„Großdeutschland ruft!“
Aufsehenerregende nationalsozialistische Bildfunde – echte Kondensate des völkischen Denkens – gewähren einen neuen Blick auf das Südtiroler Optionsgeschehen und zwingen zu einem Perspektivenwechsel. Südtiroler und Südtirolerinnen waren nicht nur passive Opfer, sondern auch willige Akteure der kollektiven Umsiedlungsereignisse. Die von den beiden faschistischen Diktatoren Mussolini und Hitler anvisierte Aussiedlung eines Großteils der nicht-italienischsprachigen Südtiroler Bevölkerung ist bisher vor allem unter klassischen historischen Gesichtspunkten betrachtet worden und gut erforscht. Das nunmehr publizierte Propagandamaterial legt hingegen die psychosozialen und ethnozentrischen Dispositionen frei, die der kollektiven Migrationsbereitschaft wesentlich zugrundelagen. Zu ihrem Kern gehören die autoritäre Persönlichkeit, der unbedingte Führerglaube und die konformistische Bereitschaft zur ideologischen Gleichschaltung. Das Bildmaterial wurde teilweise von Südtiroler Künstlern angefertigt und von einem Südtiroler Mitglied der Waffen-SS redigiert. Bislang dominierende Sichtweisen, die auf die Viktimisierung der Südtiroler Optanten abstellen, sind daher um zentrale Aspekte von Beteiligung und Mitverantwortung zu ergänzen.
Die Propaganda für die Option der Südtiroler Bevölkerung zugunsten des nationalsozialistischen Deutschlands um die Jahreswende 1939/40 wurde zumeist verbal transportiert. Sie erfolgte durch (halb-)öffentliche Reden, private Überzeugungsgespräche und propagandistische Flugzettel, mit Slogans und markigen Parolen, um auf diese Weise breite Überzeugungskraft zu entfalten. Auch rituelle Elemente wie Aufmärsche, Treueschwüre und gemeinsame Abstimmungspraktiken kamen zum Zuge. Dies waren an breite Bevölkerungsgruppen adressierte Überzeugungsmuster, die auch in bisherigen Forschungen vorrangig thematisiert wurden. In den mit dieser Ausstellung und ihrer Publikation erstmalig dokumentierten Materialien kommen hingegen verstärkt visuelle Aspekte zum Tragen, die noch kaum in den Blick geraten sind. Die bisher unbekannten Artefakte richteten sich bevorzugt an jugendliche Eliten, die sich im Völkischen Kampfring Südtirols (VKS) oder in seinem pronazistischen Umfeld formierten. Der aus dem Eisacktal stammende SS-Obersturmbannführer Josef Dorfmann (1921–1944), der in diesem Zusammenhang als entscheidender Akteur wirkte, ist ein eindrücklicher Repräsentant und Handlanger des völkischen Totalitarismus. Die Propagandazeichnungen stammen von ganz unterschiedlichen Händen, unter anderem von Heiner Gschwendt und Max Sparer, bilden aber bildmotivisch und aufgrund von Dorfmanns Gesamtregie eine handlungsleitende Einheit. Obwohl für die geschlossene Abwanderung in das Deutsche Reich werbend, geben die Entwürfe auch eine paradoxe Ebene der Beharrung zu erkennen, die sich entscheidungslogisch nicht auflösen lässt und nur vor dem Hintergrund antagonistischer Emotionen zu erschließen ist.
Der reale Verwendungszusammenhang des Gesamtmaterials war vermutlich ephemer, doch ermöglicht es eine neue Kontextualisierung der Options-Propaganda und des Options-Geschehens. Hierzu trägt auch der Umstand bei, dass die Artefakte mit ihrem finalen Adressaten, dem "Volksgruppenführer" Peter Hofer, an den führenden Exponenten des Südtiroler NS-Bewegung gerichtet waren.
