Gesellschaft | Ambiguität

Was ist denn nun mit diesem Virus?

Ganz Europa sitzt auf heißen Kohlen. Viele Fragen rund um das Coronavirus brennen den Menschen unter den Fingern.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Stoanerne Mandler
Foto: Daniel Schatzer

Wie gefährlich ist das Virus eigentlich? Wie lange wird es noch unter uns sein? Welche Medikamente, Impfstoffe oder Maßnahmen tragen nun zur Bekämpfung bei? Worauf darf Wirtschaft und Tourismus hoffen und wie sollen sie planen?

Diese und tausende weitere Fragen beschäftigen unzählige Menschen Tag für Tag. Schon kurze Zeit nach dem Ausbruch des Virus wurden riesige Erwartungen an die Wissenschaft gestellt; verständlicherweise. Aber auch heute noch traut sich die Wissenschaft auf viele Fragen nur zögerlich Antworten zu geben. Gehandelt werden muss aber dennoch, besser gestern als heute.

Vielleicht liegt das Fehlen von eindeutigen Antworten daran, dass viel Wissen für uns schlicht und ergreifend unverfügbar bleibt und manche Indizien aus empirischen Beobachtungen nun mal zweideutig sind. Ja, das Unvermögen mit Zweideutigkeit umgehen zu können, Ambiguitätsintoleranz genannt, scheint ein festes Merkmal unserer westlichen Gesellschaft zu sein und wie eine zivilisatorische Krankheit zu grassieren.

Das Aufkommen der Wissenschaftsdisziplinen seit der Moderne und die Haltung zur Welt, dass alle Prozesse in der Natur durch kausale Zusammenhänge, ähnlich einem Uhrwerk, erklärt werden können, ermöglichten uns Menschen ein enormes „Verfügbar-machen“ von Welt. Verfügbar in dem Sinne, dass Welt verstanden, kontrolliert und bestenfalls nutzbar gemacht werden kann. Unersättlich versuchen wir, sogar die komplexesten Lebensbereiche, berechenbar und kontrollierbar zu machen. Vom Berechnen wirtschaftlichen Wachstums in der Zukunft bis zum Analysieren des körperlichen Zustands durch Datensammlungen von immer häufiger genutzten Gesundheits-apps, dessen Konsequenz uns zur Selbstoptimierung drängt. Aber auch beim Heranwachsen der Jüngsten werden von Anfang an deren Entwicklungsstufen ermittelt, später der Bildungsprozess geplant und wieder anhand von Noten bemessen und sogar auf internationaler Ebene in den „Pisa-rankings“ verglichen. Bildung? Kann Bildung geplant werden? Oder gar gemessen? Entzieht sich nicht der wirkliche Bildungsmoment unserer Planbarkeit? Ist es nicht so, als zeigt sich uns die Wirklichkeit bei genauerer Betrachtung doch meistens als sehr vieldeutig?

All diese Fakten und Zahlen mögen den Anschein erregen wir wüssten fast alles und vermögen die Kontrolle zu behalten. Deshalb machen uns Ungewissheiten, Zweideutigkeit und Unverfügbarkeit Angst. So wie eben auch in der Coronakrise. In einer derart berechneten Welt haben für uns solche Ungewissheiten einfach keinen Platz mehr. 
Doch wissen wir wirklich so viel? War da nicht Sokrates mit der Aussage: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“? Und genau darum geht es. Jeder Wissenschaftler, der sich spezifischer mit einem Thema beschäftigt weiß, wie viele neue Fragen sich auftun, wenn man glaubt eine beantwortet zu haben. 
Vielleicht liegt dieses Verlangen nach Eindeutigkeit daran, dass Wissenschaft seit jeher falsch kommuniziert wird. Zeitungsartikel mit Sätzen wie: „eine Studie hat bewiesen, dass….“ sind schon formell unseriös und würden so nicht in einem Fachjournal publiziert werden. Wissenschaft ist eben fehlbar und Wahrheiten werden immer wieder revidiert; und das soll auch so sein. Doch anscheinend geht die breite Masse nicht adäquat mit wissenschaftlichen „Hypothesen“ um. An der Tatsache, dass es in Buchhandlungen immer mehr Ratgeberliteratur gibt, welche zu allen Lebensbereichen wie Kindererziehung oder Lebensführung scheinbare Expertise zu geben pflegt, lässt sich erkennen, dass viele Menschen in ihrem Handeln verunsichert sind und lieber auf den Rat der Wissenschaft zurückgreifen als auf ihre Intuition zu vertrauen.

