Politik | Afghanistan

Jeder Schritt könnte der letzte sein

Die in Südtirol lebende Afghanin Fazila Khoja kämpft um die Ausreise ihres Mannes aus Afghanistan.
Fazila Khoja
Foto: Fazila Khoja

Fazila Khoja tritt aus dem Bozner Regierungskommissariat, läuft durch den riesigen Vorgarten und steht wieder allein auf der Straße. Ein Moment der Erleichterung drängt sich in ihre rasch alternden Züge. Sie, die Ameise, die als Einzelperson in Afghanistan nichts, aber schon rein gar nichts bewegen kann, hat es geschafft, das letzte noch fehlende Dokument, eine Bestätigung der Einreiseerlaubnis ihres Mannes zu erhalten. Damit will sich die 24-jährige Afghanin, die mit ihrer Familie seit neun Jahren in Südtirol lebt, an das italienische Außenministerium wenden: Ihr Mann muss aus Afghanistan nach Italien gerettet werden. Bedenkt man, dass die Taliban die Afghanen an der Ausreise hindern, ein beinahe unmögliches Unterfangen. Ob ihr Mann das Land noch lebend verlassen kann? Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie schluckt sie hinunter, schiebt ihre Sonnenbrille auf das verweinte Gesicht.

Fazilas Mann war an der Universität von Samagan als Religions- und Englischlehrer tätig. Schon seit Jahren wird er aufgrund seiner Tätigkeit von den Taliban verfolgt. Er flüchtete in den Iran, von dort aus versuchte er mit Fazilas Hilfe nach Italien zu gelangen. Doch die Einreiseerlaubnis lässt auf sich warten, er muss zurück in den Afghanistan. Über zwei Jahre haben die beiden versucht, die nötigen Dokumente zusammenzukratzen. Und dann, kurz vor dem Ziel, brachen die Taliban über Afghanistans Hauptstadt herein. Nur wenige Wochen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen erobern sie das Land zurück und versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die Fluchtwege sind versperrt, jeder Schritt auf die Straße könnte für Fazilas Mann der letzte sein.

Ich versuche ein Menschenleben zu retten und darf es nicht. Hier in Südtirol pflegen wir einen Vogel oder einen Igel, wenn sie sich verletzen, wieder gesund. Aber ein Menschenleben können wir nicht retten.

“Mein Gehirn spielt nicht mehr mit”, erzählt Fazila aufgelöst. “Ich kann nicht mehr klar denken.” Erst gestern hat sie die Nachricht erreicht, dass ihr Schwiegervater, der wie Fazilas Mann den Zorn der Taliban durch seine Arbeit an der Universität erregt hat, ermordet worden war. “Geschlachtet”, wie Fazila sagt, “mit einem Messer geschlachtet wie ein Tier.” Seinen Kopf hätten die Taliban zusammen mit einem Brief an die Schwiegermutter geschickt und angekündigt, dass auch ihre Söhne bald schon so enden würden. Einer der beiden Söhne wurde bereits verhaftet, Fazilas Mann hält sich weiter in Kabul versteckt. “Er schreibt mir, dass ich mir keine Sorgen machen soll”, Fazila verdreht die Augen. “Dass sie seinen Vater ermordet haben, wollte er mir erst gar nicht sagen.”

Schon am Freitag hatte Fazila sich ans Fernsehen gewandt. In der Hoffnung, die Gesellschaft in Südtirol sensibilisieren zu können, erzählt sie ihre Geschichte. Noch am selben Tag klopfen die Taliban am Haus, in dem sich ihr Mann versteckt hält, an. Er muss flüchten, findet ein neues Versteck und taucht unter. Fazila hat Angst, sie weiß nicht, wie sie vorgehen soll. “Ich wollte mit keinen Journalisten mehr sprechen”, erzählt Fazila. “Aber mein Vater hat gesagt, dass ich kämpfen muss. Hier in Südtirol können mir die Taliban nichts anhaben. Ich kann nicht zu Hause herumsitzen. Ich muss etwas tun.”

 

 

Weil ihr Vater auf der schwarzen Liste der Taliban stand, war sie der ständigen Gefahr einer Vergewaltigung oder Entführung ausgesetzt.

