Vor etwa zehn Tagen saß ich in einem Café in der Sonne, als eine Frau hinter mir offenbar eine quasi-religiöse Erfahrung hatte. „Und? Und? Wos hot er gmocht?“, flehte sie inbrünstig die Bedienung an, die murmelnd Auskunft gab, die ich nicht verstand, die der Frau aber hörbar zu noch größerer Verzückung verhalf: „Na, echt? NA, ECHT? Wahn-sinn. WAHN-SINN! Er schlog sie olle. OLLE!“ Dass es nicht um den Barista und die Art, wie er ihren Cappuccino zubereitet hatte, ging, und auch nicht um einen prügelnden Freund der Kellnerin, erschloss sich mir erst, als ein Herr am Nebentisch in den Lobgesang miteinstimmte: „Jo, der Sinner, gell. Der g‘winnt ins olls!“
„Wir alle sind SINNER!“ schrieb ein Mitglied der Landesregierung kürzlich auf Facebook, und darunter ergingen sich Menschen in liebestollen Kommentaren.
Ja, ich war etwas enttäuscht. Da hatte ich auf Dorftratsch gehofft, auf einen Skandal, auf verbotene Substanzen im Kaffee, und dabei ging es „nur“ um Sport. Bumm Bumm, Ball über Netz und so. Ich habe keine Ahnung von Tennis, falls Sie noch Zweifel haben. Und kann mich auch sonst nicht sonderlich erwärmen für Sportübertragungen. Fußball geht gerade noch, 1990 weinte ich sogar, in die Trikolore eingehüllt, Rotz und Wasser. Aber sonst? Bei Formel 1 bekomme ich nervöse Zuckungen, bei Skirennen löst schon das Kuhglockengeläut im Publikum einen Fluchtreflex aus, bei Tennis verfalle ich in eine Art Schockstarre. Nicht aus Faszination, sondern aus Langeweile. Ich meine, Menschen fahren im Kreis, Menschen fahren auf zwei Brettln einen Hang hinunter, Menschen schlagen einen kleinen gelben Ball hin und her. Immer und immer wieder. Schimpfen Sie mich Banausin, aber ich sehe da weder einen gesellschaftlichen noch ästhetischen Mehrwert, und spannend finde ich es auch nicht, weil mir total egal ist, wer da gewinnt. Ob Südtiroler/in oder nicht, egal. Gewinnen wird sowieso überschätzt, behaupte ich mal. Aber dazu später mehr, zurück zum Objekt der Verzückung, zurück zu Sinner, der ja eher wie ein Saint gefeiert wird.
... So, wie wir alle Alex Schwazer waren, als er in Peking Olympiagold holte. Oh, was waren wir Schwazer!
Ich gönne es ihm ja; ja, nicht nur das Ich freue mich auch ein bisschen für ihn. Er wirkt sympathisch, natürlich, er hat sicher hart gearbeitet für seinen Erfolg, es ist schön, dass es ihm aufgeht. Aber dann langt es auch. Ich drehe nicht durch, weil er „ins olls g’winnt“ (wer auch immer dieses „ins“ sein soll, „ins Busfohrer“, „ins Wassermänner“, „ins Inhaber eines Magengeschwürs“?), ich fühle nicht den Drang, ihm meine Glückwünsche zu übermitteln, ich platze auch nicht, wenn ich nicht mit meinem Umfeld über ihn reden kann. „Wir alle sind SINNER!“ schrieb ein Mitglied der Landesregierung kürzlich auf Facebook, und darunter ergingen sich Menschen in liebestollen Kommentaren. Ich wäre sehr stolz, wenn mein Mann Wimbledon gewinnt, aber er spielt kein Tennis, und das ist nicht der einzige Punkt, der es eher unwahrscheinlich macht, aber stolz auf Sinner kann ich nicht sein, weil er mit mir persönlich nichts zu tun hat. Ich habe ihn, zu seinem Glück, nicht gecoacht, ich habe ihn nie getroffen, ich teile mit ihm wenig mehr als meine Herkunftsprovinz. Aber das scheint den meisten Menschen schon zu genügen, um sich anerkennend auf die eigene Brust zu klopfen: Hach, uaner von ins!, als habe man auch nur den geringsten Anteil an seinem Erfolg. Haben wir nicht.
