Politik | Phase 2

Mit Zuckerbrot und Peitsche

Der Landtag genehmigt den “Südtiroler Sonderweg” aus dem Corona-Lockdown. Das Gesetz mit all den Bestimmungen tritt am Freitag Nachmittag in Kraft.
Landtagssitzung Mai 2020
Foto: G.News

Die Sitzung im Landtag am Donnerstag geht an die Substanz. Der Landeshauptmann erläutert minutenlang den falschen Änderungsantrag. Franz Ploner muss die Ausdrucksweise seiner Kollegen korrigieren: “Es heißt nicht sierologische, sondern serologische Tests.”Alessandro Urzì nennt Myriam Atz Tammerle “Tatz Ammerle”. Mehrere Abgeordnete halten den Kopf gesenkt auf ihre Hände gestützt. In den Unterlagen des Landtagspräsidenten fehlen Dokumente. Hektik und Verwirrung nehmen zu.

Am späten Nachmittag haben die 35 Landtagsabgeordneten mehrheitlich beschlossen, das Landesgesetz zum “Südtiroler Sonderweg” aus dem Lockdown in der Nachtsitzung durchzupeitschen. Zu diesem Zeitpunkt ist gerade einmal die Generaldebatte abgeschlossen. Doch das Gesetz soll, wie seit über einer Woche versprochen, am Freitag, 8. Mai unmittelbar nach der Übersetzung des genehmigten Textes, Beurkundung durch den Landeshauptmann und Veröffentlichung im Amtsblatt der Region in Kraft treten. Dazu braucht es eine Zweidrittel-Mehrheit.
Unmittelbar danach darf der Einzelhandel wieder aufsperren – mit verlängerten Öffnungszeiten bis 22 Uhr, sonntags nur mit Ausnahmen – sowie die Produktionstätigkeiten der Industrie, des Handwerks und des Handels wieder anlaufen. Zahlreiche Kaufleute haben die Wiedereröffnung nach fast zwei Monaten Zwangspause bereits vorbereitet – und den Kunden kommuniziert.

Auch Hotels haben ihren (möglichen) Gästen bereits das Datum ihrer Wiedereröffnung mitgeteilt. Nach dem 25. Mai dürfen Beherbergungsbetriebe, ebenso wie Seilbahnanlagen, wieder öffnen. Friseure, Schönheitspfleger, aber auch Museen, Bibliotheken und Jugendzentren können ab 11. Mai wieder aufsperren. Am selben Tag geht es auch für Bars und Restaurants wieder los.

Doch ohne größter Vorsicht kann auch Südtirol – trotz stark gesunkener bzw. stabiler Zahlen bei den Neuinfizierten und Covid-Toten – keine Lockerungen zulassen, wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben wieder ermöglichen. Wie das am besten gelingen kann, darum geht es in der Debatte am Donnerstag im Landtag. Zahlreiche Augen sind auf die 35 Abgeordneten gerichtet.
Um 23 Uhr verfolgen noch über 670 Zuschauer die Wortmeldungen, Schlagabtausche und Abstimmungen, die über den Youtube-Kanal des Landtags gestreamt werden.

 

Mit Zuckerbrot und Peitsche wollen die SVP und ihr Regierungspartner Lega die Südtiroler aus dem Corona-Stillstand führen. Auf der einen Seite gesteht man den Menschen deutlich mehr Freiheiten als in anderen italienischen Regionen zu. Auf der anderen Seite gelten strenge Sicherheits- und Hygieneauflagen, vor allem für Betriebe, die in drei Anlagen und insgesamt 50 Seiten festgehalten sind. “Die Fortführung der Arbeitstätigkeit kann nur unter Bedingungen erfolgen, die ein angemessenes Schutzniveau für die arbeitenden Menschen gewährleisten”, heißt es in den mit den Sozialpartnern vereinbarten Sicherheitsprotokollen. Falls diese Protokolle nicht eingehalten werden, verfügt der Landeshauptmann die Aussetzung der Tätigkeiten für zehn Tage. Zudem sind die Bürgermeister weiter ermächtigt, für ihrer Gemeinde “weitere und restriktivere Maßnahmen” zu treffen.

