Rote Zone – gelbe Karte
Rom schaltet die Corona-Ampel für Südtirol auf rot – und Südtirol zeigt Rom die gelbe Karte. “Überrascht”, “enttäuscht”, “verärgert” treten der Landeshauptmann und sein Gesundheitslandesrat am Freitag Abend vor die Kameras. Die Einstufung der Autonomen Provinz Bozen als “rote Zone” sei wie aus heiterem Himmel gekommen und könne keinesfalls hingenommen werden, so der Tenor. “Unser Gesundheitsbetrieb hat völlig andere Daten”, sagt Arno Kompatscher. Daher habe er, als ihn Gesundheitsminister Roberto Speranza am Vormittag telefonisch über die Einstufung informiert habe – für Südtirol soll ab Sonntag, 17. Jänner die Ampel von gelb direkt auf rot schalten, mit sämtlichen Schließungen für Gastronomie, Handel und Einschränkung der Bewegungsfreiheit – den Sanitätsbetrieb umgehend um eine Stellungnahme gebeten. Und die habe schließlich die Landesregierung, die am Nachmittag zu einer Krisensitzung zusammengekommen ist, dazu bewogen, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen: Südtirol soll gelb bleiben, bis auf weiteres wird sich nichts an den geltenden Corona-Regeln ändern.
Die Situation sei “nicht perfekt, aber relativ unter Kontrolle und sogar leicht besser als in den vorigen Wochen, als Südtirol immer gelbe Zone war”, berichtet Landesrat Thomas Widmann in Berufung auf die Analyse des Sanitätsbetriebs. Warum aber kommt das Gesundheitsministerium, das ja die Daten von ebendiesem Sanitätsbetrieb geliefert bekommt, zu völlig anderen Schlüssen?
Das “Hauptindiz” sieht Widmann in den 21 Faktoren, die das Ministerium zur Einstufung der Regionen und Autonomen Provinzen heranzieht. Vier davon würden in Rom “völlig falsch interpretiert”. Laut Widmann folgende:
- die Positivrate: 37,1% der erstmals mittels PCR-Test Getesteten sind positiv; laut dem Gesundheitslandesrat deshalb, weil in Südtirol “massiv” Antigentests durchgeführt werden, auf die nach zehn Tagen ein PCR-Test folgen muss, um – bei negativem Ergebnis – aus der Quarantäne entlassen zu werden; “87% sind bei diesem PCR-Test noch positiv und scheinen als erstmals positiv getestet auf, was aber nicht so ist, weil sie bereits zuvor als Positive erfasst waren – ohne Antigentests wäre die Positivrate also deutlich niedriger”, meint Widmann; Rom erkenne das nicht an
- die Inzidenz: mit 320 Infektionen pro 100.000 Einwohner in der Woche liege Südtirol “gleichauf mit anderen Regionen, die nicht ‘rot’ sind”, so Widmann; und es sei klar, dass mehr Positive gefunden werden, wenn – wie in Südtirol – mehr getestet werde
- die Bettenauslastung: die Intensivbetten seien zu weniger als der kritischen Warnschwelle von 30% belegt; auf den Normalstationen, wo die Warnschwelle bei 40% festgelegt wurde, gebe es 538 medizinische Betten, die anderen Abteilungen zur Verfügung gestellt würden, aber jederzeit als Covid-Betten reaktivierbar seien – “und diese rechnet Rom nicht ein, sondern bestätigt uns eine Auslastung von 46%”, ärgert sich der Landesrat, “dabei lagen wir immer unter den 40%”
- die Reproduktionszahl: vor zwei Wochen sei der R-Wert in Südtirol bei 0,76, vorige Woche bei 0,81 gelegen; jetzt beträgt er laut Gesundheitsministerium 1,5 und damit deutlich über dem Wert von 1,25, bei dem eine Region als “rot” eingestuft wird; Widmann berichtet, dass “ein Experte, der auch für das Istituto Superiore della Sanità (ISS) und das technisch-wissenschaftliche Komitee (Cts) arbeitet”, Südtirol einen “sinkenden” R-Wert bestätigt, der aktuell bei 1,2 liege – damit würde Südtirol “orange”; der Biostatistiker Markus Falk käme sogar auf einen aktuellen R-Wert von 0,81; die großen Diskrepanzen kann (sich) der Landesrat nicht erklären, “dazu müssen Sie die Techniker fragen”, antwortet er auf Nachfrage
All diese Punkte habe man auch in einem Schreiben an das Gesundheitsministerium, das ISS und das Cts festgehalten, in dem man die römischen Behörden auffordert, die Einstufung Südtirols als “rote Zone” zurückzunehmen, berichten Kompatscher und Widmann. “Laut Sanitätsbetrieb sind wir im Moment ‘gelb’ und können offen lassen”, meint der Gesundheitslandesrat. Das habe man sich vom Sanitätsbetrieb schriftlich bestätigen lassen. “In einem Schreiben an den Gesundheitslandesrat und den Unterfertigten ist festgehalten worden, dass es die derzeitige epidemiologische Lage erlaubt, die derzeit geltende Regelung aufrecht zu halten”, sagt der Landeshauptmann.
