Politik | Reportage

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Ein Tag voller Symbolik, Worten und Gesten, Erinnerung und Mahnung. Was hinterlassen Sergio Mattarella und Alexander Van der Bellen nach ihrem Besuch in Südtirol?
Mattarella, Van der Bellen 2019
Foto: G.News

Es ist ein Tag des Wartens. Seit über einer halben Stunde steht der Knabenchor des Vinzentinum bereits bereit. Das ein oder andere Gähnen verrät: Im Rittersaal von Schloss Tirol mangelt es an Sauerstoff. Die ernsten Mienen der Chorknaben haben sich nach und nach entspannt – da wird es hektisch. Durch die enge Saaltür, die am Ende der steilen Steintreppe liegt und über die schon eine Stunde zuvor die geladenen Gäste den Rittersaal betreten haben, schreiten Sergio Mattarella und Alexander Van der Bellen. Ihnen voraus geht Arno Kompatscher.

Der Knabenchor darf endlich – schon recht verbrauchte – Luft holen und anstimmen. Die österreichische Bundeshymne, gefolgt vom Inno di Mameli tönt hochlagig aus den jungen Kehlen. Es ist nicht ihr letzter Auftritt. Am Ende des Festaktes werden sie noch die Ode an die Freude singen, in allen drei Landessprachen.

Das Protokoll sieht vor, dass der Landeshauptmann den Festakt eröffnet. Italiens und Österreichs Staatsoberhäupter sind am Samstag nach Schloss Tirol gekommen, um 100 Jahre Anschluss Südtirols an Italien und 50 Jahre Paketabsegnung zu gedenken.

 

Es sei “nicht ganz einfach” gewesen, Staatspräsident Mattarella in dieser “schwierigen politischen Situation – geschuldet auch den ständigen Provokationen” zu überzeugen, gerade in die Stammburg der Grafen von Tirol zu kommen. Das gesteht Arno Kompatscher am Rande der Veranstaltung. Dass der Präsident eingewilligt hat, sei auch seiner “Weitsichtigkeit und Weitherzigkeit” zu verdanken. Dass Mattarella im Anschluss gemeinsam mit seinem österreichischen Amtskollegen den Ansitz Stillendorf in Bozen besuchen will, den Gedenkort für das erste Opfer der Faschisten in Südtirol – der Marlinger Lehrer Franz Innerhofer wurde dort am 24. April 1921 von Faschisten erschossen –, wertet der Landeshauptmann als klaren Beweis, “dass sich der heutige Staat der dunklen Kapitel der Geschichte bewusst ist”.

 

In seiner Ansprache, in er zunächst die beiden Staatspräsidenten gebührend begrüßt – die Anwesenheit der Oberhäupter der zwei Unterzeichnerstaaten des Pariser Vertrages sei eine “große Ehre” und ein “wichtiges Zeichen” –, zeichnet Arno Kompatscher die schwierigen, leidvollen und konfliktgeladenen Jahrzehnte nach 1919 nach: Annexion, Faschismus, Option, Nationalsozialismus, Erstes Autonomiestatut, Los von Trient, Feuernacht, Bombenjahre, Paket, Zweites Autonomiestatut, Streitbeilegung. “Südtirol steht heute kulturell und wirtschaftlich gut da” – dank der in einem beharrlich und weitsichtigen Prozess ausverhandelten Autonomie, die “nicht vom Himmel gefallen” sei, betont Kompatscher. Nun gelte es, sie weiterzuentwickeln, den “neuen Anforderungen und Bedürfnissen” anzupassen – im Einvernehmen zwischen Bozen, Rom und Wien.

Es sind keine neuen Worte, die der Landeshauptmann an diesem Samstag wählt. Er spricht von Südtirol als “Heimat”, “Brücke”, “kleines Europa in Europa”, vom “Mehrwert der Vielfalt” – und davon, dass das Land aus der Vergangenheit seine Lehren ziehen und zuversichtlich nach vorne blicken möge.

 

Nur einmal schlägt er einen schärferen Ton an, als er zum Frieden und dem Miteinander, das er in Südtirol im Entstehen sieht, meint: “Diese positive Entwicklung wird aber nachhaltig gestört, ja aufs Spiel gesetzt, wenn es immer wieder ein Zündeln und gegenseitiges Provozieren gibt. Wenn derzeit noch nicht gänzlich zur Zufriedenheit gelöste Fragen, wie beispielsweise die Toponomastik oder der Umgang mit Symbolen der belasteten und belastenden Vergangenheit dafür verwendet werden, Trennendes vor das Verbindende zu stellen, Missgunst und Hass zu schüren, Feindbilder zu kreieren und um radikale Justament-Standpunkte zu vertreten, dann haben wir aus unserer Geschichte nichts gelernt. (...) Die Autonomie ist ein gemeinsames Haus, in dem nicht die einen Hausherrn und die anderen bloß Gäste sind. Die große politische Herausforderung, der wir gemeinsam gegenüberstehen und der wir uns zu stellen haben, ist es, Schritte nach menschlichem Maß zu setzen und politische Entscheidungen nachvollziehbar zu machen, ohne dabei dem banalen Populismus Tür und Tor zu öffnen.”