Eine Hohenwerfener Einstimmung
Im November 1940 – mitten im Krieg – fand auf der Festung Hohenwerfen im Salzburger Land ein „Führerlager“ für Südtiroler Mitglieder der Hitler‑Jugend, der Jugend‑ und Nachwuchsorganisation des Nationalsozialismus, statt. Zentral innerhalb der im Frühjahr 1938 vom Deutschen Reich annektierten „Ostmark“ gelegen, war Hohenwerfen seit März 1939 zur Gauschulungsburg aufgerückt. Salzburgs Gauleiter Friedrich Rainer hatte die zur Stätte der Indoktrination umfunktionierte, markante Burg‑ und Festungsanlage am 5. März als Ausbildungsstätte inauguriert, NSDAP‑Mitglied Ingo Ruetz war deren erster Leiter geworden. Hier fanden zumeist einwöchige Lehrgänge für nationalsozialistische Kreis‑ und Ortsschulungsleiter, Bürgermeister, Schullehrkräfte sowie weitere Multiplikatoren in zahlreichen Formationen und angeschlossenen Kaderverbänden des NS‑Staates statt. Seit dem plebiszitären Südtiroler Optionsentscheid der Jahreswende 1939/40 waren vermehrt auch TeilnehmerInnen von südlich des Brenners in Hohenwerfen zu Gast, um die Verhaltensmaximen der deutschen Volksgemeinschaft zu verinnerlichen und die NS‑Tugenden von Kameradschaft, Befehl und Gehorsam, Disziplin und Selbstaufopferung einzuüben. „Volksgemeinschaft“ musste hergestellt werden, sie war nicht schon voraussetzungslos vorhanden, und der seltene Einblick, den die Salzburger Vorgänge bieten, ist praxeologisch aufschlussreich für die reaktionäre Schaffung einer scheinbar sprachlich‑kulturell bestimmten Schicksalsgemeinschaft. Ethnos statt Demos, dieses Konzept einer überstaatlichen Willensgemeinschaft im Zeichen von „Blut“ und „Herkunft“ gegenüber einer ungeliebten staatlichen Zugehörigkeit, musste gerade für Südtiroler Rezipienten attraktiv wirken, die damit die Ambiguität von italienischer Staatsnation und deutscher Kulturnation ein Stück weit aufheben, wenn nicht gänzlich überwinden zu können glaubten.
Der Südtiroler Schulungskurs im November 1940 erstreckte sich gar über drei Wochen: Nach dem Beginn der Unterweisungen in Innsbruck wurden die männlichen und weiblichen Kursteilnehmer von Burghauptmann Ruetz empfangen und von Untergauführerin Inge Mühlhofer und Bannführer Alf Schopper, den beiden „Lagerführern“, zur Betreuung übernommen. Ruetz starb noch im Mai 1941 im Kriegseinsatz und wurde umgehend öffentlich vom NS-Fanatiker Karl Springenschmid, dem vom Regime berufenen Leiter des Salzburger Schulwesens und Hauptinitiator der Salzburger Bücherverbrennung vom 30. April 1938, als leuchtendes Vorbild nationalsozialistischer Gesinnung gefeiert. Inge Mühlhofer war Führungskraft des Bundes Deutscher Mädel, des weiblichen Zweiges der HJ; sie publizierte schon 1940/41 zwei apologetische Berichte über ihre Aktivitäten und wirkte ab 1941 im Obergau Tirol.
Die Südtiroler NS‑Volksgruppenführung war im VKS bzw. in dessen Nachfolgeorganisation, der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland (AdO), organisiert. Unter den Akten von VKS und AdO, die im Südtiroler Landesarchiv verwahrt werden, hat sich auch ein offiziöser Rückblick erhalten; er wurde von Mühlhofer und Schopper angefertigt und von diesen den KursteilnehmerInnen offenbar anlässlich des Kursendes überreicht. Aus dem Tonfall des Berichts geht die Emphase hervor, die die nationale Erhebung nach dem für das Deutsche Reich erfolgreichen Westfeldzug gegen Frankreich und während der lange Zeit unentschiedenen Luftschlacht um Großbritannien – erster Wendepunkt des ganzen Krieges – bestimmte und durchzog. Das undatierte, zweifellos aber Ende November 1940 hergestellte Hohenwerfener Protokoll ist an die namentlich nicht genannten „Kameraden“ und „Kameradinnen“ der Südtiroler NS‑Bewegung, also die Vertrauensmänner und ‑frauen, Gebietsleiter und Kreisleiter der AdO, gerichtet. Die Aufzeichnung führt u. a. aus: „21 Tage gemeinsamer Arbeit liegen hinter uns, Tage, in denen wir alle wohl kaum einmal zum Verschnaufen gekommen sind! Im äusseren [!] Erlebnis war die Zeit ein Fortschreiten aus der notdürftigen Unterbringung in Innsbruck zur Geschlossenheit und einzigartigen Erlebniskraft der Burg. Nehmt das Bild des ragenden Felsen, auf dem kühn unser Hohenwerfen thront, mit in Euere Heimat; nehmt die Kraft des Bildes, vor dem wir jeden Morgen und Abend an der Fahne standen und die scharfen Grate und Gipfel herbstverschneiter Berge grüßten, mit in die schicksalsschweren Tage der Zukunft, da die Berge Euerer Heimat zu wanken beginnen.“ Nach der Anrufung „deutscher Frömmigkeit“, einer religiös durchwirkten völkischen Gesinnung, mündet der Text in die Worte: „Geht hart und entschlossen auf Euere Posten zurück! Und wenn finstere Tage kommen, die Euch zerbrechen wollen, dann lasst aus den Nebeln die Burg [Hohenwerfen, Anm. d. V.] ins Sonnenlicht treten, auf der unsere Fahne, die nun auch Euere ist, wehte und richtet Euch auf an der Gewissheit des Führerwortes: ‚Deutschland ist größer als jede einzelne Not!ʻ“.
