Gesellschaft | Symbolische Gefechte

Identitätspolitik und Steuerparadiese

Gesellschaftspolitische Diskurse scheinen sich lieber an Symbolischem abzuarbeiten, als unbequeme Kontroversen über die Ursachen von Ungleichheit auszutragen
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Eine junge, preisgekrönte niederländische Übersetzerin legt nach Protesten den Auftrag zur Übersetzung des Werks einer jungen amerikanischen Lyrikerin zurück. Die Aufregung darüber, dass eine weiße Person an der Übersetzung des Werks einer Schwarzen beteiligt sei, habe sie schockiert und sie verstehe, dass sich manche dadurch verletzt fühlten. Dabei hätte die Autorin enthusiastisch auf die Wahl ihrer Übersetzerin reagiert, die sich selbst als „nicht binär“ definiert und somit ebenfalls einer Minderheit zugehörig ist.
Ein junger Südtiroler Tennisspieler, dessen Werdegang auch von steuerfinanzierten Vereinen und Infrastrukturen unterstützt wurde, verlegt nach dem sportlichen Durchbruch seinen Wohnsitz in ein ausländisches Steuerparadies. Unser ebenfalls steuerfinanzierter öffentlich-rechtlicher Rundfunk berichtet in seinen Nachrichtensendungen regelmäßig über die Arbeitsergebnisse dieses smarten, systemrelevanten Sportlers (Brot und Spiele) und widmet ihm, so wie heute Mittag, ab und zu auch ausführlicheren Sendeplatz. Um ihm sagen zu lassen, wie schön es doch sei, hame zu kommen. Keine unbequemen Fragen oder kritischen Überlegungen, keine Empörung in der Hörerschaft oder in der Südtiroler Öffentlichkeit.
Über Symbolisches, und sei es auch noch so theoretisch-hypothetischer Natur, scheint sich die Öffentlichkeit erregen zu können, die eigentlichen Ursachen der Ungleichheiten sind hingegen allzu selten Gegenstand öffentlicher Empörung. Was kann insor Bui dafür, dass das System so ist, wie es ist? Nichts. Das ist aber kein Grund, den Fall nicht zum Anlass zu nehmen, um über ein in der EU geduldetes Steuersystem zu sprechen, das die Gesellschaft in 2 Klassen einteilt, nämlich in jene der großen Unternehmen und gefragten Individuen, die für sich den internationalen Wettbewerb um die niedrigste Besteuerung zu nutzen vermögen, und in jene aller anderen, die - weil sie als Lohnabhängige, Selbstständige oder Unternehmen nicht ausreichend (!) Einkommen, Umsatz oder Profite generieren - einen viel höheren Steuersatz zu entrichten haben. Solange dieses System von der Öffentlichkeit nicht in Frage gestellt wird, solange der Druck auf die politischen Entscheidungsträger nicht erhöht wird, wird es das System bleiben, das es ist; jenes, bei dem alle wohlwissend voraussetzen, dass der Erfolg im Beruf auch automatisch jenen bei der Steuerreduzierung inkludiert.
Und solange wünschte ich mir, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk keine Meldungen über betreffenden Sportler serviert zu bekommen.

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Martin Daniel Sa., 06.03.2021 - 21:27

Kompliment Herr Freud, dank Ihrer exzellenten psychoanalytischen Fähigkeiten, die Ihrem berühmten Namensvetter alle Ehre machen, gelingt es Ihnen, eine gesellschaftspolitische Debatte auf Neid, Frust und beschränkten geistigen Horizont herunterzubrechen. Ich teile mit Ihnen die Ansicht, dass es bedenklich ist, dass diese Debatte über soziale Gerechtigkeit und die Rolle der Medien lediglich hier auf salto geführt wird. Danke auch dafür, dass Sie meine Annahme bestätigen, dass das aktuelle Steuersystem nicht in Frage zu stellen ist, weil es nun mal so ist, wie es ist.
Übrigens, Herr Freud, big news: Bei diesem Beitrag handelt es sich nicht um eine "Berichterstattung", sondern um eine Meinungskolumne.