Aufgrund der Empfehlung des Sanitätsbetriebs werde er auch noch am Freitag eine Verordnung unterzeichnen, mit der er bestätigt, was er am Dienstag angekündigt hat: “Alles, was derzeit gilt, gilt bis auf weiteres auch weiter.” Mit zwei kleinen Verschärfungen: Bars dürfen nach 18 Uhr kein Take Away mehr anbieten und Skihütten müssen um 16 Uhr schließen sowie ein Ausschankverbot für Hochprozentiges und eine Reservierungspflicht einhalten. Zur Durchführung der Kontrollen werden die Forstbehörden die Ordnungskräfte unterstützen. Gegen 20 Uhr wird die Verordnung Nr. 2/2021 dann veröffentlicht.
In Rom wird man die Entscheidung der Südtiroler Landesregierung, die Corona-Ampel nicht umzuschalten, nicht stillschweigend hinnehmen. Auf die Frage, ob er davon ausgeht, dass die Regierung seine Verordnung anficht, antwortet der Landeshauptmann ausweichend. Minister Speranza habe sich “sehr höflich und bereit zur Auseinandersetzung mit den Daten” gezeigt, die auch schon begonnen habe. “Ich bin zuversichtlich, dass wir mit den Daten überzeugen können.” Er habe das Ampelsystem an sich und die Einstufung je nach Infektionslage nie in Frage gestellt und tue das auch weiterhin nicht, betont Kompatscher. “Aber es besteht eben das Risiko, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden.”
Viel schärfer ist der Ton, den Gesundheitslandesrat wählt: Die Einstufung als “rote Zone” sei “nicht nur falsch, sondern absolut inakzeptabel”, damit könne man “nicht einverstanden” sein und für Widmann ist es “richtig, das nicht zu akzeptieren”, denn ansonsten würde Südtirol “unvorstellbarer Schaden” entstehen.
Südtirol hat eine 7-Tages-PCR
Südtirol hat eine 7-Tages-PCR-Inzidenz von 273, Österreich liegt diesbezüglich bei 137.
Südtirol: Es gibt keinen Grund, etwas zu ändern, es bleibt alles offen.
In Österreich wird die Regierung auf Anraten der Experten am Sonntag eine Verlängerung des Lockdowns bis weit in den Februar hinein beschließen, vermutlich verbunden mit einer Verschärfung der Maßnahmen (generelle FFP2-Maskenpflicht, auf zwei Meter vergrößerter Mindestabstand, verpflichtendes Homeoffice und intensive Testungen). Eine zentrale Rolle dabei spielen die möglichen Auswirkungen der nun auch in Österreich nachgewiesenen britischen Mutation auf die ohnehin weiter als zu hoch eingestuften Neuinfektionszahlen.
https://orf.at/stories/3197576/
Ein Blick nach Großbritannien, Irland und Tschechien zeigt, dass Österreich gut daran tut, nicht lockerzulassen und das Virus wirksam einzudämmen. Für Südtirol wird die Entscheidung der Landesregierung in einigen Wochen leider sehr unangenehme Auswirkungen haben.
Die Aussagen von Herrn
Die Aussagen von Herrn Widmann sind - zumindest von außerhalb Südtirol betrachtet - nicht nachvollziehbar.
Die Mehrheit der epidemiologischen Wissenschaft hält eine Reduktion der Infektionszahlen auf deutlich unter 50 Neuinfektionen /100t EW / 7 Tage für geboten um nachhaltig zu lockern, sei es Schulen, Wirtschaft, Gastro,...
Zumindest für einen in Systemen denkenden Ingenieur wie mich ist das nachvollziehbar, dass man bei niedrigen Zahlen mit Contact Tracing mehr lockern kann und stabil bleibt als bei hohen Zahlen wo das Contact Tracing nicht rechtzeitig hinterherkommt und dadurch dieses wichtigste Mittel ausgehebelt ist. Stichwort "nicht lineare Reglereffektivität".
Zum Vergleich: In München haben wir 500 Personen (Gesundheitsamt+Bundeswehr+Polizeiaushilfe...) in 2 Schichten die so ab 500 Infektionen pro Tag so deutlich ins Hintertreffen geraten dass Infektionsketten oft ungehindert weiterlaufen.
Zweitens braucht man jetzt einen "Vorhalt" wie wir es in der Technik nennen wenn sich ansteckendere Varianten ausbreiten. In Irland ist man innerhalb 3 Wochen von - für südtiroler Verhältnisse - sehr wenig Infektionen auf katastrophale Zahlen hochgeschossen.
Daher wird man hoffentlich in Deutschland mit harten Maßnahmen jetzt weiter auf unter 50 kommen. Das wären in Südtirol ca. 40 Infektionen pro Tag.