Mit diesen so pathetischen wie bildhaften Worten war die dramatische, von außen oktroyierte Staatsbürgerschaftsoption direkt angesprochen und als kollektiver Befehl verinnerlicht. Zur Jahreswende 1939/40 hatte sich die überwältigende Mehrheit von Südtirolern und Südtirolerinnen für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft und eine geschlossene Abwanderung in das nationalsozialistische Deutsche Reich ausgesprochen und diesem nebenbei einen späten außenpolitischen Prestigeerfolg, mitten im schon begonnenen Weltkrieg, verschafft. So gut die plebiszitären Vorgänge der Südtiroler Umsiedlung auch erforscht sein mögen, so wenig wissen wir über die näheren kommunikativen Prozesse Bescheid, die das Votum begleitet und dessen so eindeutigen prodeutschen Ausgang determiniert haben.
Wie kam es, dass so viele der deutsch‑ und ladinischsprachigen Landesbewohner jenes orange Formular ausgefüllt und unterzeichnet hatten, mit denen sie „unwiderruflich und förmlich“ erklärten, „die deutsche Reichsangehörigkeit annehmen und in das Deutsche Reich abwandern zu wollen“? Die historische Forschung hat sich in der Zwischenzeit auf eine reale Zustimmungsquote von ca. 84–86% geeinigt, ein beeindruckendes Kontingent, das die vom VKS noch Anfang 1940 verbreiteten 90,7% nur geringfügig unterschreitet. Der vom VKS gleich nach der am 31. Dezember 1939 offiziell beendeten Abstimmung angeführte 90‑prozentige Abwanderungsentscheid war im Übrigen eine überdeutliche Anspielung an das mit 90,73% dokumentierte Ergebnis der Saar-Abstimmung vom Januar 1935, dessen Ausgang auch in Südtirol mit nationaler Hochstimmung aufgenommen worden war und neue Hoffnungen auf eine Revision der Brennergrenze befeuert hatte. „Heute die Saar – wir übers Jahr“ wurde in der Südtiroler Grenzregion zum geflügelten Wort – die spektakulären Erfolge der aggressiven nationalsozialistischen Revanchepolitik ließen den NS‑Staat immer deutlicher als jene Kraft erscheinen, der auch die Lösung der Südtirolfrage im großdeutschen Sinn zuzutrauen war. Und dies im Angesicht der unumstößlichen Tatsache, dass Hitler selbst in seiner Programmschrift Mein Kampf auf territoriale Forderungen gegenüber Italien verzichtet und dem italienischen Bündnispartner im Kontext des Achsenbündnisses noch 1938, zumindest in offiziellen Verlautbarungen, die Brennergrenze verbürgt hatte.
Dies dämpfte die zügellosen Hoffnungen der Südtiroler Bevölkerung keineswegs. Stärker noch als nach dem Saar‑Referendum schlug das historische Momentum nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ im März‑April 1938 durch. Nachdem Hitler die Einverleibung der „Ostmark“ in das deutsche Staatsgebiet mit einer propagandistisch perfekt inszenierten Scheinabstimmung auch öffentlich legitimieren hatte lassen, schien die deutsche Außenpolitik im mitteleuropäischen Raum keinerlei Schranken mehr zu kennen. Die Parolen „ein Reich“, „ein Volk“ und „Deutschlands Größe“ beherrschten den Sprachgebrauch aller großdeutsch Gesinnten, die – im offenen Bruch der Bestimmungen der Friedensverträge von Versailles – in ihren völkisch grundierten pangermanischen Großreichsvisionen bestärkt wurden. Insbesondere intellektuelle Eliten schwenkten auf diesen Kurs willig ein und lieferten die nötigen Legitimationsfiguren für die geplante ethnozentrische Neuordnung Europas. Der militärische Ausgriff erschien einer solchen Gesinnung nur noch als bloßer Vollzug des volkstumsideologisch längst Vorgedachten und Herbeigesehnten.