Sa., 06.03.2021 - 21:27 Permalink
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Thomas Benedikter So., 07.03.2021 - 17:48

Antwort auf von Martin Daniel

Dein Befund zu den Steuerschlupflöchern, lieber Martin, kann nicht oft genug wiederholt werden. Die EU leistet sich diese Steuersümpfe, die geschätzte 1 Billion Euro an entgangenen Steuern für alle Mitgliedsländer mit sich bringen. Und immer noch keine konsequenten "schwarzen Listen" der Steuersümpfe", keine konsequente Strategie, Steuerschlupflöcher nicht nur für die Großkonzerne, sondern auch für die vielen Einzelschlaumeier und Großverdiener zu schließen. Das ist ärgerlich für die riesige Mehrheit der Steuerzahler, doch müssen sie halt irgendwann auch darauf politisch reagieren. Die obigen "Freud'schen Fehlleistungen" zur Verteidigung des neuen Tennis-Superstars können nicht beeindrucken. Es ist allenfalls ärgerlich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk über jeden Satzball des Balleleschlägers berichtet und ihm noch Sendezeit gibt, sein Privatleben auszubreiten wie in der Regenbogenpresse. Auch dazu müsste sich das gequälte Publikum mal in der Redaktion melden und nicht nur schnell den Radio abschalten.

So., 07.03.2021 - 17:48 Permalink
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Martin Daniel So., 07.03.2021 - 19:27

Antwort auf von Thomas Benedikter

Du sprichst den Punkt an, Thomas: Die Steuerzahler müssten politisch reagieren, aber die linken und links-liberalen Parteien als die historischen Vertreter der Lohnabhängigen zeigen derzeit andere Prioritäten. Beiderseits des Atlantiks haben sich ihre Schwerpunkte hin zu einer Anti-Diskriminierungspolitik unter verstärkter Wahrnehmung partikularer Befindlichkeiten und Bedürfnisse unzähliger Minderheiten verschoben und dabei die materiellen Gleichheitsanliegen aus den Augen verloren. Wolfgang Thierse, dem linken Flügel der SPD zugerechnet, meinte dazu kürzlich: "Themen kultureller Zugehörigkeit scheinen unsere westlichen Gesellschaften mittlerweile mehr zu erregen und zu spalten als verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen", wofür er im Netz als "faschistoide Dreckscheiße" bezeichnet und von der SPD-Spitze abgewatscht wurde. Zugleich diskutiert halb Italien über eine Dirigentin, die als "direttore" und nicht "direttrice d'orchestra" bezeichnet werden will. Die Mehrheit der Gesellschaft und ihre aberdutzenden, sich z.T. voneinander abgrenzenden Minderheiten liefern sich einen kulturellen Schlagabtausch um Opferrollen, Privilegien und die Macht der Sprache, ohne zu merken, dass sie alle im selben Boot sitzen und von den Schlaumeiern abgezockt werden. Und das alles spielt sich hauptsächlich in der Öffentlichkeit des linken und liberalen Spektrums ab. Rechtspopulisten, Vermögenden und anderen Profiteuren des aktuellen Systems kann diese Parzellierung der Gesellschaft nur recht sein, hindert sie doch den alteingesessenen Fabrikarbeiter in der Lausitz sich mit dem Soloselbständigen Schwulen aus der Großstadt, der Uni-Forscherin mit Migrationshintergrund und der sich einem diversen Geschlecht zurechnenden Busfahrerin über die wesentlichen Anliegen zu verständigen, die da vielleicht sein könnten: soziale Gerechtigkeit und Meritokratie, Rechtsstaat und Antikorruption, Frieden und Klimaschutz.