In sehr vielen Bereichen zeigt uns die Coronakrise gesellschaftliche Prozesse, Merkmale sowie Stärken und Schwächen auf. Im Umgang mit Corona kann man neben dem ungestillten Verlangen auf Gewissheit, auch im politischen Handeln beobachten, dass wir allmählich zu einer „Expertokratie“ zu werden scheinen. Hier soll jede Entscheidung evidenzbasiert sein; so wird von Regierung und Opposition gleichermaßen argumentiert. Dabei kann die Wissenschaft keine Entscheidungen treffen, sondern durch Darlegung der bisherigen Erkenntnisse, bloß eine beratende Funktion einnehmen. Zudem sind wissenschaftliche Disziplinen in sehr spezifischen Forschungsschwerpunkten gegliedert. Im Falle dieser Pandemie sind es Virologen, Epidemologen, Immunologen und aus dem Praxisbereich zahlreiche Fachärzte. Dennoch ist eine Krankheit doch immer auch ein kulturelles Phänomen. Schließlich hat doch nicht das Virus den Lockdown herbeigeführt. Es waren die politischen Entscheidungen, als Ausdruck, wie wir uns als Gesellschaft entschieden haben mit Krankheiten umzugehen. Wie teuer dürfen uns Gesundheit und Sicherheit kosten? Geben wir Schule oder der Wirtschaft in den Maßnahmen Priorität? Wie weit kann man in der Beschneidung von Grundrechten gehen? All dies sind und bleiben politische Entscheidungen und können nicht wissenschaftlich beantwortet werden. Bei diesen Fragen gibt es keine Eindeutigkeit. Bei deren Beantwortung bedarf es ethischer Abwägungen in denen die Werte einer Gesellschaft zum Ausdruck gebracht werden. Diese Fragen sind aber fast immer zweideutig und zeigen sich oft als Dilemma in der es keine richtige Entscheidung gibt. So ist nun mal die Wirklichkeit. Diese ist nicht in Fachbereiche gegliedert, sondern vielmehr ein Ineinandergreifen mehrerer Gebiete. Kommt dann auch noch das Abschätzen menschlichen Verhaltens ins Spiel, wird sowieso mehr vermutet als gewusst; also alles andere als einfach. Deshalb ist der Anreiz, an Verschwörungstheorien zu glauben, in Kulturen wie unserer, ohne einem geschlossenen oder religiösen Weltbild viel wahrscheinlicher. Endlich hat jemand eine Story, die Sinn macht und alle unbeantworteten Fragen verbinden kann. Eben einfach und eindeutig. 

Ist es nicht an der Zeit, anders mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umzugehen? Wieder etwas mehr die Zweideutigkeit der Wirklichkeit anzuerkennen und auch auszuhalten? Als eine Art kulturelle Praxis einzuüben, um wieder mehr Spielräume und Möglichkeiten in unserer Art zu denken zu schaffen, wieder die Verantwortung des Denkens zu übernehmen und zu kultivieren. So könnten wir es schaffen der von Max Weber einmal bezeichneten „Entzauberung der Welt“ ein Stück weit entgegen zu treten.   
 

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Franz Kripp Fr., 20.11.2020 - 21:58

Mit Verlaub: es brennt nicht unter den Fingern (das wäre ja die Hand!) sondern unter den Fingernägeln. Das macht das ganze noch schmerzvoller und erst dann gewinnt der Spruch seinen Sinn.