Wie lässt sich also Südtirols außergewöhnlicher Konsens für die Abwanderung und die damit verknüpfte implizite Anerkennung der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung erklären? Dies lief doch immerhin auf das Verlassen der bisherigen, als Heimat beschworenen Wohngebiete hinaus und schien beinahe bedenkenlos alle Unwägbarkeiten einer Umsiedlung in Kauf zu nehmen. Bisherige Untersuchungen haben zu Recht geltend gemacht, dass sich hier mehrere Ebenen überlagert und das so eindeutige Ergebnis begünstigt haben. Zum einen war der Prozess der Entheimatung der Optanten bzw. „Geher“ durch die nun schon über 15 Jahre andauernden Italienisierungsmaßnahmen des faschistischen Regimes vorgeprägt. Das Ende oder auch nur eine Milderung der Majorisierungsbestrebungen waren nicht in Sicht, was das mit der Annexion von 1919/20 verbundene traumatische Empfinden vieler SüdtirolerInnen verstärkte. Im Gegenteil, die Tonart der italienischen Machthaber verschärfte sich seit der Mitte der 1930er Jahre im Sog der innen‑ und außenpolitischen Erfolge des charismatischen Mussolini‑Regimes, das zwischen 1935 und 1939 auf dem Höhepunkt gesellschaftlichen Konsenses stand.
Die soziale Desillusionierung und fortschreitende Ausgrenzung aus den durchaus vorhandenen Versprechungen des „Neuen Italiens“ machten die deutsch‑ und ladinischsprachigen Minderheiten besonders anfällig für die Verheißungen des nationalsozialistischen Deutschlands. Über das Gewaltpotential der NS‑Herrschaft wusste man zwar im Wesentlichen Bescheid, nahm das Totalitäre seiner inneren und äußeren Politik aber stillschweigend, vielfach auch billigend und bewundernd in Kauf. Die mangelnde demokratische Übung der Südtiroler Bevölkerung, ihre vielfach autoritäre Ausrichtung durch jahrhundertelange katholische Bevormundung und ihre paternalistische Grundorientierung bildeten geradezu ideale Voraussetzungen, um den Mythos der Volksgemeinschaft auf breiter Basis zu aktivieren. Zur kulturellen Superioritätshaltung und einem stark defizitären Demokratieverständnis kam die italienisch‑faschistische Sozialisierung in den Schul‑ und Freizeitsystemen als wichtige Vorerfahrung und verstärkende autoritäre Werthaltung nur noch hinzu. Einer solchen Disposition bot sich der Topos vom Grenz‑ und Auslandsdeutschtum als Triebrad der ethnischen Mobilisierung förmlich an. Wie konnten antiemanzipatorische Bedürfnisse besser bedient werden als mit der Wahl des „richtigen“ Faschismus, des deutschen statt des italienischen, den man als oktroyiert noch zurückweisen konnte? Hierbei konnte die Vorstellung einer Schicksalsgemeinschaft im Zeichen von Sprache und Kultur auf eine lange Tradition zurückgreifen; sie wurzelt letztlich im völkischen Nationalismus des nachrevolutionären 19. Jahrhunderts. Mit diesem sympathisierte noch über die Mitte der 1930er Jahre hinaus ein so einflussreicher Exponent der Südtiroler Öffentlichkeit wie der Journalist und Priester Michael Gamper. Dieser unterhielt mit dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA), einer NS‑Organisation unter der Leitung des alldeutschen Kärntners Hans Steinacher, enge Kontakte und ließ sein Notschulprogramm von diesem mit finanzieren.30 Schon in einer der ersten Ausgaben der von Gamper herausgegebenen und redigierten Wochenzeitung Volksbote hatte dieser eifrig die Dolchstoßlegende bedient, wonach „eine Gruppe Juden und Sozialdemokraten“ die für die besiegten Mittelmächte so ungünstigen Pariser Friedensverhandlungen bestimmt hätten und „das Volk nichts mehr zu sagen hat und der Jude alles“. 1927 bekundete er gegenüber dem völkischen Aktivisten und Exponenten des Deutschen Schulvereins Wilhelm Rohmeder, ihm sei „die national‑sozialistische Partei gerade so schlecht oder so recht wie eine andere Partei“. Gamper hatte zunächst durchaus mit dem Antisemitismus und Antikommunismus der NS‑Bewegung sympathisiert und deren Ordnungs‑ und Ausgrenzungsvorstellungen geteilt. Als seit 1935 jedoch die antiklerikalen Orientierungen des Deutschen Reichs immer stärker hervortraten, wandte sich Gamper vom Nationalsozialismus ab und wurde – gerade im Kontext der Option – zu einem Hauptexponenten Südtiroler NS‑Gegnerschaft.
