Kultur | Nachruf/Podcast

Nachruf auf eine von uns

Agitu Ideo Gudeta: 1.1.1978 in Addis Abeba, Äthiopien – 29.12.2020 in Frassilongo, Fersental (TN), Soziologin, Unternehmerin, Ziegenzüchterin, Käserin, Biobäuerin
Agitu Ideo Gudeta2
Foto: Agitu Ideo Gudeta

Nach zwei schlaflosen Nächten, Grübeln und Schockstarre, weicht letztere dem Sinn für Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeit kann nach einem Mord nur mehr in Worten, nicht mehr in Taten wiederhergestellt werden. 
Agitu Ideo Gudeta war von ihrem Wesen alles andere als eine, die laut wird und nach Aufmerksamkeit lechzt. Die Öffentlichkeit suchte sie nur, wenn es darum ging, ihre Biolandwirtschaft und die Ziegenhaltung im Freien, den Grundgedanken ihres Betriebs „La capra felice“ nach außen zu tragen, ihren Ziegenkäse und die Hofprodukte zu verkaufen. Dabei hätte sie mehr als einmal Grund gehabt zu klagen: Die 42-jährige Fersentalerin mit äthiopischen Wurzeln wurde Opfer von politischer Willkür und Militärgewalt in ihrem Ursprungsland, musste fliehen, um ihr Leben zu retten, wurde im Trentino mehrmals Opfer von Rassismus, gepaart mit Sexismus. In ihrer zweiten abgeschiedenen und engen Heimat im Fersental wurde sie Opfer von Stalking, nicht zuletzt Opfer von Neid. Und schließlich wurde sie vorgestern ein letztes Mal Opfer. Diesmal von Femizid.

Nach jeder Niederlage, Enttäuschung, auch Gewalterfahrung fand sie zurück zu Würde und Optimismus.

Wie ich Agitu letzten Sommer kennengelernt habe und wie mir aus ihrem Freundeskreis erzählt wird, lag ihr nichts, gar nichts ferner als die Opferrolle. Nach jeder Niederlage, Enttäuschung, auch Gewalterfahrung fand sie zurück zu Würde und Optimismus. Im Stall, auf der Weide, in der Käserei, im Hofladen und hinter ihrem Marktstand. Immer erhobenen Hauptes - eine altmodische Wendung, die zu dieser ihrer zeitlosen Haltung passt. Genauso wie ihr breites Grinsen, ihr gutturales Lachen – ansteckend, die tiefe nasale Stimme mit dem akademisch geschulten Italienisch, das sie mit Kraft- und Alltagsausdrücken aus dem Trentiner Dialekt spickte. Als ich sie Ende Oktober in ihrer bottega in Trient besuchte, wunderte sie sich über das Italienisch-Vokabular einer Südtirolerin. Sie, die Äthiopierin, staunte schmunzelnd über eine andere nicht ganz astreine Italienerin. Eine Symbolfigur der Integration, heißt es jetzt im Lobgesang der Nachrufe. Sicher, dass es für ihr enges Umfeld „Integration“ war? Die Zeichen sprechen eine andere, bittere, Sprache. 
Ganz war sie zumindest für ihr Umfeld nie angekommen - als Zugereiste, als Frau, als Schwarze. Gibt es noch eine Steigerung? Offensichtlich ja. Wenn eine Afrikanerin allen Vorurteilen zum Trotz arbeitsam, tüchtig, pünktlich, hartnäckig, geschickt und schließlich erfolgreich in ihrem Business ist. Zehn Jahre Tätigkeit in der Ziegenhaltung und schon übernimmt sie einen Hof, hält 180 Stück „Pezzata Mochena“, dazu noch 50 Hennen, lässt sich in Frankreich zur Käserin und Affineurin schulen, entwickelt aus der übrigen Ziegenmilch eine Körperpflegelinie, verwandelt mit ihrer Ziegenherde elf Hektar verbuschte Fläche in wertvolles Weideland, vergrößert jährlich ihren Gemüsegarten, saniert ein Gebäude, um daraus einen Beherbergungsbetrieb zu machen, entwickelt im Lockdown einen Fahrrad-Zubringerdienst mit Käse-Gemüse-Pakete für alte Menschen und einen Abholdienst für UnistudentInnen in Trient, verkauft ihre Produkte auch in Bozen, wo sie montags in der Gärtnerei Schullian einen Marktstand betreibt. 

