und über die Existenz eines Gottes sinnieren, jetzt sollten wir uns allerdings die Frage stellen, ob der organisierte Glaube an so einen Gott für die die Wissenschaft, die Gesellschaft und das Individuum wirklich vorteilhaft ist.
Jetzt sollten wir uns allerdings die Frage stellen, ob der organisierte Glaube an so einen Gott für die die Wissenschaft, die Gesellschaft und das Individuum wirklich vorteilhaft ist.
Vor mehr oder weniger 300 Jahren hat die Welt, was das betrifft, einen großen Schritt nach vorne gemacht. Die dunklen Regenwolken des Mittelalters begannen sich zurückzuziehen und kluge, mutige Menschen trotzten während der Aufklärung der Unwissenheit und dem religiösen Dogmatismus, der so vielen Leuten so viele schreckliche Dinge antat: Rousseau, Voltaire, Kant, Thomasius, um nur einige Namen zu nennen. Es ist an uns heute dieses kostbare Geschenk weiterzutragen. Viele werden jetzt erwidern, dass unsere Gesellschaft doch so säkularisiert sei. Aber ist die Welt wirklich frei von religiösen Einflüssen?
Von den theokratischen Staaten im Nahen Osten und Teilen Afrikas abgesehen, gibt es auch im Westen religiöse Gruppierungen und Institutionen, wie die etwa die katholische Kirche, die immer noch großen Einfluss auf Andersdenkende ausüben. Vielleicht nicht mehr mit Schwert und Fackel wie früher, sondern subtiler, aber nicht weniger gefährlich. Mit absoluter, unantastbarer Wahrheit im Gepäck plagen sie Kinder von Geburt an mit der Vorstellung von Himmel und Hölle, sie bringen ihnen bei Dinge zu behaupten, die sie nicht beweisen können und sie lehren sie das Genießen ihres einzigen Lebens hintanzustellen und alle Handlungen auf das Jenseits auszurichten. Außerdem können wir in Vergangenheit und Gegenwart beobachten, wie Religion die Menschen spaltet in: „Wir sind die Guten und haben Recht, ihr seid die Bösen und liegt falsch“. Und so entstehen Konflikte oder werden zumindest begünstigt. Dazu kommen die unzähligen und rational völlig unbegründbaren Verbote, Gebote, Regeln und Pflichten, die es zu befolgen gilt, trotz Gottes unendlicher und unbedingter Liebe. 
Schauen wir mal nach Irland, im Jahr 2012: einer hochschwangeren Frau wird diagnostiziert, dass ihr ungeborenes Kind krank sei, ohne Chancen auf Heilung. Die Frau will eine Abtreibung, doch den Ärzten, Angestellte eines auch bei der Gesetzgebung durch und durch katholisch geprägten Staates, sind die Hände gebunden. Das Kind stirbt, es wäre leider so oder so gestorben, doch die Ärzte müssen zusehen, wie vor ihren Augen auch die Frau stirbt. Vielleicht kann der Glaube einem persönlich weiterhelfen, doch sobald er solche Ausmaße annimmt kann und muss er kritisiert werden. Von der Tatsache abgesehen, dass gerade diese Behauptungen der Kirche allen Regeln der Vernunft und des Universums widersprechen. 
 
Religion mag vor langer Zeit einen Zweck gehabt haben; sie bot eine wohlige Zuflucht vor der Unwissenheit und Angst vergangener Zeitalter, doch mit dem Erkenntniszuwachs der Wissenschaft und der Vernunft als oberster Maxime diese Erkenntnisse zu verarbeiten, ist Glaube obsolet und Gott, wie Nietzsche bereits sagte, tot. Wir wollen auf eigenen Beinen stehen und die Welt offen und ehrlich anblicken – ihre guten und schlechten Seiten, ihre Schönheit und ihre Hässlichkeit; wir wollen die Welt so sehen wie sie ist, und uns nicht davor fürchten. Eine gute Welt braucht Wissen, Güte und Mut, keine schmerzliche Sehnsucht nach der Vergangenheit, keine Fesselung der freien Intelligenz durch Worte, die vor langer Zeit von unwissenden Männern gesprochen wurden.
Religiosität wird nie aussterben, jedenfalls nicht so lange wir noch Angst haben vor der Unwissenheit, dem Dunkel und dem Tod.
Am Beginn meiner Rede habe ich gesagt, wie häufig und vehement dieses schwierige Thema bereits behandelt wurde. Es wurden sogar Kriege geführt zwischen Religion und Religion, zwischen Staat und Kirche, wer Recht und damit die Macht behalten sollte. Ich bilde mir deswegen nicht ein, mit meiner kurzen Rede Weltbewegendes geleistet und Sie alle von der Schlechtigkeit der Religion überzeugt zu haben. Religiosität wird nie aussterben, jedenfalls nicht so lange wir noch Angst haben vor der Unwissenheit, dem Dunkel und dem Tod. Trotzdem stehen ich und jene, die so denken wie ich, dafür ein, dass Religion Privatsache bleibt und zumindest politisch und gesellschaftlich keine Rolle mehr spielt. Die Angst vor einem allmächtigen Schöpfer, vor Andersdenken und vor sinnfreien Regeln und Verboten wird verschwinden und wir werden gelassener, freier und glücklicher in eine Zukunft schreiten, von der ich überzeugt bin, dass sie unsere tote und dunkle Vergangenheit bei weitem übertreffen wird. Der Dichter Heinrich Heine hat mal gesagt: „In dunklen Zeiten wurden die Völker am besten durch die Religion geleitet, wie in stockfinstrer Nacht ein Blinder unser bester Wegweiser ist; er kennt Wege und Stege besser als ein Sehender. – Es ist aber töricht, sobald es Tag ist, noch immer die alten Blinden als Wegweiser zu gebrauchen.
 
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gorgias Di., 25.12.2018 - 10:14

Antwort auf von Manfred Klotz

In Italien ist aber die katholische Kirche weder politisch, justisch noch finanziell voneinander getrennt.
In Südtirol bekennt man sich im Schulprogramm auf die "christlichen" Wurzeln. Dass es mehr als christiliche Wurzeln gibt wird verschwiegen. Viele staatliche Feiertage sind auf die christlichen Feiertage abgestimmt.
Die Kirche zahlt keine Steuern auf deren Liegenschaften und kann alle mögliche Unternehmungen steuerfrei führen, als "gemischt" also die sowohl religiös als auch ökonomische Zwecke haben. Darunter fallen gastronomische und touristische Einrichtungen aber auch bis zur Schönheitschirurgie.
In der italienischen Verfassung wird die katholische Kirche namentliche gennant und als unabhängig vom Staat anerkannt.
Der italienische Staat bezahlt katholischen Religionsunterricht. Die Kirche bestimmt sowohl wer als Personal zugelassen ist, als auch das Programm.

Es wird toleriert, dass die Kirche sich in alle möglichen Themen einmischt die individuelle Selbstbestimmung einschränkt wie die Sterbehilfe und die Möglichkeit auf medizinische Behandlung zu verzichten.

Di., 25.12.2018 - 10:14 Permalink