Doch was ließ kollektive Ermächtigungsfantasien bei Figuren wie Gamper so massiv erstarken? Wenn wir nochmals den Blick auf das Hohenwerfener Treffen richten, treten uns hier weitere Motive entgegen. Vom 21. November 1940 datiert ein Bericht des „Gebietsführers“ Otto Weber, dem Gründer der HJ innerhalb der Vorarlberger SA und späteren Jugendgebietsführer im Gau Tirol‑Vorarlberg. Er bezeichnet sich darin als denjenigen, der maßgeblich „am Zustandekommen dieses Lagers beteiligt“ gewesen sei, und ruft den Teilnehmenden in Erinnerung, dass sie – als sie „über den Brenner gefahren“ seien – damit „zum ersten Mal das nationalsozialistische deutsche Reich“ erleben konnten und erstmalig auch „das braune Kleid“ hätten tragen dürfen. Durch diesen Initiationsritus seien die SüdtirolerInnen angekommen „in einer Gemeinschaft, in der ihr offen marschieren könnt und euch frei als Jugend des Führers bezeichnen dürft“. Gerade die Einkleidung in die paramilitärischen, braunen Uniformen der HJ, deren Erscheinungsbild sich an die Braunhemden der SA anlehnte, verhieß Zugehörigkeit zu der neuen Machtelite und signalisierte Gleichheit bei gleichzeitiger Unterordnung unter ein radikales Programm. Als visuelles Politiksymbol, dies musste den Südtiroler Anwärtern bereits von den faschistischen Kampfbünden der Provinz Bozen her vertraut gewesen sein, verkörperte die neue erdfarbene Einheitskleidung einen machtvollen Aktionsstil, der Unbesiegbarkeit zur Schau stellen sollte und durch Gangart und Akustik effektvoll unterstrichen wurde. Weber bediente in seinen weiteren Ausführungen geschickt den kollektiven Narzissmus der neuen Adepten, indem er ihnen auch eine ehrenvolle Aufgabe zuwies: „Ihr habt nun die Aufgabe, die Menschen in eurer Heimat zu Nationalsozialisten zu machen.“ Und er fügte warnend hinzu: „Wenn sie sich auch äußerlich Nationalsozialisten nennen und sich durch ihr ‚Jaʻ zum Führer bekannt haben, damit ist [!] zwar ein äußerliches nat.soz. Bekenntnis abgelegt, aber die innere Umwandlung ist noch nicht vollzogen worden.“ Hier schlugen wohl auch die Erfahrungen mit dem österreichischen Mitläufertum durch, das zwar zunächst total erschien, aber mit Kriegsbeginn mehr und mehr Ernüchterungssymptome zeigte. Dagegen beschwor Weber das quasireligiöse, selbstheiligende Erlösungspotential, das mit dem Eintritt in die Volksgemeinschaft verbunden sei; der Angliederungsvorgang der Südtiroler Umsiedler sei als entscheidender Übertritt in die Zeitgenossenschaft mit dem Führer zu betrachten, und dabei sei „der Krieg […] nicht das Wesentlichste und Entscheidenste. Adolf Hitler ist nicht zuerst Feldherr des deutschen Volkes, sondern zuerst Politiker und der Führer des deutschen Volkes.“ Die Betonung der Liminalität der Hohenwerfener Erfahrung hebt zugleich auf die Unwiderruflichkeit und das Ritualhafte des NS‑Bekenntnisses der Optanten ab. Sie erfuhren gleichsam ein politisches Coming-of-Age im Sinne einer als naturwüchsig gedachten ethnischen Vorbestimmung, der sich niemand entziehen dürfe.