 

So war sie zwar im Fersental willkommener Gast, solange sie Fernsehteams und JournalistInnen ins Tal zog (übrigens, Andreas Pichlers arte-Porträt 2018 von Agitu ist im Netz noch zu sehen). Auch solange sich ihre dunkle Haut im alpinen Gelände touristisch gut vermarkten ließ als „neue Pionierin der Alpen“, aber dann wurde sie ein Fleck der Schande, als sie das Tal vor gut einem Jahr in den Gerichtssaal brachte, mit einem Aufsehen erregenden Fall von Stalking. Ein Nachbar hatte sie mehrmals bedroht und auch tätlich angegriffen. Der Mann wurde im vergangenen Jänner zu neun Monaten Haft verurteilt. Agitu Ideo Gudeta hat den Wink des Bürgermeisters ihrer Wahlgemeinde Frassilongo, das Tal zu verlassen, um wieder Ruhe einkehren zu lassen, verstanden, die Beleidigung eingesteckt und sich als Antwort gleich dem nächsten Herzensprojekt zugewandt, nämlich ein an ihr Wohngebäude angrenzendes leeres Schulgebäude zu einem „agriturismo sociale“ umzubauen. Die Eröffnung wäre für Ostern 2021 geplant gewesen. Ich hatte gedanklich schon gebucht.
Dass der Wecker täglich gegen 4 Uhr losging, machte ihr scheinbar nichts aus. Sie liebte ihre Arbeit mit den Tieren, fand sich und ihr eigenes Tun für die Gesellschaft und das Ökosystem nützlich und haderte darum nicht mit dem Dauereinsatz. In Bewegung waren Agitus Hände sowieso ständig, auch während des Interviews, das ich mit ihr führte. Sie unterstrichen die Notwendigkeit des Tuns, die Notwendigkeit, gerade in ländlichen Gegenden umweltverträgliche Mikroökonomien zu schaffen. Im Gespräch streifte sie die leidvollen vergangenen Erfahrungen nur, verharrte dafür umso länger in der Gegenwart, in ihrer Freude am Gestalten. So musste ich mir ihre Geschichte mühsam aus dürftigen Halbsätzen und aus Recherchen aus dem Netz holen: ihre wohlbehütete Jugend in Adis Abeba in einem bürgerlich-wohlhabenden Milieu, ihre Nähe zur Großmutter, einer Nomandenhirtin mit Ziegen-Anhang, von der sie das Wichtigste für ihr Leben in der Natur lernte. Dann das Stipendium und der Studienplatz an der Uni in Trient, wo sie Soziologie studierte. Nach dem Studium kehrte sie zurück und engagierte sich am Horn von Afrika zusammen mit mittellosen Hirten der indigenen Nomandenvölker im Protest gegen Landgrabbing, was den multinationalen Unternehmen sauer aufstieß und der äthiopischen Regierung, die davon profitiert, ebenso. Nach Morddrohungen verließ sie das Land und kam 2010 wiederum nach Italien, diesmal als politischer Flüchtling. Mit nur 200 Euro in der Tasche zog es sie erneut ins Trentino, wo sie auf ein Netz von Freundschaften zurückgreifen konnte. Hier begann sie ihr neues Leben als bäuerliche Unternehmerin, jobbte anfangs jahrelang als Baristin und experimentierte nebenbei mit der Haltung von autochthonen Ziegenrassen. Zuerst in der Val di Gresta, später im Fersental, wo sie geeignetes Weideland fand. Ihren landwirtschaftlichen Betrieb "La capra felice" gründete sie hier, in dem sie eine vom Aussterben bedrohte Fersentaler Ziegenrasse züchtete und auf die Rückgewinnung von aufgelassenen Flächen setzte. Sie zeigte damit, wie Ziegenhaltung umweltverträglich und tiergerechter ist, wenn sie im Freien geschieht, Flächen sauber gehalten und gleichzeitig gedüngt werden, Weideböden Wasser besser aufnahmen und weniger erosionsgefährdet sind. Ihr Ziegenkäse wurde u.a. von slow food geehrt, sie verkaufte auf Märkten auch außerhalb des Trentinos, in Südtirol allerdings nur auf alternativen Märkten, denn als nicht Ortansässige schaffte sie es bisher hierzulande nicht, ihre Produkte auf Bauernmärkten anzubieten. 


