Das Parlament ist derzeit Schauplatz einer massiven Verfälschung der Wahlergebnisse. Knapp eineinhalb Jahre nach der letzten Wahl haben 86 Parlamentarier Partei gewechselt, die letzten – zwei Senatoren der Fünf-Sterne-Bewegung – vor wenigen Tagen. Einer der beiden, der Universitätsprofessor Ugo Grassi, hatte noch vor ein paar Monaten ein Verbot des Parteiwechsels gefordert.
Für Italia Viva sitzen gleich 55 Vertreter einer Partei in Kammer und Senat, die nie auf einem Stimmzettel zu finden war. Das Parlament wandelt sich immer mehr zum Tollhaus der Republik. So wurden etwa zum Haushaltsgesetz über 5.000 Abänderungsanträge eingebracht. Nun wird zum wiederholten Mal ein neues Wahlrecht angepeilt – ein in anderen EU-Staaten unvorstellbarer Vorgang. In Grossbritannien gilt das Wahlrecht seit 1918, in Deutschland seit 1949, in Frankreich seit 1957. Im römischen Parlament liegen dazu 20 Gesetzentwürfe vor.
Italien hat in den letzten Jahren 11 Mal das Wahlrecht gewechselt – ein kaum beneidenswerter Weltrekord.
Die Lega peilt ein Referendum an, mit dem die letzte Spur des Verhältniswahlrechts abgeschafft werden soll - alles im Namen. des Volkes. Der Entwurf liegt bereits im Obersten Gerichtshof, der bis 15. Jänner über dessen Verfassungsmässigkeit entscheiden soll. Salvini macht sich für ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild stark und fordert rasche Neuwahlen.
Indessen wird bereits versucht, die letzthin beschlossene Kürzung der Parlamentarier um ein Drittel rückgängig zu machen. 64 Senatoren – genau das geforderte ein Fünftel – haben eine Volksabstimmung darüber beantragt. Der Trick dabei: setzen sich Lega, Forza Italia und Fratelli d'Italia mit ihrer Forderung nach Neuwahlen durch, würden diese noch nach der alten Regelung durchgeführt – mit fast 1.000 Parlamentariern in Kammer und Senat. Difesa delle poltrone um jeden Preis.
In der Fünf-Sterne-Bewegung rumort es gewaltig, der Widerstand gegen den überforderten Parteichef Luigi Di Maio wächst. Nach Gerüchten sind bis zu 20 M5S-Parlamentarier zum Absprung bereit. In Kammer und Senat brodelt die Gerüchteküche. Jetzt rächt sich die Tatsache, dass die Bewegung Leute wie den ultrarechten TV-Moderator und Euro-Gegner Luigi Paragone auf ihre Liste gesetzt hat – zum Stimmenfang. Der engagierte Unterrichtsminister Lorenzo Fioramonti (M5S)ist am Weihnachtstag zurückgetreten. Der Grund: "Fondi insufficienti per scuola, universitá e ricerca.
Was Italien dagegen dringend benötigen würde, ist eine Beschränkung der Legislaturen für die Parlamentarier. Ein Limit von drei wäre ein vernünftige Lösung, die eine stete Erneuerung gewährleistet. Stattdessen verbringen Italiens Volksvertreter Jahrzehnte im Parlament. Der Christdemokrat Pier Ferdinando Casini etwa sitzt dort seit 37 Jahren, nachdem er vorher bereits dem Gemeinderat von Bologna angehört hatte. Die vorbestraften Lega-Vertreter Umberto Bossi und Roberto Calderoli sitzen seit seit 28 Jahren im Parlament. Lega-Gründer Bossi war sechs Mal Abgeordneter, zwei Mal Senator. Maurizio Gasparri, Ignazio La Russa und Elio Vito bringen es auf 28 Jahre. In der Abwesenheits-Statistik führen die Forza-Italia-Parlamentarier: Michela Brambilla war bei 98 Prozent der Sitzungen abwesend, der vorbestrafte re delle cliniche Antonio Angelucci bei 91 Prozent. Kurz und bündig: eine ehrenwerte Gesellschaft.
Da leuchtet es durchaus ein, dass sich der Senat in diesem Jahr einen Rekord-Weihnachtsurlaub von drei Wochen gönnt.