Eine solche „Volkwerdung“ im Zeichen des Hakenkreuzes hatten intellektuelle Ingenieure des Sprechens von rechts, Geografen, Philosophen und Geschichtsforscher, auf breiter Front vorgedacht. Erinnert sei hier beispielsweise an den prominenten Historiker Theodor Schieder, der 1930 den schillernden Volks-Begriff auf folgende Weise definierte: „Es ist das Gesicht einer überindividuellen Verbundenheit, die er [das Individuum, Anm. d. V.] in der Familie, in den verschiedensten Vereinen, denen er angehört, in den Organisationen seiner Klasse, in ländlicher Lebenssphäre vielleicht noch in der Dorfgemeinde tagtäglich erlebt.“ Und er fügte hinzu, beinahe so, als hätte er dabei die Südtiroler Verhältnisse im Blick gehabt: „Nur da, wo im Grenzkampfe die ein Volk verbindenden Güter, wie Sprache, Sitte, an ihrem Gegensatze, dem fremden Volkstum, zum Bewußtsein des Einzelnen kommen, […] ist Volk Wirklichkeit.“ In den Pathosformeln von Volk und Gemeinschaft schwang der Gedanke einer bizarren Gleichheit mit, die nicht mehr auf den universalistischen Idealen der Französischen Revolution oder der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beruhte, sondern essentialistisch auf ein gemeinsames „Blut“ rekurrierte. Eine solche zwiespältige Gleichförmigkeit, die sich auch als repressiver Egalitarismus bestimmen lässt, war auf Kriterien von Ausschluss und Vernichtung der Anderen gegründet.
Eine solche Weltsicht wies alle klassischen Attribute einer Erneuerungsideologie auf, die auf unbedingtem Erlöserglauben, strengen Artikulationsverboten und totaler Gemeinschaftssuggestion basierte. Die Faschismusforschung hat für diese Dispositionen das Konzept einer ultranationalistischen Palingenese, einer Erfahrung der Wiedergeburt durch totale Ausrichtung auf einen verherrlichten Führer, in Vorschlag gebracht. Diesem mythischen Kern des deutschen Faschismus hatte sich auch die Mehrheit der SüdtirolerInnen bereitwillig ergeben. Sie waren vom italienischen Faschismus, dank jahrelanger Drangsalierungen und lebensbiografischer Überwältigungen, seinem deutschen Gegenpart förmlich in die Arme getrieben worden. Aber sie hatten diesen Weg auch als unvollständige Staatsbürger beschritten, die sich niemals von ihrem eingefleischten Obrigkeitsglauben emanzipieren konnten oder wollten und die ihre in das „nationale Bewußtsein gedrungne Bedientenhaftigkeit“ (Friedrich Engels) nicht wirklich abgelegt hatten. Ihre kognitiven Haltungen und Lebensrichtungen waren gleichsam auf Autoritarismus getrimmt, noch ehe sie die Erweckungsfantasien des Nationalsozialismus als des „richtigen“, weil die eigene Sprache sprechenden und auf die eigenen Dispositionen passenden Faschismus zu teilen begannen.
„Volksgruppenführer” Peter Hofer spricht
Am 13. November 1940 nutzte auf Hohenwerfen auch Südtirols nationalsozialistischer Spitzenexponent, Peter Hofer, die Gelegenheit, das Wort an die Südtiroler Teilnehmenden des Schulungskurses zu richten. Seine Ausführungen verdienen, vollinhaltlich wiedergegeben zu werden, da mit Hofer jener Repräsentant greifbar wird, dem eine zentrale Rolle für die Etablierung und Stabilisierung der NS‑Bewegung in Südtirol zufiel. 1905 in St. Michael bei Kastelruth geboren, war der weichende Hoferbe in Bozen im Schneiderhandwerk tätig. Seit 1928 war er Mitglied, ab 1931 auch Obmann des Katholischen Jugendbundes in Bozen, außerdem Aktivist der deutschnationalen Südtiroler Untergrundjugendgruppe Nibelung sowie der Arbeitsgemeinschaft der volksdeutschen Jugend in Südtirol, als Angehöriger von deren Bozner Ortsausschuss; 1931 wurde er als Mitglied des Gau-Jugend-Rates von den italienischen Polizeiorganen vorübergehend verhaftet. In den Jahren 1933 bis 1935 fungierte Hofer als VKS‑Kreisführer von Bozen und rückte als linientreuer Charismatiker mit Januar 1935 unter dem Decknamen „Hagen“ zum Landesführer des VKS