Mit der zehntägigen Marathonveranstaltung der stati generali kann Giuseppe Conte nur bedingt zufrieden sein. Er hat seinen Willen zum Dialog bewiesen - zum Unterschied von jenen, die ihn täglich fordern, aber nicht praktizieren. Lega-Chef Matteo Salvini und seine rechte Mitkämpferin Giorgia Meloni boykottierten die Veranstaltung, die sie als "Laufsteg" verspotteten. Der neue Confindustria-Chef Carlo Bonomi, ein Hardliner, der vor allem durch Selbstgefälligkeit glänzt, kanzelte den Premier ab wie einen Schulbuben. In 10 Tagen hörte Conte alle an: Musiker, Bauern, Unternehmer, Tierschützer, Umweltverbände, Behinderten-Organisationen, Post und Eisenbahn, Kraftwerkbetreiber, Universitäts-Vertreter und Hoteliers. Krönen will er seinen Kraftakt nun mit einem Gespräch mit den Parteichefs von Lega und Fratelli d`Italia im Chigi-Palast. Der Vorwurf der beiden, vom Regierungschef ignoriert zu werden, ist damit vom Tisch.
Mit sich selbst könnte der Premier eigentlich zufrieden sein. In einem durchaus schwierigen Jahr hat das Vertrauen in seine Person um 5,5 Prozent zugenommen. Mit 43,4 Prozent liegt er klar vor Matteo Salvini, der über 12 Punkte eingebüsst hat. Die grössten Probleme des Regierungschefs liegen jedoch in seiner eigenen Koalition. In der Fünf-Sterne-Bewegung knistert es, im Senat schmilzt die zur Fortsetzung der Regierungsarbeit unentbehrliche Mehrheit. 12 Senatoren haben die Bewegung verlassen. In den Abstimmungen ist Conte auf Renzis Kleinpartei Italia Viva angewiesen, die ihn nach Belieben erpressen kann. Bei den Grillini herrscht Eiszeit zwischen Beppe Grillo und Davide Casaleggio, dem weitgehend isolierten Sohn des Mitbegründers. Die Bewegung soll in Zukunft nicht mehr von einem Vorsitzenden, sondern einem Team geführt werden. Bei den im September fälligen Regional- und Gemeindewahlen droht dem zerstrittenen M5S eine empfindliche Niederlage. Wie sehr sich dessen Parlamentarier freilich an die Macht gewöhnt haben, zeigt die immer lautere Forderung nach Abschaffung der geltenden Höchstgrenze von zwei Legislaturen. Bleibt diese als Grundsatz gepriesene Regel aufrecht, könnten viele Spitzenvertreter wie Luigi Di Maio, Vito Crimi, Roberto Fico, Paola Taverna, Alfonso Bonafede, Riccardo Fraccaro und Danilo Toninelli nicht mehr kandidieren.
Etlichen Parlamentariern, die ihre Pflichtbeiträge im Rahmen der rendicontazione nicht bezahlt haben, droht nun der Ausschluss. Das Schiedsgericht will keine Gnade Nachsicht mehr walten lassen. Die Kehrseite: jeder Rauswurf macht die Lage im Senat, wo die Mehrheit der Regierungskoalition hauchdünn ist, noch problematischer. In der gemischten Fraktion hat sich mittlerweile eine eigene Gruppe gebildet, die sich alternativa popolare nennt und die für weitere heimatlose Grillini zum Anlaufpunkt werden könnte.
Dazu kommt, dass sich die Regierungsparteien PD und M5S in vielen wichtigen Fragen nicht einig sind - etwa über die Neuvergabe der Autobahnlizenzen, die Zukunft des Stahlwerks in Taranto, über die Abschaffung von Salvinis decreti di sicurezza, über die Verlängerung der italienischen Militäreinsätze im Ausland und über den EU-Währungsfonds EMS, der vielen Grillini ein Dorn im Auge ist. Beim jüngsten Vertrauensvotum im Senat über den election day blieb die Regierung sogar unter der absoluten Mehrheit - im Vertrauen darauf, dass die Opposition das Votum boykottiert. Etliche bereits abgereiste Parlamentarier wie die SVP-Vertreter Steger und Durnwalder mussten eilends nach Rom zurückkehren, um eine Niederlage der Regierung zu vermeiden.
Lange kann dieses Spiel kaum so weitergehen. Auch im Partito Democratico herrscht wachsende Unzufriedenheit mit der Koalition. Nach Gerüchten peilt Conte vorgezogene Neuwahlen im Frühjahr nächsten Jahres an. Bis dahin könnte er freilich die Mehrheit im Senat längst verloren haben. In den Reihen des Partito Democratico argwöhnt man dagegen, der Regierungschef könnte Dank seiner Popularität eine neue Partei aus der Taufe heben. Es darf jedoch angenommen werden, dass Giuseppe Conte mit seiner Aufgabe, Italien aus der Pandemie zu führen und deren schwerwiegende Folgen zu lindern, genug zu tun hat.
Das Grundproblem: in Italien entscheiden nicht die Wahlen über die Zusammensetzung des Parlaments, sondern das Heer der Überläufer.
Obwohl im Senat diese Unsitte durch eine Änderung der Geschäftsordnung erschwert wurde, haben seit der Wahl vor zwei Jahren 109 Parlamentarier Partei gewechselt und damit das Wahlergebnis verfälscht. Die Zahl wird demnächst im Lager der Fünf-Sterne weiter zunehmen. Und Giuseppe Conte endgültig zum Seiltänzer verdammen..