Gesellschaft | Durnwalder zum 80.

Psychohistorie von Macht und Ohnmacht

Über gesunden und destruktiven Narzissmus als Fluch und Begabung politischer Führungspersönlichkeiten. Ein Beitrag, der der Zensur zum Opfer fiel. Teil 1.
Luis Durnwalder
Foto: Othmar Seehauser
Über Luis Durnwalder zum 80. Geburtstag Neues zu schreiben, ist schwierig für jemanden, für den der Jubilar jahrzehntelang unausweichlicher Stoff für Beobachtung und Beschreibung war. Mein Blick, der einst am kritischen Journalismus geschärft war, ist gewiss milder und dadurch wohl auch gerechter geworden. Manchmal, wenn ich aus meinem Daheim in Klagenfurt in mein Daheim nach Südtirol komme, begegnen wir uns, vor ein paar Jahren hat er mir das Du angeboten, zwischendurch fallen wir dann doch wieder ins Sie. „Lugg“ gelassen hat er nicht: Keine Begegnung vergeht ohne Kommentar zur politischen Lage in Südtirol, die dabei süffisant anklingenden Untertöne seien aus Rücksicht auf die amtierende Nachfolgegeneration unterschlagen.
Oft sitzt er im Laurin, umgeben von einigen aus dieser Nachfolgegeneration, die ehrerbietig an seinen Lippen hängen, wohl in der Hoffnung, ein Stückchen von seinem Erfolgsgeheimnis abzubekommen, von diesem Fluidum der Macht und Durchsetzungskraft, das er regelrecht verströmt, wenn er einen Raum betritt. Und doch wirkte er zuletzt, belastet von nachhängenden Gerichtsverfahren, dann und wann auch so etwas wie müde – meist nur ganz kurz, um sich wieder kampflustig aufzurichten.
Mein Blick, der einst am kritischen Journalismus geschärft war, ist gewiss milder und dadurch wohl auch gerechter geworden.
Schwäche zu zeigen, ist einem wie ihm nicht erlaubt. Ein einziges Mal habe ich ihn in solchem Sinne erlebt, als wir über den Tod von Alexander Langer sprachen. Es war eine Frage: Haben Sie nie einen Moment, wo sie gern einen Knopf hätten, mit dem alles vorbei ist, wenn sie darauf drücken, einfach alles vorbei?
Der Mensch hinter dem Machtsystem, der Verletzliche hinter dem Stiernacken geriet damit auch in den Blick meiner späteren psychoanalytischen Auseinandersetzung mit Südtirol als ein besonders exemplarisches – weil überschaubar kleines, ungemein verdichtetes – Labor für politische Wechselwirkungen zwischen Staat und Minderheit, aber auch zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten.
 