So., 07.03.2021 - 19:27 Permalink
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Hartmuth Staffler Mo., 08.03.2021 - 22:01

Unabhängig davon, ob man diesen Yannik Sinner sympathisch oder unsympathisch findet, ist das von Martin Daniel aufgeworfene Problem überlegens- und diskussionswert. Sinner ist ja nur das bedauernswerte Produkt einer Gesellschaft, in der Erfolg um jeden Preis zählt und "Steuervermeidung" als Zeichen von Intelligenz gilt.

Mo., 08.03.2021 - 22:01 Permalink
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Herta Abram Di., 09.03.2021 - 08:48

Ich finde eine Diskussion über die „Rechtmäßigkeit“ von Steuervermeidung sehr notwendig!
Wir wissen, dass unabhängig von Person oder Branche, oftmals - mit Zunahme des Reichtums- die Verlockung die Kosten zu minimieren, steigt. Wichtig ist/wäre hier zwischen, innerer und äußerer Rechtmäßigkeit zu unterscheiden:
Welcher Sachverhalt und welche Motivation, lenkte die Durchführung der Tat (Steuervermeidung)?
So könnte man vielleicht erfahren, inwieweit die Motive (ev. Eigeninteressen) mit den Normen (Gesetze) der Gesellschaft übereinstimmen.

Di., 09.03.2021 - 08:48 Permalink
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Sigmund Kripp Do., 11.03.2021 - 13:00

Ich finde, Martin Daniel wirft eine wichtige Problematik auf: Die übliche Flucht von Spitzensportlern in Steuerparadiese. Nun kann man sagen: es gibt einen weltweiten Steuerwettbewerb, und jeder Staat ist souverän, seine Steuern und Finanzen so zu gestalten, wie er es angemessen und erfolgversprechend hält. Und jede/r Bürger/in kann leben wo es passt.
Auf der anderen Seite gelten gerade im Sport Begriffe wie "Fairplay", "Fairness", Ehrlichkeit, Ächtung des Dopings etc. als Grundpfeiler der klassischen Olympioniken! Wenn nun ein so junger Bursche nach den ersten großen Erfolgen sofort sein Heimatland verlässt, nur um in einem Steuerparadies Geld zu sparen, handelt er den obgenannten Grundsätzen in schwerwiegender Weise zuwider! Seine kleine Heimat hat ihn gefördert, aufgebaut, unterstützt, gesponsort, (auch durch steuergeldgeförderte Organisationen) und nun, nur um ein paar schnöde Euros zu sparen, verlässt der Athlet das Land und zieht in eine Steueroase. Er zeigt seiner Heimat damit ganz klar: ICH will keinen Beitrag für diese Heimat leisten, ich behalte jetzt "mein" Geld für mich! Seine eventuellen Steuern sollen nicht die Südtiroler Krankenhäuser, die Strassen, die Öffis, die Schulen etc. mitfinanzieren. Nein! Dieses Geld behält der athletische Knabe lieber für sich! Ich finde, damit sollte kein/e Südtiroler/in mehr "stolz" auf dieses Tennistalent sein! Ganz im Gegenteil!

Do., 11.03.2021 - 13:00 Permalink
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Sigmund Kripp Do., 11.03.2021 - 16:47

@Siegfried Freud Ja, das ist wirklich unmöglich, dass bei uns jeder sagen kann, was er will! Bei Putin ist das nicht so. Und bei Xi Jinping noch weniger! Einfach Traumländer!

Do., 11.03.2021 - 16:47 Permalink
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Sigmund Kripp Do., 11.03.2021 - 18:01

Sie glauben wirklich, dass kein Verein in dem J.S. je war, und keiner der Sponsoren, die ihn fördern, je auch nur einen Euro öffentliches Geld bekommen haben? Ich war 20 Jahre im Gemeinderat und habe gesehen: j e d e r Verein bekommt Steuergeld. Und als Unternehmer sehe ich, dass auch bald jede Firma Steuergeld bekommt, und seien es nur Steuererleichterungen. Und als Steuerexperte müssten Sie wissen: es gibt wohl auch keine (der Sponsor-)Firmen in Italien, die keines bekommt! Oder?

Do., 11.03.2021 - 18:01 Permalink