Politik | Referendum

Das Parlament kann nur besser werden

Das italienische Parlament kann nur besser werden: mit einem bürgerfreundlicherem Wahlrecht, mit einer echten Regionenkammer, und eben auch mit weniger Parlamentariern.
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Das für Italien vierte bestätigende Referendum zu einer Verfassungsänderung – nach 2001, 2006 und 2016 – befasst sich mit einem recht punktuellen Eingriff im Vergleich zum umfassenden Anspruch der Reform der Regierung Renzi von 2016. Die Verkleinerung des Parlaments hatte damals auch Renzi im Programm, doch gemischt mit lauter ungenießbaren Hauptzutaten einer zentralistischen und demokratiefeindlichen Gegenreform. Seit 1983 hat es im Parlament 7 Versuche gegeben, die Zahl der Parlamentarier zu senken. Diesmal könnte es klappen, trotz der improvisierten Gegner, denn im Parlament selbst waren 733 Leute für diese Kürzung und nur 64 dagegen.

Geht diese Reform durch, werden 345 schwer bezahlte Parlamentarierposten gestrichen und der Staat erspart sich brutto 82 Mio. Euro im Jahr. Gemessen an den Gesamtkosten der „classe politica“ Italiens nicht gerade viel, nur 5,5% der Gesamtkosten des Parlaments. Immerhin hat Italien doppelt so viele Parlamentarier pro 100.000 Einwohner als Deutschland. Derzeit liegt es in der EU an 22. Stelle in der „Parlamentarierdichte“, weil die vielen kleineren Staaten in der Regel ein proportional zur Wählerzahl größeres Parlament haben.

Verengt man die Wirkung dieser Verschlankung des Parlaments auf die finanzielle Einsparung, wäre die Reform zu bescheiden. Ein kleineres Parlament kann aber durchaus leistungsfähiger sein. Das Problem des heutigen Parlaments ist nicht die fehlende Produktivität in Form der Zahl verabschiedeter Gesetze, denn es produziert eher zu viele und mit zu geringer Qualität und Verständlichkeit. Was in anderen EU-Ländern kleinere Parlamente mit effizienter Arbeitsweise besser schaffen, könnte auch in Italien drin sein. Andererseits läuft die Gesetzgebung immer mehr am Parlament vorbei, das vor allem Dringlichkeitsdekrete der Regierung durchzuwinken hat, die zu oft mit der Vertrauensfrage verknüpft werden. Wenn das Parlament seiner legislativen Kernaufgabe schleichend beraubt wird, spielt die Zahl der Parlamentarier eine Nebenrolle.

Freilich hätte dem politischen System Italiens eine andere Reform gut getan, nämlich die Stärkung der Regionen durch mehr Befugnisse und Ressourcen. Dann wäre es auch gerechtfertigt, die schon lange angedachte „Kammer der Regionen“ als eine Art Bundesrat ins Leben zu rufen. Sie könnte den Senat und damit das perfekte Zweikammersystem ablösen. Damit würde Italien einen noch wichtigeren Schritt zur Europäisierung seines Parlaments tun, denn alle größeren EU-Staaten haben eine solche Länderkammer.

Aus demokratischer Perspektive werden Bedenken geäußert, dass ein verkleinertes Parlament die Wählerschaft Italiens nicht mehr so genau abbilden könnte wie eben 945 Parlamentarier und damit die Qualität der Vertretung leide. Einige kleinere Parteien befürchten nicht zu Unrecht, dass bei einem Parlament mit 600 Mitgliedern für sie kein Platz mehr bleibe. Doch zum einen hängt dies ganz vom Wahlrecht ab, das jetzt auch zur Disposition steht. Zum anderen ist die demokratische Qualität der Vertretung nicht proportional zur Zahl der Parlamentarier, ansonsten müssten Tausende im Parlament sitzen. Sie hängt vielmehr davon ab, ob die gewählten Parteien tatsächlich umsetzen, was sie propagiert haben, und ob die gewählten Vertreter dafür einstehen, was sie bei der Wahl versprochen haben, und wie seriös und gemeinwohlorientiert die Vertreter an der Lösung der politischen Probleme arbeiten.