auf, den er nach den Vorgaben der NSDAP streng hierarchisch formte. Nachdem Hofer, Träger des HJ‑Ehrenzeichens, 1939 für Deutschland optierte hatte, wurde er im Februar 1940 geschäftsführender Leiter der nun auch seitens der faschistischen Administration offiziell zugelassenen AdO. Dies gelang auch in gleichsam polykratischer, wenngleich subalterner Konkurrenz zur zeitgleich begründeten Amtlichen deutschen Ein‑ und Rückwanderungsstelle (ADERSt) unter dem in Bozen installierten SS‑Obersturmbannführer Wilhelm Luig, dessen Dienstanweisungen sich die AdO dank direkter Fürsprache von Reichsführer‑SS Heinrich Himmler teilweise entziehen konnte. Hofer hatte damit einen gewissen organisatorischen Führungsanspruch in den Südtirolbelangen behalten, auch weil er sich vorbehaltlos den rassistischen bevölkerungspolitischen und neokolonialistischen Maßgaben der SS unterzuordnen wusste. Im Nachgang des deutschen Überfalls auf Polen war Himmler zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt worden und hatte in der Folge auch die Südtirol‑Agenden an sich gezogen. Seine Direktiven wurden über SS‑Gruppenführer Werner Lorenz, den Leiter der 1937 eingerichteten Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi) und früheren Verbindungsmann zum VKS, an Hofer vermittelt, der im Übrigen dessen radikalisierte volkstumspolitische Konzeptionen vollständig teilte. Mit der Zentralisierung der Volkstumspolitik durch die VoMi war auch der VKS‑AdO gänzlich unter SS-Einfluss geraten, und Hofer war als „Volksgruppenführer“ in den Rang der von der NS‑Politik anerkannten bzw. eingesetzten höchsten Repräsentanten volksdeutscher Minderheiten des Auslandes aufgestiegen.
Entsprechend diesen Maßgaben wird Hofer im bereits zitierten Hohenwerfener Protokoll als Volksgruppenführer tituliert. In dieser Funktion äußerte er sich gegenüber den Südtiroler Jugendführern am 13. November wie folgt: „Ich möchte euch jene Mahnung mitgeben, die ich euch schon in der Heimat gab, jenen Dienst zu tun, der uns in der Heimat erwartet. Wir müssen die Tragik unserer Heimat so kraß wie möglich sehen, an Deutschland aber denken und an die Größe des Reiches. Wir wollen unsere ganze Kraft in den Dienst des Reiches stellen. Wir müssen im Stande sein, zu ermessen, was es bedeutet, Jugend zu führen, dieser Jugend zu dienen und ihr ein vorbildliches Leben vorzuleben. Wir müssen als klare Menschen vor unser Volk und unsere Jugend hintreten. Es wird eine Zeit kommen, wo wir offen vor unser Volk hintreten können und es schulen und betreuen und bilden dürfen. Da können wir dann den Beweis stellen [!], wie wir es uns in den Jahren 1926/28 gedacht haben. […] Und wir werden weiter unseren Dienst tun, wo uns der Führer hingestellt hat und so wie wir unsere Jugend gestalten, so werden wir der‑ einst das Reich haben. Seid euch bewußt über die Größe der Zeit und über die Verantwortung, dann wird es uns gelingen diese harte schwere Zeit zu überbrücken und dem deutschen Volk für alle Zeit zu dienen.“
Bemerkenswert an Hofers Ausführungen ist neben den Ideologemen von der „großen Zeit“ und dem nationalsozialistischen Ewigkeitsanspruch die ambivalente Verwendung des Begriffs „Heimat“. Es ist nicht völlig klar, ob Hofer damit Südtirol oder NS‑Deutschland bezeichnen wollte. Die Uneindeutigkeit entsprach dem historischen Moment und ist vor dem Hintergrund der auch in der Südtirolproblematik rivalisierenden, nicht klar abzugrenzenden und tief ineinandergreifenden Machtstrukturen des Nationalsozialismus zu sehen. Daher waren Hofers Hoffnungen auf die deutsche „Heimholung“ der Südtiroler Bevölkerung raumgeografisch nicht definitiv festgelegt. Es ist geradezu ein Lavieren spürbar zwischen der Maximalposition einer sich realhistorisch bereits vollziehenden massiven Absiedlung der Südtiroler Optanten und ihrem insgeheim erhofften Verbleib in einer irgendwann doch