Wie Agitu in meinen Podcast „wenden … svoltare“ kam? Die Podcast-Idee hatte ich schon lang mit Freundinnen geschmiedet, erst die Lockdown-Monate mit der erzwungenen Pause im Frühjahr erlaubten es mir, mich dem Projekt zu widmen: Menschen in den Mittelpunkt rücken, die Altes auf den Kopf stellen und Neues wagen. „A podcast for changemakers“ eben. Und das war sie, jemand, die den Wandel vorantreibt. Erwünscht oder nicht.
Ich hätte sie gern bald wieder besucht, mich von ihrem unternehmerischen Weitblick inspirieren lassen. Ich hätte. Der Konjunktiv schmerzt. Vor wenigen Tagen schrieb sie mir in einer Mail: „Ti faccio tantissimi auguri di buone feste in attesa di una nuova luce positiva.“
 

Podcast
#11 I sogni vanno alimentati
 


 

 

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Evi Keifl Fr., 01.01.2021 - 11:10

Danke Anita für deine Hommage an Agitu Ideo Gudeta! Die Schockstarre wird dadurch bei mir nicht aufgelöst, weil sie gespeist ist aus verzweifelter Wut und ohnmächtigem Zorn. Der brutale Mord an Agitu reiht sich in eine nicht enden wollende Blutspur quer durch unsern Alltag ein. Der patriarchale Krieg gegen Frauen geht einfach weiter. Da verändert sich nichts, nach jedem Mord der obligatorische Aufschrei und dann kommt der nächste Mord. Ja, Agitur war eine von uns, weil es uns alle treffen kann, weil der Vater, der Freund, der Ehemann, ein Verwandter, Bekannter oder irgendein Dahergelaufener, der sich was einbildet, einfach zuschlagen und umbringen kann. Und daraus speist sich eine diffuse, kollektive, weibliche Angst vor männlicher Gewalt. Die Angst vor blöder Anmache, vor saublöden Witzen, vor Machogetue, vor struktureller Gewalt, vor Übergriffen. Und auch die Angst davor, getötet zu werden. Und mit jeder ermordeten Frau wird diese Angst größer. GERECHTIGKEIT heißt für mich, die MÄNNLICHE Ächtung der Täter! Ich will dazu endlich eine kollektive, männliche Stellungnahme hören. Von den Männern, die sich jetzt alle auf den Schlips getreten fühlen, wegen der kollektiven Verdächtigung. Sagt doch endlich was, verdammt, distanziert euch, ächtet doch endlich jeden von Euch, der Frauen in Peinlichkeit oder Angst versetzt. Steht auf und macht es in euren Seilschaften und an euren Stammtischen zum Thema! Solange IHR euch weg duckt und die Trauer und den Ruf nach Gerechtigkeit UNS überlasst, macht IHR euch schuldig. Die GERECHTIGKEIT habt IHR außer Kraft gesetzt mit eurem patriarchalen Anspruch. Setzt sie gefälligst endlich wieder ein!