Der anhaltende Applaus, den Arno Kompatscher nach diesen Zeilen erhält, erstickt die Frage nach deren Glaubhaftigkeit – stammen sie doch von einem Landeshauptmann, der mit der Lega “dem banalen Populismus Tür und Tor” zur Landesregierung geöffnet hat.

 

Die Festreden von Sergio Mattarella und Alexander Van der Bellen – die beiden Staatspräsidenten betonen die “ehrliche Freundschaft”, die sie verbindet – laufen nach demselben Drehbuch wie jene von Arno Kompatscher ab: Erinnerung an die Geschichte, Bekenntnis zur Autonomie, Mahnung für das Heute und Morgen – und viel Anerkennung für die Provinz, dem “Alto Adige-Südtirol”, wie Mattarella das Land stets nennt.

Obwohl die 80 aus den Bannern, die Schloss Tirol an diesem Tag schmücken, gestrichen wurden – auf Anweisung des Quirinale, wie es heißt –, erwähnt auch der italienische Staatspräsident die Option von 1939 als einen der “intollerabili attacchi ai diritti individuali e collettivi della minoranza, in un insensato tentativo di sostituzione di popoli nel nome della italianizzazione dei territori” des faschistischen Regimes. “Una politica che si radicò così, nella alleanza tra nazismo e fascismo, e portò alla pulizia etnica: o tedeschi nel Reich o italiani in Italia.” Auch wenn diese Zeiten lange vergangen scheinen, mahnt Mattarella zur Erinnerung an den Faschismus und Nationalsozialismus von damals – als wirksames Mittel gegenpericolosissimi virus sempre pronti a infettare la società”. Ganz in diesem Zeichen stehen auch die weiteren offiziellen Etappen der Staatsoberhäupter später in Bozen.

 

Rund 60 Menschen warten geduldig vor dem Haus in der Wangergasse Nummer 93. Mit einer Stunde Verspätung treffen Mattarella, Van der Bellen und Kompatscher am Nachmittag in der Landeshauptstadt ein. Zuvor haben sie in Meran dem Landesüblichen Empfang der Schützen – samt Ehrensalve, Bergsteigerlied und Schnapsl – beigewohnt und in der Hotelfachschule Savoy zu Mittag gegessen.

Im Ansitz Stillendorf legen beide Staatspräsidenten einen Strauß weißer Blumen unter der Gedenktafel für Franz Innerhofer nieder. Das erste Opfer des Faschismus in Südtirol – gewürdigt durch die Präsidenten zweier Staaten, zwischen denen damals die große Wunde der Teilung Tirols klaffte.

 

Dann geht es gemeinsam in die Reschenstraße, zur neu gestalteten Gedenkstätte für die Insassen des NS-Durchgangslagers. Zwischen Juli 1944 und Mai 1945 wurden dort Juden, Mitglieder von Widerstandsgruppen, Familien von Kriegsdienstverweigerern, Personen in Sippenhaft, aber auch faschistische Dissidenten oder Kollaborateure von den Nazis inhaftiert. In 13 Transporten wurde ein Teil der Insassen in Konzentrationslager gebracht, über 2.000 von ihnen starben.

 

Die beiden Staatsoberhäupter gedenken gemeinsam der Opfer zweier Diktaturen – für den Landeshauptmann “ein wichtiges politisches Zeichen und eine schöne Geste, vollzogen im europäischen Geiste der Versöhnung und Verständigung”.

Zurück in den Rittersaal.

Am Ende seiner fünfzehnminütigen Rede greift Mattarella die Worte seines Vorredners auf: “Nel grande ambito europeo, ciascun popolo sa di rappresentare una minoranza, perché l’Europa nasce composita e la sua forza consiste nel saper unire le diversità (…) Questa Provincia, tutti gli altoatesini-sudtirolesi, di lingua tedesca, italiana, ladina, rappresentano quanto ha auspicato il presidente Kompatscher: una piccola Europa nel cuore dell’Europa.” Mit einem “Grazie, vielen Dank!” überlässt Mattarella Van der Bellen das Mikrofon. Der begrüßt seinen italienischen Amtskollegen in dessen Muttersprache.

Nach einigen Grußworten auf ladinisch erinnert der Bundespräsident an das “unsägliche Leid”, die “sehr, sehr harte und schwierige” Zeit, die Südtirol nach 1919 erlebte. Es freue ihn besonders, 50 Jahre Paketabschluss mit Präsident Mattarella gemeinsam zu feiern – “das ist nicht ganz selbstverständlich alles”, meint Van der Bellen und wirkt dabei einen Moment nachdenklich – bevor er meint: “Dass wir heute beide gemeinsam hier sind – und an der Brust ein Ehrenzeichen des jeweils anderen Staates tragen –, ist der Beleg für die enge, nachbarschaftliche Beziehung zwischen Italien und Österreich heute und der Beweis für eine gute Gesprächsbasis.”

