Sonntag, 20.15 Uhr, ARD: Seit Jahren ziehe ich mir den „Tatort“ rein, der mal besser, mal schlechter ist, und mir nicht selten unruhige Nächte beschert. Ganz schlimm war es, als ich Bekanntschaft mit Kai Korthals gemacht habe, dem unheimlichen Zahnbürstenabschlecker, der arglosen Frauen in ihren Wohnungen auflauert. Irgendwann lässt einen die Gewissheit, dass alles nur Fiktion ist, dann aber doch den Grusel verdrängen und beruhigt wegschlummern.
Alles nur Fiktion. Könnte man das über den Fall, der derzeit über Südtirol hinaus Medien und Gemüter bewegt, auch sagen: Es legitimierte die Leichtfertigkeit und Geschwätzigkeit, mit der er ausgerollt wird. Der Bozner Vermisstenfall aber ist beinharte Realität. Wir sind eine überschaubare Gesellschaft, über drei Ecken kennt jede*r jede*n; vielleicht kennen Sie die Vermissten persönlich, vielleicht kennen Sie ihre Angehörigen, ihre Freunde. Vielleicht sind der Schmerz und die Verzweiflung, die letztere seit bald einem Monat spüren, nur einen gemeinsamen Bekannten entfernt. Dieser Fall spielt mitten unter uns, er bricht Menschen mitten unter uns. Trotzdem legen wir im Umgang damit eine Sensationsgeilheit und Taktlosigkeit an den Tag, als handle es sich bloß um einen Vorabendkrimi mit besonders spannendem Plot, den es zusammen zu lösen gilt.
Wir, das sind Medien, die durchaus (und berechtigterweise) verschwiegen und zurückhaltend sein können, wenn es etwa um private Geschichtchen von Politiker*innen geht. Die aber kein Halten kennen, wenn eine nicht-prominente Familie eine Tragödie durchlebt. Die Facebook nach Fotos durchforsten, als gelte es, eine Telenovela zu bebildern. Die private Details über die Betroffenen publik machen, als hätten diese mit der Tatsache, dass sie ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt sind, ihr Recht auf Privacy verwirkt. Die Mutmaßungen, Andeutungen, ja Diagnosen mit einer Unbekümmertheit in den Raum stellen, als wären sie Forensiker oder Gerichtspsychiater. Die das Ganze salopp als „Krimi“ oder „giallo“ betiteln, und somit die Einladung aussprechen: He, fiebert alle mit, wir liefern euch jeden Tag ein neues Puzzlestück, und wenn es auch nur eine mehrminütige Filmaufnahme des Wohnhauses der Verschwundenen ist. Nichts liefern ist keine Option, dafür stellen wir uns auch ans abgesperrte Etschufer und raten munter, was denn nun gefunden oder nicht gefunden worden sein könnte: Eine Jacke? Eine Decke? Oder gar die Körper selbst? Es ist alles nur ein (makaberes) Spiel.
He, fiebert alle mit, wir liefern euch jeden Tag ein neues Puzzlestück, und wenn es auch nur eine mehrminütige Filmaufnahme des Wohnhauses der Verschwundenen ist
Wir, das ist aber auch das Publikum, das dieses Spiel bereitwillig mitspielt. Das dürstet nach der täglichen Portion „Die dunklen Geheimnisse des B. N.“, meist versehen mit dem scheinheiligen Hinweis, dass nach wie vor die Unschuldsvermutung gilt: Wenn dem so wäre, müsste die Berichterstattung dann nicht anders aussehen? „[…]la tutela della persona umana e il rispetto della verità sostanziale dei fatti principi da intendere come limiti alle libertà di informazione e di critica“, diese gilt es laut journalistischer Berufsethik zu wahren. Passieren tut das eher nicht. Auch weil wir, das Publikum, so begierig aufsaugen, was uns an Trivialem und dem öffentlichen Interesse ganz gewiss nicht Unabdingbarem vorgesetzt wird, und es weiterspinnen, zu Thesen, Rekonstruktionen, die in grotesken Tipps an die Ermittler gipfeln, wo sie denn nun suchen, wie sie denn nun ein Geständnis aus dem Tatverdächtigen herauspressen sollen. Manche Qualitätsmedien deaktivieren bei Artikeln zu bestimmten Themen den Kommentarbereich. Diese Vorgehensweise, die nicht nur Angehörige, sondern auch die Kommentator*innen schützt, nämlich vor ihrer eigenen Unbedachtheit, scheint noch nicht bis zu uns vorgedrungen sein. Es ist alles sehr unappetitlich, wenn man ständig im Hinterkopf hat, dass es sich bei dieser Sache eben nicht um einen Krimi handelt, den Drehbuchautor*innen zu unserem Vergnügen erdacht haben. Der nicht pünktlich um 21.45 Uhr zu Ende sein und dessen Dramatik sich nicht in wohlige Genugtuung auflösen wird. Dass wir hier eine unfassbare Tragödie, an der gar einige Menschen ein Leben lang zu tragen haben werden, wie ein grellbuntes Groschenheft rezipieren.