Wir sonnen uns nur darin, wachsen ein paar Zentimeter, weil zwei(!) Südtiroler in der ATP-Weltrangliste aufscheinen, dabei sind wir doch so ein kleines Land, das muss doch was bedeuten. Ja, muss es. Dass es ein bisschen traurig ist, dass wir uns auf den Schultern der lokalen Sporttalente erhöhen müssen. Weil, wenn wir ehrlich sind, stemmen wir sie nur so lange stolz wie den Davis Cup in die Höhe (ok, habe ihn mir gerade angesehen, das schafft ein Normalsterblicher gar nicht), so lange sie ohnehin dort sind. Sobald die Siegesserie verebbt, sobald es etwas abwärts geht, wenden wir uns anderen zu, die „ins“ zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen. Dominik Paris hatte eine fantastische Saison, aber wehe, es hätte nicht für die kleine Kristallkugel gereicht. Manfred Mölgg wurde letztes Jahr von einem Medium unter der medialen Wahrnehmungsgrenze gar der Rücktritt nahegelegt. Ein Patrick Thaler, der zwanzig Jahre lang stabil im Weltcup mitfuhr, aber dabei „nicht mehr“ als drei Podestplätze aufweisen konnte, wurde stets mehr belächelt als respektiert. Weil es ein Entweder-Oder ist im Sport. Wer nicht gewinnt, hat schon verloren. Konstanz, Durchhaltevermögen, Disziplin interessieren wenig, wenn am Ende nicht ein Platz auf dem Stockerl herausschaut. Ganz egal, welche Leistung man dafür auch aufgebracht haben mag. Dann sitzen wir faul auf dem Sofa und wissen: „Der bringt’s auch nimmer.“ Wenn hingegen im Kopfstand „Another one bites the dust“-Rülpsen olympisch wäre, und ein Südtiroler darin Champion, wir flippten aus. Hauptsache, vorne mit dabei.
Menschen fahren im Kreis, Menschen fahren auf zwei Brettln einen Hang hinunter, Menschen schlagen einen kleinen gelben Ball hin und her. Schimpfen Sie mich Banausin, aber ich sehe da weder einen gesellschaftlichen noch ästhetischen Mehrwert.
Was hat mich doch diese Marcel-Hirscher-Mania angeekelt: Die Siegesmaschine am laufenden Band, die sich zunehmend nicht mehr so wirklich über seine Erfolge freuen konnte. Klar, sie waren zur Pflicht geworden. Wer achtmal in Folge den Weltcup gewinnt, der kann eigentlich nicht mehr siegen, der muss bestätigen. Von Presse und Landsleuten mit Supermann-Status versehen, sah Hirscher sich selbst wohltuend nüchtern: "Nur weil ich Skifahrer bin, bin ich nichts Besseres. Viele Menschen leisten Großartiges, egal in welchem Bereich. Ich kann halt gut Skifahren." Welcher Druck auf ihn lastete, welche Befreiung sein Abschied vom Wettkampf neben aller Wehmut gewesen sein muss, lässt sich dadurch erahnen, wie er 2018 eine Verletzung kommentierte: "Durch die Verletzung gibt es neue Erwartungen, endlich normale Erwartungen. Es gibt wieder die Möglichkeit, dass es einen Erfolg gibt, der nicht selbstverständlich ist. Ich darf einmal Dreißigster werden. Nicht dass ich’s will, aber ich darf." Eine Verletzung als Chance. Puh.
Weil es ein Entweder-Oder ist im Sport. Wer nicht gewinnt, hat schon verloren.
Wir alle sind Sinner: Ich werde beizeiten dran erinnern, wenn’s mal nicht mehr ganz so glatt gehen sollte, was ich dem jungen Mann natürlich nicht wünsche. Was aber auch keine Katastrophe wäre, weil er ja weiterhin auf die enthusiastische Unterstützung seiner zur Zeit sehr zahlreichen Fans zählen können wird, nicht wahr? So, wie wir alle Alex Schwazer waren, als er in Peking Olympiagold holte. Oh, was waren wir Schwazer! Dann waren wir‘s ein bisschen weniger, als diese blöde Dopingsache kam, dann kam die zweite Dopingsache, mah, da wurde es vielen zu kompliziert, und jetzt, wo er seinen Namen reinwaschen will und ein Comeback anpeilt, da lachen wir ein bisschen, der alte Sack, machen in den Online-Foren Witze über seine Ausscheidungen und schauen lieber dem Sinner beim Gewinnen zu. Wer unsere Unterstützung wohl nötiger hat? Aber darum geht es ja nicht. In guten wie in schlechten Zeiten heißt es schließlich nur in der Kirche – und Sie kennen die Überschrift.