Generell gilt für alle im Freien und in Gemeinschaftsräumen, einen Sicherheitsabstand von zwei Metern einzuhalten – außer zwischen Menschen, die im selben Haushalt zusammenleben. Ab einem Abstand von weniger als zwei Metern müssen Erwachsene und Kinder ab sechs Jahren einen Mund-Nasen-Schutz verwenden, der ohnehin immer mitgeführt werden muss, wenn die Möglichkeit besteht, auf andere zu treffen. Auf dem gesamten Landesgebiet darf man sich ohne Eigenerklärung frei bewegen, mit dem Privatauto, Zug oder Bus. Individualsport ist erlaubt, auch das Schwimmen in Badeseen, Mannschaftssport nicht.

Menschenansammlungen müssen vermieden werden, öffentliche Events oder Veranstaltungen bleiben für die gesamte Dauer des Notstandes verboten. Allerdings kann der Landeshauptmann per Verordnung Ausnahmen zulassen. Für die so erlaubten Veranstaltungen gilt das Kontaktverbot zwischen den Besuchern und die die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften.

Ab 18. Mai können Kindergärten und Grundschulen bis Ende des Schuljahrs einen Notdienst einrichten. Die Modalitäten für diesen Dienst legt die Landesregierung per Beschluss fest. Die Kleinkinderbetreuung ist ebenfalls ab 18. Mai möglich – mit strengen Vorgaben. Bei der Zulassung zu den Initiativen wird jenen Kindern der Vorzug gewährt, deren Eltern arbeitsbedingt die Betreuung der eigenen Kinder nicht gewährleisten können.

Über allem wacht eine Expertenkommission, die laut Gesetz “ein konstantes Monitoring des Verlaufs der Infektionskurve” vornimmt und dem Landeshauptmann das Ergreifen von geeigneten Maßnahmen vorschlägt, “falls die Anzahl dieser Infektionen wieder zunimmt oder sich eine Tendenz abzeichnet, die auf eine wahrscheinliche Überschreitung der Kapazitätsgrenzen des Gesundheits- und Pflegesystems zusteuert”.

 

“Wir haben einen Weg gefunden, der im Rest des Staatsgebiets seit Wochen angekündigt wurde, aber nicht vom Fleck kommt. Mit diesem Gesetz versuchen wir, das, was in den vergangenen Wochen an Spaltung stattgefunden hat, wieder zusammenzuführen. Es ist ein guter Mittelweg, der uns noch immer sicher in die Zukunft geführt hat.” Arno Kompatscher weiß, dass trotzdem viele Menschen enttäuscht sein werden. Die einen, weil sie die Lockerungen als vorschnell empfinden und weiterhin mehr Sicherheit verlangen. Die anderen, weil die Öffnungen nicht weit genug gehen und die Auflagen für viele Wirtschaftstreibende äußerst schwer einzuhalten sein werden.

Doch für den Landeshauptmann gilt die Devise: Einen Schritt nach dem anderen machen, um ja nicht wieder zurückzufallen. Kompatscher versichert: Gewisse Bereiche können per Verordnung nachgebessert werden – falls es die Umstände erlauben. In den Stimmabgabeerklärungen von Opposition und Mehrheit, die kurz nach Mitternacht beginnen, zeigt sich eine ungewohnte Demut. Niemand verfällt in großen Jubel, niemand übt harsche Kritik. Es überwiegt das Wissen, dass Land und Leuten noch harte Zeiten bevorstehen und der Weg in die Zukunft nur gemeinsam beschritten werden kann, um möglichst niemanden zurückzulassen.

Die Abstimmung über das Gesetz erfolgt um 00.42 Uhr. Mit 28 Ja (SVP, Lega, Team K, Freiheitliche, Carlo Vettori, Sven Knoll), 1 Nein (Urzì) und 6 Enthaltungen (Grüne, Atz Tammerle, Sandro Repetto, Diego Nicolini) ist die notwendige Zweidrittel-Mehrheit mehr als erreicht, damit das genehmigte Gesetz (hier der vollständige Text) umgehend den geplanten Weg gehen kann. Nachdem die Verwaltungsarbeiten abgeschlossen sind und das Gesetz seinen Weg ins Amtsblatt der Region gefunden haben wird, tritt es in Kraft. “Vermutlich am späten Freitag Nachmittag” werde es so weit sein, kündigt Landeshauptmann Kompatscher an. Und schließt mit einem Appell an alle im Saal: “Wir müssen dafür sorgen, dass wieder Zuversicht einkehrt.”