Und mit ihnen auch auch die täglichen Statements des scheidenden Innenministers, seine Anlegeverbote und Kraftproben, seine populistischen Verdikte und die damit verbundene, tägliche Selbstverherrlichung. Matteo Salvini hat die Immigration zum unbestrittenen Hauptthema seiner Politik erhoben. Die täglichen Fernsehbilder der Sea Watch und Open Arms sollten den Eindruck vermitteln, die Halbinsel werde permanent von einer schier endlosen Immigrantenflut aus Nordafrika bedroht, gegen die nun endlich entschlossen vorgegangen wird.
Ein Blick auf die konkreten Zahlen rückt dieses von der Lega propagierte Zerrbild zurecht. Wurden 2016 noch 181.000 Migranten an Italiens Küsten registriert, so sank diese Zahl 2017 auf 119.000 und im folgenden Jahr noch viel drastischer auf 23.000 - ein unbestrittenes Verdienst des damaligen Innenministers Marco Minniti, zumal die Regierung Conte erst im Sommer 2018 vereidigt wurde. In diesem Jahr dürfte sich die Zahl nochmals halbieren.
Unter Matteo Salvini als dessen Nachfolger begann das tägliche Tauziehen um jedes einzelne Rettungsschiff, die Abschottung der italienischen Hoheitsgewässer, die Kraftproben mit der Justiz, die auf die Einhaltung der verfassungsmässigen Grundrechte pochte. Geldbussen bis zu 50.000 Euro und die Beschlagnahmung der Schiffe sollten die Rettungsorganisationen abschrecken. Ob Sea watch, life line, Open arms oder Sea eye - jeden Tag sollte die eiserne Faust vor italienischen Häfen den Eindruck erwecken, die Halbinsel werde regelrecht belagert.
Kein Wort verlor Salvini dagegen während seiner Regierungszeit über die sbarchi fantasma, die weitgehend unbemerkte Einwanderung auf kleinen Schiffen. Davon betroffen sind die Südküsten Siziliens und Sardiniens, die aus Tunesien und Algerien angepeilt werden sowie Kalabrien und Apulien, die von Motor- oder Segelbooten aus der Türkei angesteuert werden. Während die Italiener im Fernsehen das Schicksal der 42 Migranten an Bord der Sea watch 3 verfolgten, gelangten fast 1000 Einwanderer ungestört an die Küsten Süditaliens.
Die Immigrationshysterie ist eine vom Lega-Chef gespeiste Propaganda
Allein im Juni seien 26 solcher Boote auf der Insel gelandet, versichert Lampedusas Bürgermeister Totò Martello. Zusätzlich gibt es noch die rotta balcanica . Im Grenzgebiet zu Slowenien wurde im ersten Halbjahr 2019 insgesamt 782 Personen aufgegriffen. Um das Bild zu vervollständigen, muss auch auf den offiziellen "Migrantentausch" nach dem Dubliner Abkommen verwiesen werden, in dessen Rahmen allein Deutschland im ersten Halbjahr fast 1200 Migranten nach Italien zurückgeschickt hat. Auch das war für Salvini aus verständlichen Gründen kein Thema. 600.000 Abschiebungen illegaler Immigranten pro Jahr hatte Salvini versprochen. Wirklich durchgeführt wurden seit Jahresbeginn 2143 - kaum zwei Dutzend pro Tag.
Italiens drastischer Geburtenrückgang
Doch die Einwanderung nur als unerwünschte Belastung zu betrachten, ist ein folgenschwerer Fehler. Denn ohne Migranten blickt Italien einer düsteren Zukunft entgegen. Ursache dieser bedrohlichen Entwicklung ist der permanente Geburtenrückgang, der im Vorjahr ein neues Rekordtief erreicht hat: 493.000 Geburten stehen 633.000 Todesfälle gegenüber. Der Präsident des staatlichen Statistik-Instituts, Gian Carlo Blangiardo bemüht einen dramatischen Vergleich mit den Jahren des ersten Weltkriegs: "E' una sorta di massiccia recessione demografica, un vero e proprio calo numerico, di cui si ha memoria solo risalendo al biennio 1917-1918, segnato dalla grande guerra e dai successivi effetti dell' epidemia spagnola".
Auf 493.000 Geburten kommen 633.000 Todesfälle: erstmals seit der Einigung Italiens im Jahre 1861 ist die Zahl der Geburten mit 485.000 auf weniger als eine halbe Million gesunken. 15.000 Italiener sind über 100 Jahre alt, 2,2 Millionen über 85. Blangiardo: " In 4 anni è scomparsa una città come Palermo". Die Einwanderung dämpft diese folgenschwere Entwicklung. Ausländische Arbeitnehmer überweisen jährlich acht Milliarden Euro an das Sozialfürsorge-Institut INPS und tragen entscheidend dazu bei, es vor dem Konkurs zu bewahren. Nach einer jüngsten OSZE-Hochrechnung wird es in Italien bereits in 30 Jahren mehr Rentner als Beschäftigte geben.
Nicht die Immigration bedroht Italiens Zukunft, sondern eher das umgekehrte Phänomen: jährlich wandern über 200.000 Italiener in andere EU-Staaten aus. Sie sind gut ausgebildet - viele sind Ärzte oder Ingenieure - und werden im Ausland mit offenen Armen empfangen. Dort können Mediziner etwa ihre Facharztausbildung im Krankenhaus absolvieren und damit den italienischen numerus clausus umgehen.
Hauptziele dieser 25-34-Jährigen Italiener sind Deutschland, Grossbritannien, Österreich, Holland und Belgien. Für die Wirtschaftszeitung Il sole 24 ore ein Alarmsignal: "Oltre 250.000 italiani emigrano all'estero, quasi quanti nel dopoguerra. Quasi tutti sono giovani con un livello di istruzione superiore." Italien bleibt, was es immer war - ein Emigrationsland.
Ausländische Arbeitnehmer überweisen jährlich acht Milliarden Euro an das Sozialfürsorge-Institut INPS und tragen entscheidend dazu bei, es vor dem Konkurs zu bewahren.
Fazit: Italien wird keineswegs - wie es die Lega-Propaganda täglich darstellt - von einer bedrohlichen Immigrantenflut überschwemmt. Das Land ist auf diesem Gebiet vom EU-Spitzenfeld weit entfernt. Der Ausländeranteil der Halbinsel ist mit acht Prozent vergleichsweise niedrig und beträgt die Hälfte des Nachbarlands Österreich. Spitzenreiter ist Luxemburg mit 48 %.