Fr., 01.01.2021 - 11:10 Permalink
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ceteris paribus Fr., 01.01.2021 - 13:26

Antwort auf von Evi Keifl

Die Ohnmacht, die Fassungslosigkeit, die Ächtung nehmen auch viele von uns Männern wahr. Wir distanzieren uns von der Gewalt gegen die Frauen, verurteilen die Täter und wünschen uns, dass es besser wird. Wir gehen mit gutem Beispiel voran und wissen auch: es ist noch lange nicht genug und es braucht noch viel mehr miteinander, um dagegen zu sein.

Fr., 01.01.2021 - 13:26 Permalink
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Michael Bockhorni Fr., 01.01.2021 - 16:29

Antwort auf von Evi Keifl

Nach den bisherigen Medienmeldungen zu schließen handelt es sich nicht um eine Beziehungstat, sondern es ging ums Geld. In diesem Bereich sind aber zumeist Männer sowohl Opfer und Täter. Bei Kindstötungen sind wiederum Frauen zumeist die Täterinnen. Pauschalverurteilungen sind weder gerecht, noch führen sie zu Gerechtigkeit. Ich denke eine Trennung zwischen Gesellschaftskritik (Patriarchat, Kapitalismus, ...) und individuellem Verhalten / Tat ist wichtig. Ich bin traurig, daß dieser außergewöhnliche Mensch Agitu Gudeta ermordet wurde und danke für den aufschlußreichen Artikel.

Fr., 01.01.2021 - 16:29 Permalink
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luigi spagnolli Fr., 01.01.2021 - 15:23

Danke Anita für diesen zusammenfassenden und mit Liebe geschriebenen Bericht über das Leben und die Werke der Agitu Gudeta. Ich bin einer derjenigen, die gezielt ins Fersental gefahren sind, um sie und ihre Ziege kennenzulernen. Eine unglaublich energie- und temperamentvolle Person. Sie wird lange in meiner Erinnerung bleiben.

Fr., 01.01.2021 - 15:23 Permalink
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Markus Lobis Fr., 01.01.2021 - 16:01

Wunderbarer Text, liebe Anita, danke!

Ein Aspekt, der mich in dieser unsagbar wütend machenden und unendlich traurigen Geschichte umtreibt ist die selbstgerecht-betuliche Aussage, dieser großartige Mensch und die Geschichte von Agitu seien ein "Beispiel gelungener Integration".

Da tauchen bei mir Fragen auf, wie: Integration wohin? Wer deutet den Grad von Integration? Wer definiert den Zustand, in man sich zu integrieren hat?

Agitu hat sich eben NICHT integriert! Sie hat den Rahmen genutzt, den sie vorgefunden hat und ist weit über die Möglichkeiten des Fersentals hinausgewachsen. Sie hat Wege aufgemacht, die sich die künstlich gesättigten FersentalerInnen nicht vorstellen konnten und hat ihnen vorgeführt, was im abgelegenen und abgehängten Seitental alles möglich ist.

Solche Pioniere und Pionierinnen gibt es auch in unseren Tälern. Und auch diese sind eben NICHT integriert in ein bestehendes und eingeschliffenes Gesellschafts-, Landwirtschafts-, Produktions-, Förderungs- und Abhängigkeitssystem und zeigen Alternativen auf, die nicht nur nachhaltiger und sinnvoller sind sondern auch noch wirtschaftlich interessant.

Wir brauchen Menschen wie Agitu, Agethle, Oberhollenzer, Kager, Oberprantacher, Luggin, Laimer, Gluderer und wie sie alle heißen. Und zwar nicht als Integrationsweltmeister in eine Welt fraglicher Lethargie und Angepasstheit, sondern sie müssen genau in die gegenteilige Richtung weisen!

Fr., 01.01.2021 - 16:01 Permalink