noch mittels „Anschluss“ zu sichernden Heimat. Einer solchen Form ethnopolitischer Resilienz mochten augenblicklich zwar bündnispolitische Rücksichten auf den faschistischen „Achsen“-Partner im Wege gestanden haben; diese konnten aber auch nur vorübergehend unüberwindlich scheinen, vor dem Hintergrund einer militärischen Siegeszuversicht des NS‑Staates, dessen europapolitische Pläne zur Jahreswende 1940/41 vollkommen in Erfüllung zu gehen schienen. Betrachtet man das faschistische Deutschland als dynamische Diktatur, deren militärische Entfesselungsbereitschaft und geostrategisches Anpassungspotential im Vergleich zum italienischen Regime weit stärker ausgeprägt waren, so war einer solchen Erwartungshaltung eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen. Peter Hofer ließ spätestens seit Sommer 1940 keinen Zweifel an seiner skeptischen Haltung gegenüber der Umsiedlung; das Optionsergebnis wollte er in zunehmendem Maß nur als eindeutiges Votum für den NS‑Staat, nicht aber als Abwanderungsbereitschaft gedeutet wissen. Diese Revisions‑ und Expansionsprogrammatik sollte sich denn auch kaum drei Jahre später mit dem deutschen Einmarsch in Italien ab dem 8. September 1943 und der Eingliederung Südtirols in die NS‑Operationszone Alpenvorland unter dem großen Jubel der pronazistischen Kreise verwirklichen.
Hofer hatte in seinen Ausführungen von 1940 wirkungsvoll das ABC des Völkischen buchstabiert und sich zentraler Versatzstücke des nationalsozialistischen Agitprops bedient. Er hatte wohl auch auf die Jugendlichkeit der Adressaten selbst abgestellt, denn die Organisationsstruktur des VKS bzw. der AdO zeichnete sich nachgerade durch ihre juvenile Grundprägung aus. Vor diesem Hintergrund lässt sich der scharfe Tonfall von Hofer und seinesgleichen auch als markante Abgrenzung gegen die längst in die Defensive geratenen traditionellen Südtiroler Eliten begreifen, die im Deutschen Verband bzw. im antifaschistischen, zum Teil auch katholischen Milieu organisiert waren. Deren Durchschnittsalter war in der Regel weit höher als jenes der jungen Südtiroler Adepten des Nationalsozialismus, und man geht nicht fehl, hier auch das Muster eines Generationenkonflikts zu erkennen. Wenn sich auch die Ablehnung einer Deutschland-Option – die Haltung des „Dableibens“, die nur eine verschwindende Minderheit der deutsch‑ und ladinischsprachigen Landesbewohner bevorzugt hatte – nicht auf eine Altersfrage reduzieren lässt, so war die Migrationsbereitschaft zumindest partiell auch alterphasenbestimmt.
Interessanter Artikel, aber
Interessanter Artikel, aber es wäre doch nett, wenn der Autor zum mindest ein paar der Fachtermini rausgenommen hätte. So liest es sich immer
noch wie ein wissenschaftlicher Aufsatz...
Hat nicht schon Claus
Hat nicht schon Claus Gatterer als Sohn jener Zeit in seinem Buch "Schönes Land, böse Leute" sehr eindrücklich nachgezeichnet, dass es auch im bäuerlichen Sexten nicht allen möglich war unschuldig zu bleiben?
Die Einleitung des Artikels mutet dem Leser viel eher den Bodensatz einer überholten politisch-moralisierenden Geschichtsschreibung und kollektiven Schuldzuschreibung der österr. Minderheit in Italien zu.
Immer wieder interessant
Immer wieder interessant festzustellen, die Positionen des Klerus werden nicht aufgezeigt. Und doch spielten diese eine wesentliche Rolle in dieser Zeit.
Ansonsten kann man, speziell in Vorwahlzeiten, Parallelen zu Damals auch heutzutage noch klar erkennen.
Die "Nachkommenschaft" wird es auch weiterhin unterlassen über die geerbten materiellen Reichtümer, von ihren Vorfahren unter den damaligen Umständen angehäuft, klare Aussagen zu machen und gerade deshalb wird jede geschichtliche Darstellung und Aufarbeitung unvollständig bleiben.
Lai net roglen, wiederholte ein Mann der Südtiroler Nachkriegsgeschichte immer wieder sobald es unangenehm wurde.