Es sieht für mich leider so aus, dass die Landesregierung meiner Heimat hier jetzt den Karren bzgl. Gesundheit UND Wirtschaft das 3. Mal an die Wand fährt.
Im März das erste Mal weil man lieber gegen das RKI protestierte während 1/3 von Gröden im Bett lag und 20 Tests pro Tage gemacht wurden, im Oktober als man den Lockdown so lange hinauszögerte und die Lockerungen so früh ansetzte dass Krankenhäuser sehenden Auges überliefen und bis heute eine Notlage in den Strukturen herrscht , d.h. schlechtere Behandlung vieler Krankheiten in Kauf genommen wird. In München reichen bei Inzidenz von Südtirol zu Weihnachten (250-300/100t/7T) , nur 3facher Einwohnerzahl 600 Intensiv-Betten (9-fach!) nicht mehr aus, es gab ein Hilfeschrei der Ärzte.
Wer erklärt mir diese Differenzen?
Diskussionen über R Wert Berechnungen sind da reine Stellvertreterkriege.
Gerne würde ich dazu wenigstens bei Salto im Gegensatz zu dem anderen "bildungsfernere Schichten" bedienenden Onlineportale Antworten dazu lesen warum die Regierung, Herr Widmann und Herr Kompatscher, leider keine Naturwissenschaftler, so vorgehen.
Antwort auf Die Aussagen von Herrn von Mumelter Georg
Das
Das Kontaktnachverfolgungsteam des Südtiroler Sanitätsbetriebs ist offenbar ca. 100 Personen stark. Es ist klar, dass dieses Team bei 300-400 Neuinfektionen täglich keine Chance hat, ein wirksames contact tracing durchzuführen. Das Virus ist also in Südtirol mehr oder weniger außer Kontrolle.
In Deutschland und seit Sonntag auch in Österreich hat es die Regierung zum Ziel erklärt, in der 7-Tages-Inzidenz unter 50 zu kommen. Denn nur dann ist Kontaktnachverfolgung möglich.
Außerdem ist eine niedrige Inzidenz auch im Hinblick auf ansteckendere Virusvarianten essenziell. Die britische Variante ist in Südtirol noch kaum Thema, während man in Deutschland und Österreich bereits die weiteren Maßnahmen danach ausrichtet. Es wäre ja schön, wenn die Variante Südtirol nicht erreicht. Nur leider ist das sehr unwahrscheinlich. Vielleicht ist sie auch bereits im Land.
Zur Veranschaulichung: Nach Berechnungen des renommierten European Bioinformatics Institute wird die in Großbritannien festgestellte Virus-Variante für sechs- bis achtmal mehr Corona-Fälle im Monat (!) sorgen als das herkömmliche Virus.
Weshalb die Landesregierung so handelt, kann nur spekuliert werden. Im Spätsommer/Herbst hatte man sich ja eher an die (wenig später grandios gescheiterte) österreichische Strategie gehalten und es eher locker genommen, so dass man zeitweise die höchste Wocheninzidenz in Europa hatte. Nun setzt man offenbar eher auf den italienischen Weg, inzidenzzahlenmäßig so dahinzujonglieren, dass die Kapazität in den Krankenhäusern gerade mal so ausreicht. Die kritischen Stimmen zu dieser Strategie mehren sich aber auch in Italien. So hat Prof. Ricciardi, der Berater des Gesundheitsministeriums, letztens erklärt, dass ein drei- bis vierwöchiger landesweiter harter Lockdown nötig wäre, um die Situation unter Kontrolle zu bringen und damit auch die Impfkampagne zu schützen.
Schließlich ist auch zu bedenken: Je mehr das Virus grassiert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass neue Varianten entstehen.
Antwort auf Das von Thomas Unterwinkler
... die beiden vorhergehenden
... die beiden vorhergehenden Kommentatoren zeigen eine Problematik auf, welche so manchen bewegt: wie wird man sich später rechtfertigen, dass man nicht den Vorsichtigen folgte (Prävention), als Ziel die Reduktion auf eine geringe Wocheninzidenz definiert(e) und entsprechend handelt(e), um Volksgesundheit UND Wirtschaft nachhaltig, ja nachhaltig und dauerhaft zu bessern und zu sichern?
Was zeigt der derzeitig vorgegebene Weg? ... die Anzahl der Intensivpatienten beginnt (wieder) exponentiell zu steigen.
Antwort auf ... die beiden vorhergehenden von Peter Gasser
Bemerkens- und bedauernswert
Bemerkens- und bedauernswert ist ja auch, dass man über die Anzahl der Toten kaum noch spricht. 9 seit gestern, bisher 81 im Jänner und 820 insgesamt. Man hat sich scheinbar an die hohe Anzahl der Toten „gewöhnt“.
Auch in diesem Bereich stehen wir gegenüber Tirol (564 Todesfälle bei 755.000 Einwohnern) und Bayern (8.978 Todesfälle bei 13 Mio. Einwohnern) gar nicht gut da.