Die direkte Demokratie und zwar eine Volksinitiative wäre das geeignete Instrument, ein neues bürger- und wählerfreundlicheres Wahlrecht einzuführen. Doch dieses Bürgerrecht gibt es in Italien immer noch nicht. Ein Wahlrecht ist gefordert, das die Übermacht der Parteien bricht und den Bürgern das Grundrecht zurückgibt, die politischen Vertreterinnen mit Vorzugsstimme selbst auszuwählen. Diese werden nach geltenden Wahlrecht zum größten Teil von den Parteizentralen vorgeben, während die Vorzugstimmen so gut wie abgeschafft sind. Die echte Volksinitiative mit Volksabstimmung (proposta di legge di iniziativa popolare con diritto al referendum) war Teil des Koalitionsvertrags von Lega und M5S, ist aber nicht eingeführt worden. Damit hätten wir Bürger selbst das Recht, ein demokratischeres Wahlrecht vorzuschlagen und eventuell die Verfassung so abzuändern, dass statt dem perfekten Zweikammer-System eine Regionenkammer den Senat ersetzt. Keine Partei, die jetzt lautstark fürs NEIN eintritt, um die Qualität der Vertretung zu wahren, hat sich je für die Stärkung der direkten Demokratie stark gemacht. Also geht es doch wieder nur um gut entlohnte Posten.

Fazit: das italienische Parlament kann nur besser werden: mit einem bürgerfreundlicherem Wahlrecht, mit mehr Rechten des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren, mit einer echten Regionenkammer, und eben auch mit weniger Parlamentariern. Aufschlussreich und gut gemacht, das von Leonello Zaquini gestaltete „Abstimmungsheft“, eine Hilfe für den Bürger, die der italienische Staat bis heute nicht herzustellen imstande war.

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gorgias Di., 15.09.2020 - 22:30

>Damit hätten nämlich die Bürger selbst das Recht, ein demokratischeres Wahlrecht vorzuschlagen und auch die Verfassung so abzuändern, dass statt dem perfekten Zweikammer-System eine Regionenkammer den Senat ersetzt.<

Oder das Verbot vom Neubau von Minaretten einzuführen.

Di., 15.09.2020 - 22:30 Permalink
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Martin Daniel Mi., 16.09.2020 - 20:16

Jetzt Nein zu sagen zur Verkleinerung des Parlaments, würde alle weiteren Änderungsbestrebungen für das nächste Jahrzehnt lahmlegen. Wiederholt versandeten Verfassungsreformen, weil im Reformpaket Punkte enthalten waren, die politischen Kräften zuwider oder der Mehrheit der Bevölkerung aus verschiedensten Gründen nicht zu vermitteln waren. Das reicht von den Justizreformwünschen eines Silvio Berlusconi, die in die Verfassungsreform der D'Alema-Kommission in den 90ern einfließen sollten, bis zur Stärkung der Regierung gegenüber dem Parlament im Renzi-Reformvorschlag. Die aktuelle Verfassungsreform, die laut Francesco Palermo angesichts der bulgarischen Mehrheit, mit der sie in der 2. Lesung vor allem in der Kammer beschlossen wurde, nie hätte einem Referendum unterworfen werden dürfen, wurde bewusst auf einen einzigen Aspekt beschränkt, um wenigsten diesen - die wiederholt angestrebte Verkleinerung der beiden Kammern - endlich durchzubringen.
Die Überwindung des perfekten Zweikammernsystems war und bleibt das dringlichste Reformanliegen und ist nach erfolgreicher Abhaltung dieser Volksabstimmung gemeinsam mit der Anpassung des Wahlrechts anzugehen. Ein solches Vorhaben könnte wünschenswerterweise, frei vom Hemmschuh der Reduzierung der Posten derjeniger, die die Entscheidung zu treffen haben, sachlich und systematisch durchdacht relativ zügig durchgezogen werden. Italien braucht dringend handlungsfähige Institutionen, die den Staat gegen Widerstände verschiedenster Art modernisieren, endlich eine Steigerung der letargischen Produktivität erreichen, die Staatsausgaben und die Verschuldung in den Griff kriegen und die ökologische Konversion der Volkswirtschaft einleiten. Das jetzige System bietet dafür zu viele Ausbremsmöglichkeiten und ein Nein beim Referendum würde den Profiteuren des Status Quo in die Hände spielen.

Mi., 16.09.2020 - 20:16 Permalink