Impfen
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Gesellschaft | fritto misto

Das große Zaudern

Wir haben lange darauf gehofft, jetzt zieren wir uns: Beim Impfen sind wir Kavalier.

Wie man sich täuschen kann. Ich hatte mir das mit dem Impfstoff ja immer hochabenteuerlich vorgestellt: Sobald der verfügbar sei, würde er mit dem Hochsicherheitskonvoi nach Südtirol transportiert, dort von einem VIP-Empfangskomitee entgegengenommen und anschließend in einem eigens dafür errichteten Prunkbau unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen gelagert werden. Tag und Nacht  bewacht von Ordnungskräften, die den Impfpalast patrouillieren, vielleicht sogar von den Schützen, die potentielle Plünderer mit schlechtem (aber entgegen aller Behauptungen nicht wirklich frauenfeindlichem) Rap à la „Do drin isch der Stoff zum Impfen, obfetzen! sunscht tian mir schimpfen!“ erfolgreich abwehren: Auf die Dauer hielte das ja kein Mensch aus. Denn dass der Impfpalast belagert würde und der Mob versuchen würde, gewaltsam an das Wundermittel zu kommen, daran hatte ich keinen Zweifel. So groß die Klagen über Covid-19, die Lockdowns, die physischen, psychischen und ökonomischen Folgen der Coronakrise: Natürlich würde die verzweifelte Bevölkerung ALLES dafür tun, sich den Impfstoff so schnell als möglich und wenn nötig auch selbst zu injizieren. Ich befürchtete bürgerkriegsähnliche Zustände, stattdessen: Stille. Zaudern. I woas net recht. Meldungen wie diese hatte ich wirklich nicht auf dem Radar.

Es soll kein Zwang sein, da stimme ich zu. Nur: Wenn alle so denken, ja schon, aber nicht jetzt, dann wird’s schwierig.

Ich kann’s ja irgendwo verstehen. Der Impfstoff ist neu, wurde nicht über Jahre hinweg getestet, ein Restrisiko bleibt bestehen. Aber: Erinnern wir uns bitte daran, wie aussichtslos die Lage noch vor einem halben Jahr war? Wie unklar, ob es überhaupt jemals einen Impfstoff geben würde? Falls doch, wie teuer er sein würde? Und ob er überhaupt auch gegen die fiesen Mutationen wirksam sein würde? Heute dürfen wir alle diese Fragen vom Tisch wischen. Es gibt nicht nur einen, sondern gleich mehrere Impfstoffe, die erstaunlich günstig sind, mit relativ kleinem Aufwand produziert werden können, geradezu erstaunlich wenige Nebenwirkungen verursachen und offenbar auch bei den Mutationen erfolgreich eingesetzt werden können. Voller Jackpot also, endlich Land in Sicht, und wir sagen: Tja, aber. Eine Freundin, tätig beim Sanitätsbetrieb, ließ mich unlängst wissen, ja doch, sie wolle sich schon impfen lassen, irgendwann, aber nicht jetzt. Das ist okay. Auch das Virus findet das okay. Sehr okay sogar, weil unser Zaudern es ihm ermöglicht zu überleben und sich weiter zu verbreiten. Es soll kein Zwang sein, da stimme ich zu, auch weil das Misstrauen gegen die Impfung nur noch größer würde. Nur: Wenn alle so denken, ja schon, aber nicht jetzt, dann wird’s schwierig. Weil wir dem Virus nämlich so schnell als möglich an die Gurgel gehen müssen, und das nur funktioniert, wenn es so wenig Angriffsfläche wie möglich bekommt. Ja, aber ansteckend ist man vermutlich trotzdem, auch mit Impfung, lautet der Einwand, der meist darauf folgt. Leider sieht es danach aus. Aber wer geimpft ist, wird mit großer Sicherheit nicht wegen Covid-19 im Krankenhaus landen, und darum geht es ja in erster Linie: Die Abteilungen und Intensivstationen zu entlasten, damit schwer Erkrankte, die sich nicht schützen konnten, und natürlich auch alle anderen Patient*innen adäquat behandelt werden können. Jede*r Patient*in weniger auf der Covid-Station ist ein Schritt nach vorne in ein wieder halbwegs normales Leben für alle. Denn wer kann schon für sich kategorisch ausschließen, so schwer an Covid-19 zu erkranken, dass er oder sie im Krankenhaus medizinisch versorgt werden muss? Eben. Und wie kann man verhindern, auf der Covid-Station zu landen? Genau, da sind wir wieder bei der Impfung. Wer sich impfen lässt, entlastet das Gesundheitssystem. Und ein entlastetes Gesundheitssystem ist der Schlüssel zu unserer Freiheit. Das sollte uns dann doch bei allen Bedenken bewusst sein. Die Alternativen zur Impfung sind ja leider überschaubar: natürliche Herdenimmunität am St. Nimmerleinstag oder der Lockdown als neue Normalität. Letzteres ist wohl nur für Hikikomori eine Option.

Wer immer noch Zweifel hat, der rufe sich bitte das Bild in Erinnerung, wie sich Professor Gänsi im schwarzen Muskelshirt die Impfung verpassen lässt.

 

Ok, vielleicht ist es gar kein echtes Muskelshirt, aber es passt: Dem Virus wird da der Kampf angesagt. Und dass sich da einer impfen lässt, der im Vorfeld auch Bedenken geäußert hat, der sich, anders als die zahllosen Facebook-Experten wie Nachbar Luis oder der ehemalige Mitschüler, sehr wohl mit der Materie auskennt, und der sich ganz gewiss nicht nur pieksen lässt, um dem Sanitätsbetrieb einen Gefallen zu tun und auf der Titelseite der „Tageszeitung“ zu landen (auch wenn Spötter das Gegenteil behaupten mögen), das ist mir Argument genug. Wen das kalt lässt, den überzeugt hoffentlich die längst überfällige Aufklärungskampagne des Landes. Ein paar grenzgeniale Slogans gibt’s von mir umsonst: Nicht schimpfen, impfen. Spritze ist spitze. Impft der Bauer im Febraar, werdn im Spitol die Betten laar. Und so weiter. Hauptsache, die apokalyptischen Reiter werden nicht wieder von der Leine gelassen. Weil’s wirklich einfach ist, wenn man es einmal verstanden hat.