Fr., 20.11.2020 - 21:58 Permalink
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Max Benedikter Sa., 21.11.2020 - 07:17

Sehr interessant und gut formuliert. Ja.
In dieser Hinsicht möchte ich noch hinzufügen, dass kollektive Veranstaltungen und Narrationen, wie der Südtiroler Massentest durchaus eine gesellschaftliche Medizin sein könnte.

Sa., 21.11.2020 - 07:17 Permalink
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Norbert Dalsass Sa., 21.11.2020 - 10:59

Kompliment für den klaren Beitrag. Es ist für uns schwer, widersprechende Situationen unvoreingenommen zu betrachten, bzw. sie auch auszuhalten. Individuum und Kollektiv stehen sich, wie schon öfters in der Geschichte der Menschheit gegen-über. Nur über die Entfaltung des Individuums kann das Kollektiv sich weiterentwickeln. Das Kollektiv wiederum schützt die Gemeinschaft. Beide gehören zusammen und sind aufeinander angewiesen. Will sich die Menschheit gesund entwickeln kommen wir nicht drum herum, uns selbst durch die Mäander der Gegensätze eine für alle sinnvolle Haltung zu suchen, ohne sich eine Meinung und/oder Handlung aufzwingen zu lassen. Ohne den freien Willen kann schwerlich ein liebevolles Miteinander entstehen....

Sa., 21.11.2020 - 10:59 Permalink
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Sonja Seppi Sa., 21.11.2020 - 11:58

Genau, sie sprechen mir aus dem Herzen und ich bin ihnen dankbar für ihre Überlegungen. Es ist genau dies: unser Umgang mit Gesundheit bzw. Krankheit. Uns ist die Kontrolle entglitten und die Wahrheit ist, dass die Kontrolle eine Illusion ist. Ich pendle schon seit Tagen zwischen Mitgefühl (die Bilder zeigen uns Herren, die eher durch den Wind zu sein scheinen, leicht hysterisch und gebeutelt) und dem Wunsch, sie a bissl zu schütteln (aufwachen Buabm, so geht's nicht). Tja, die Eindeutigkeit, die einfachen Lösungen, schwarz und weiß, das ist Vergangenheit. Statt die Komplexität anzunehmen, die Widersprüche und letztendlich auch die Freiheit des Menschen, wird Blut und Boden Sprache verwendet, gezwungen und moralisiert ... schwarze Pädagogik aus dem Lehrbuch. Statt die ursprünglichen Fragen zur Diskussion zu stellen: unseren Umgang mit der Natur, den Tierfabriken, das Leid das die Nord-Südschere auf der Welt verursacht und und und ... treten Politiker und Virologen vor und versprechen Lösungen, wenn wir nur brav sind und folgen. Mir stellt's die Gänsehaut auf ...

Sa., 21.11.2020 - 11:58 Permalink
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Daniel Schatzer Sa., 21.11.2020 - 15:05

Mich betrübt schon seit Langem auf welche Weise Diskurse geführt werden. Jetzt in dieser Krise, kommt dies noch einmal deutlicher zum Vorschein. Ich finde, jeder Mensch kann und soll für eine funktionierende Demokratie ein Recht haben in den Diskurs einzusteigen auch wenn er kein „Experte“ ist. Damit soll aber nicht gemeint sein, pseudowissenschaftlich vorzugehen und ständig irgendwelche Studien zu zitieren. Dann geht es nur um Rechthaberei. Wir sollten wieder politisch werden und jenseits von Gewissheiten argumentieren. Wo wollen wir hin als Gesellschaft?
Mein Anliegen war mit diesem Beitrag, den Diskurs auf eine andere Ebene zu heben um dieses Thema wieder diskursfähig zu machen.

Sa., 21.11.2020 - 15:05 Permalink