Also wendet sich Fazila ans Regierungskommissariat, um die Bestätigung der Einreiseerlaubnis für ihren Mann zu erzwingen. Termin wollten sie ihr keinen geben, sie geht einfach hin. “Non ha un appuntamento signora?” Fazila, die fließend deutsch und italienisch spricht, verneint und legt ihre Situation dar. “Ich habe versucht, meine Situation zu erklären, habe geweint. Erst haben sie mich nicht verstanden. Sie haben sogar die Polizei geholt. Ich dachte: Vielleicht sperren sie mich jetzt hier ein.” Aber nach einigen Minuten ist die Situation geklärt. Die Beamten haben Mitleid, erklären aber, dass es nicht in ihrer Macht stünde, einzugreifen. “Non possiamo fare niente signora.” Fazila wird wütend. “Nein”, sagt sie bestimmt. “Ich bin die Ameise, ich kann nichts machen. Sie aber können etwas tun. Ich brauche dieses Dokument, das bezeugt, dass mein Mann einreisen darf.” Nach einigem Bitten und Flehen wurde ihr das Dokument schlussendlich ausgestellt. “Sie waren sehr freundlich”, meint Fazila, “aber, ob das genügen wird…?”

Fazila selbst lebt mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in Brixen. Sie erinnert sich, wie das damals war, vor ihrer Flucht aus dem Afghanistan: “Ich durfte nicht zur Schule gehen und musste immer begleitet werden. Alleine lassen konnte man mich nicht. Nicht für einen Tag, nicht für eine Stunde und auch nicht für fünf Minuten.” Weil ihr Vater auf der schwarzen Liste der Taliban stand, war sie der ständigen Gefahr einer Vergewaltigung oder Entführung ausgesetzt. “Die Taliban wollten mich mit einem der Ihren verheiraten. Dafür würden sie meine Familie in Ruhe lassen.” Fazilas Vater weigerte sich, seine Tochter preiszugeben. Sie mussten flüchten: über den Iran, die Türkei, nach Griechenland und Italien.

“Es tut mir unglaublich leid für die Menschen in Afghanistan, vor allem für die Frauen. Es tut mir im Herzen weh für sie”, sagt Fazila. Aber ihre Gedanken und Bemühen gelten in diesem Moment vor allem ihrem Mann: “Ich versuche ein Menschenleben zu retten und darf es nicht. Hier in Südtirol pflegen wir einen Vogel oder einen Igel, wenn sie sich verletzen, wieder gesund. Aber ein Menschenleben können wir nicht retten.” Trotzdem hat Fazila die Hoffnung noch nicht aufgegeben: “Vielleicht setzt sich jemand, der mehr Macht hat als ich, für meinen Mann ein. Er muss nach Italien ausgeflogen werden. Ich hoffe es”, meint sie erschöpft, “aber ich mache mir nichts vor.”

 

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Peter Gasser Sa., 21.08.2021 - 09:42

“ Es tut mir unglaublich leid für die Menschen im Afghanistan, vor allem für die Frauen. Es tut mir im Herzen weh für sie”.

“Hier in Südtirol pflegen wir einen Vogel oder einen Igel, wenn sie sich verletzen, wieder gesund. Aber ein Menschenleben können wir nicht retten”.
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“Non possiamo fare niente signora”.
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Unsere Welt. Leider.

Sa., 21.08.2021 - 09:42 Permalink
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Karl Trojer Mo., 23.08.2021 - 09:47

Wir können sehr wohl was tun, um Flüchtlingselend zu lindern, wir müssten es tun wollen ! So könnten unsere PolitikerInnen dieser Frau bei der Beschaffung der noch erforderlichen italienischen Papiere zur Seite stehen. Unsere Gemeinden könnten bevölkerungsanteilig beschließen, den Flüchtlingen (z.B. den Syrern) über die Organisation Sant Egidio in Rom Unterkünfte, Verpflegung und Arbeitsplätze vor Ort anzubieten: Jeder von uns kann Flüchtlingen in seinem Umfeld bei der Integration behilflich sein.

Mo., 23.08.2021 - 09:47 Permalink