Es ist eine Sache, vor einer reellen Gefahr zu warnen, eine andere, Mitbürger grundlos in Panik zu versetzen, Misstrauen zu säen und schlimmstenfalls Selbstjustiz zu provozieren.Der dickliche Mann mit der schwarzen Wollmütze sieht einigermaßen verdutzt in die Kamera. Seine Begleiterin in der olivgrünen Winterjacke hingegen merkt gar nicht, zu welcher Ehre sie gerade kommt. Abgelichtet, um dann in einer Facebook-Gruppe ausgestellt zu werden. Nicht etwa als Promi-Pärchen, das in Südtirol urlaubt (dazu sehen beide auch, mit Verlaub, etwas zu unspektakulär aus), nein: der Paparazzo, der hier Persönlichkeitsrechte missachtet, hat weit hehrere Ziele. Die beiden Herrschaften mittleren Alters machen sich nämlich gerade eines nicht zu unterschätzenden Vergehens schuldig: Sie „spekulieren im Dorf herum!“ Am helllichten Tag! Auf offener Straße! Unerhört.
Ich lese Klingelschilder, luge über Gartenzäune, spähe in Garagen. Wer weiß, in wie vielen Foren und Whatsapp-Gruppen schon vor mir gewarnt wurde.
Als mir dieser Vorwurf samt Fotos in meine Timeline flatterte, ich gestehe, es fuhr mir durch Mark und Bein. Bin ich doch selbst eine praktizierende Spekuliererin. Wie man spazieren gehen kann, ohne „herumzuspekulieren“, ich habe es noch nie begriffen. Ich lese Klingelschilder („Wer wohnt denn da?“), luge über Gartenzäune („So viele Tomaten!“), spähe in Garagen („schöne Vespa!“). Wer weiß, in wie vielen Foren und Whatsapp-Gruppen schon vor mir gewarnt wurde („Da ist sie wieder!“), wie oft war ich schon unbemerkt bei meinem schändlichen Tun abgelichtet worden und zirkulierte nun, neugierig und unverschämt, für immer im Internet. Schon überkam es mich heiß und kalt zugleich, da fiel mir glücklicherweise ein: Ich bin nicht dunkelhäutig. Und den Südtiroler Dialekt spreche ich, Gott sei’s gedankt, ohne fremdländischen Akzent.
Beides sind nämlich unabdingbare Voraussetzungen, um in Alarmstufe-Rot-Gruppen auf Facebook oder Whatsapp, heißen sie nun „Iats reicht’s!!!“ (man beachte, dass ein Ausrufezeichen hier nicht genügt) oder „Achtung in“ Dorf Soundso, zu zweifelhafter Bekanntheit zu gelangen. Ein Schwarzer, der ziellos durchs Dorf flaniert? Verdächtig! Die „Zigeunerin“, die vor der Bäckerei herumlungert? Verdächtig! Das Schrottauto, das seit Tagen vor der Kirche parkt? Megaverdächtig. In den Kommentaren gehen dann die Wogen hoch, „Danke, danke!“ hallt es inbrünstig, von „G’sindl“ und „Pack“ ist die Rede, dem man es mal zeigen müsse, denn so könne es nun ja wirklich nicht mehr weitergehen. Im Falle der vermeintlichen
versuchten Kindesentführung letzthin in Tscherms otografierte ein übereifriger Mitbürger bereits einen weißen Lieferwagen mit ausländischem Kennzeichen und lud das Bild hoch; es könnte sich ja um den (natürlich dunkelhäutigen) Täter handeln. Übrigens, dass Kindesentführer stets einen weißen Lieferwagen zu fahren haben, muss wohl in deren Ehrenkodex vorkommen („Wir hätten einen roten im Angebot.“ „Nein, ich brauche einen WEIßEN!“).
Wenn sich dann, wie in ebenjenem Fall, der Verdacht in Luft auflöst, weil es keine Beweise gibt, weil niemand sonst etwas gesehen hat, weil der Schwarze ein Tourist war (auch das gibt’s), weil die Romni „nur“ gebettelt hat, weil das Schrottauto der Tante Mitzi gehört, die zu Besuch war und keinen anderen Parkplatz gefunden hat, und nicht weiß, dass ein anständiger Südtiroler kein zerbeultes Auto fährt - wenn schlichtweg nichts passiert ist, dann verpufft der sich aufgestaute Aktionismus der selbsternannten Dorfsherrifs und Privatdetektivinnen nicht etwa, sondern hält beharrlich am angeblich Vorgefallenen fest („Diesmal ist’s noch gut gegangen“) oder konzentriert sich schnell auf ein neues Opfer. Der Adrenalinspiegel war ja grad so schön hoch. Und der nächste Einbruch kommt bestimmt.
Dabei bestätigte
Oberstaatsanwalt Giancarlo Bramante erst vor kurzem,
wie sicher Südtirol eigentlich ist; bewegt man sich hingegen zu viel in den genannten Gruppen, kann man sich nur noch darüber wundern, dass man bei den zahllosen Diebstahl-, Einbruchs- und Entführungsversuchen selbst noch schadlos davongekommen ist.
Es ist eine Sache, vor einer reellen Gefahr zu warnen, eine andere, Mitbürger grundlos in Panik zu versetzen, Misstrauen zu säen und schlimmstenfalls Selbstjustiz zu provozieren.
Vor einiger Zeit traf ich einen Bekannten, seine Augen waren rotgerändert, die Gesichtsfarbe fahl. Was denn los sei, fragte man und malte sich im Geiste schon die schwere Krankheit aus, die ihn zweifellos befallen haben musste. Allein, es war Morbus Panicus. Ach, meinte er, es habe im Dorf letzthin einige Einbrüche gegeben und seither verschicke eine selbst ernannte Bürgerwehr über Whatsapp Warnnachrichten sobald „verdächtige“ Fremde im Ort gesichtet wurden. Nachts bekomme er kein Auge mehr zu, auf seinem Nachtische liege das Küchenmesser bereit. Die Frage, ob er damit dem Einbrecher eine Speckmarende zubereiten wolle, verkniff ich mir.
Es ist eine Sache, vor einer reellen Gefahr zu warnen, eine andere, Mitbürger grundlos in Panik zu versetzen, Misstrauen zu säen und schlimmstenfalls Selbstjustiz zu provozieren. Wir haben Ordnungskräfte, lassen wir die ihre Arbeit tun, anstatt uns online gegenseitig verrückt zu machen. Und wenn eine/r gar zu sehr am Herumspekulieren ist, dann nicht abknipsen und hochladen, sondern es mit „Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“ probieren. Ich werde auch nicht beleidigt sein.