 

Dennoch ist ein weiteres kurzes Zögern bemerkbar, als Van der Bellen meint: “Ich merke, dass ich das heute immer wieder betonen muss: Wir sollten das Gemeinsame vor das Trennende stellen.” Das sei der Geist der Väter der Autonomie gewesen – “gemeinsam ist es gelungen, die zerstörerischen Kräfte des Gegeneinanders zu überwinden und Südtirol zu dem blühenden und friedlichen Land zu machen, das es heute ist” – und nur in diesem Sinne könne auch die Autonomie – gemeinsam – weiterentwickelt und den aktuellen Lebensbedingungen und Bedürfnissen der Menschen im Land angepasst werden – “das bleibt unsere Aufgabe”. “Österreich wird auch in Zukunft an der Seite Südtirols stehen”, verweist der Bundespräsident auf die Schutzfunktion seiner Republik für das Land, das er als “ein ganz besonderes Land, das Österreich und Italien auf besondere Weise verbindet”, bezeichnet.

Südtirol als Bindeglied zwischen Italien, Österreich und Europa – trotz und wegen seiner Geschichte. Dieses Bild malen die beiden Staatspräsidenten und der Landeshauptmann in der knappen Stunde, die der Festakt im Rittersaal von Schloss Tirol dauert. Es ist ein symbolträchtiges Zusammentreffen, an einem symbolträchtigen Tag, an einem symbolträchtigen Ort. Es ist überhaupt ein Besuch voller Symbolik: Gemeinsam wird der Opfer zweier Diktaturen gedacht, in einem Land, das unter beiden gelitten hat, in dem es aber ebenso Täter, Kollaborateure und Mitläufer gab, wie an diesem Tag auch erinnert wird. Und doch wartet man am Ende vergebens. Wer mit einer langlebigeren Hinterlassenschaft der beiden Staatspräsidenten als die weißen Blumen im Ansitz Stillendorf gerechnet hat, wird enttäuscht.

 

Geschickt spannen Mattarella und Van der Bellen – Seite an Seite mit Arno Kompatscher – durch Worte und Gesten den Bogen von der feindseligen Vergangenheit zur respektvollen und freundschaftlichen Gegenwart in den Beziehungen zwischen Italien, Österreich und Südtirol. Doch beide sind äußerst darauf bedacht, ihn nicht zu überspannen. Keine gemeinsame schriftliche Erklärung, kein konkreter Anhaltspunkt, wie die viel gelobte Autonomie weiter entwickelt werden soll, kann, muss. Kein gemeinsames Foto, nicht einmal ein Handschlag vor den rund 150 geladenen Festgäste auf Schloss Tirol. Das alles mag dem Protokoll geschuldet sein. Oder der Kunst der Diplomatie. Doch auf den Beobachter wirkt es, als mangle es an Sauerstoff. Wie im Rittersaal. An Sauerstoff für den langen Atem, der das Land – einst an der Grenze, heute an der Seite von Italien und Österreich – einmal auf seinen Erfolgsweg gebracht hat. Und den Südtirol heute genauso braucht wie früher, um es dort zu halten und voranzubringen.

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Hans Hanser So., 24.11.2019 - 12:26

Südtirol kann sich glücklich schätzen einen so staatsmännisch auftretenden, moderaten und eloquenten Landeshauptmann wie Arno Kompatscher zu haben. Gerade in Zeiten wie diesen ist seine Person als Garant für ein Schlagen von Brücken zu betrachten.
Sicher, die Geschichtsschreibung wird ihm anhaften, mit der menschenverachtenden Lega einen Pakt eingegangen zu sein. Das war ein großer Fehler.
Südtirol ist gut beraten auch in Zukunft auf Machthaber zu setzen, die ausgleichend zwischen den Landsleuten agieren und Ausgrenzungen die rote Karte zeigen. Meines Erachtens ist die Gefahr von deutschsprachigen Separatisten sehr gering, da diese nur eine Randgruppe darstellen. Bei einer solchen Warnung flammt anscheinend das Wahlkampffieber auf und man versucht damit die volkstumspolitisch orientierte Flanke zu schließen bzw. der Opposition die Schuld in die Schuhe zu schieben, dass man mit nationalistisch denkenden Gruppierungen gemeinsame Sache macht.
Größere Gefahr geht von der Ausrichtung der Sammelpartei selbst aus, diese verzeichnet offensichtlich einen gewissen Kurs nach Rechts. Dieser kann sich als politischer Selbstmord offenbaren.

So., 24.11.2019 - 12:26 Permalink