Schwäche zu zeigen, ist einem wie ihm nicht erlaubt.
Eine überragende politische Führungspersönlichkeit, die mehr als ein Vierteljahrhundert die Entwicklung eines Landes fast im Alleingang bestimmt, schlägt zwangsläufig auch in die Lebenswelten von Menschen durch – in Identifikationen und Abgrenzungen, Orientierungen und Blendungen. So lassen sich die Beiträge eines Bruderpaares in diesem Jubiläumsband als eine sich kontrastierend spiegelnde, im Blick zurück stimmige Beziehungsgeschichte zu Luis Durnwalder lesen, die im Persönlichen auch das Öffentliche wahrnimmt und im Öffentlichen das Persönliche entdeckt.
Mein Bruder Oskar und ich hatten unterschiedliche Aufgaben und Ansprüche, er jene der politischen Gestaltung, ich jene der gesellschaftlichen Beobachtung und Kontrolle, beides unverzichtbar in einer Demokratie. Im Abstand von elf Jahren in eine Familie hineingeboren, deren Eltern durch die Erfahrungen von Diktatur und Krieg politisch sensibel und wachsam waren, erlebten wir ein und dieselbe Geschichte in den unterschiedlichen Lichtbrechungen unserer Generationen und Rollenverständnisse. Für beide waren Magnago und Durnwalder Persönlichkeiten der Aufrichtung und Reibung, für meinen Bruder aus nächster Nähe, für mich aus einer – nicht immer ungefährlichen – Distanz.
Wie tief das gehen konnte, habe ich in meiner Psychoanalyse Südtirols1 an einem Vatertraum darzustellen versucht, in dem auch Luis Durnwalder eine Rolle spielte. Die Rahmenhandlung war meine damalige geradezu tägliche Auseinandersetzung mit den Machtdynamiken in einem winzigen Land, das dank der Autonomie von 1972 mit einer derartigen Fülle von Gesetzesbefugnissen ausgestattet ist, dass es dafür kaum das nötige politische Personal hat. Jede*r kennt jede*n, jede*r ist irgendwie mit jemandem verbandelt. Ich habe diese Enge und Abhängigkeit zusammen mit meinen Redaktionskolleginnen und -kollegen der Wochenmagazine „ff“ und „südtirol profil“ sowie der Tageszeitung „Südtirol 24h“ selbst verspürt: durch Versuche politischer Einflussnahme, durch „sanfte Korruptionsversuche“ mittels Politikerfrühstück und Vorabinformationen bei gewogener Berichterstattung, durch offene Anfeindung und schließlich (1993) durch Entlassung als Chefredakteur der „ff“ auf politischen Druck hin.
Eine Episode, die weit höhere Wellen schlug, als ich mir je gedacht hätte, bestand in einer Majestätsbeleidigung. Ich hatte Durnwalder gelegentliche Mimik zwischen durchaus sympathischem Lustinstinkt und hintergründiger Strategie als „ein ganz schweinisches Grinsen“2 beschrieben, worauf er mich klagte und auf meinen Herausgeber entsprechenden (damals noch abgewehrten) Druck ausübte.3 Ich deutete die auf der bewussten Ebene gar nicht so bös gemeinte Formulierung später als eine Art symbolischen „Vatermord“ 4, wie er in Deutung der Theorie von Sigmund Freud als notwendiger Schritt in die Mündigkeit junger Menschen zu verstehen ist. Tatsächlich bestand die Substanz des Artikels in einer Wertschätzung seiner volksnahen und leutseligen Art bei gleichzeitiger Kritik an seinem Machthabitus, auf der Titelseite als „Allmacht“ benannt. Die historischen Führungspersönlichkeiten aus der Zeit des Autonomiekampfes waren für meine Generation – die Nach-Achtundsechziger – schon zu alt und nett geworden, um gegen sie zu rebellieren. Sie waren gewissermaßen die „Großväter, die sich zwar mürrisch wunderten, wie frech die Enkel in die Stube stürmten und auf ihrer Nase herumtanzten, es aber letztlich mit großer Geduld und Gelassenheit ertrugen“.5 Erst der Amtsantritt der neuen, hemdsärmeligen Politikergeneration um Luis Durnwalder, die nicht mehr für den entbehrungsreichen Autonomiekampf, sondern für die satten, oft schon selbstgefälligen Erntejahre stand, erlaubte uns – in meiner Wahrnehmung – die offene Auseinandersetzung. Durnwalder reizte durch seine kraftstrotzende Art und seinen ausgeprägten Machtinstinkt geradezu zum Angriff und ermöglichte diesen zugleich.
 
Durnwalder reizte durch seine kraftstrotzende Art und seinen ausgeprägten Machtinstinkt geradezu zum Angriff und ermöglichte diesen zugleich.
 
So zeigt sich in meinem Kampf um „Unabhängigkeit“ und „Pressefreiheit“, so berechtigt ich diesen nach wie vor halte, auch die Bestätigung für eine ethnopsychoanalytische Grundannahme: dass in öffentlichen Auseinandersetzungen psychische Motive zum Tragen kommen, oft sogar stärker als im Privaten, weil im Öffentlichen ausgetragen werden kann, was im engeren zwischenmenschlichen Kreis sehr belastend wäre.6 Ich bin das jüngste von sechs Kindern, erlebte meine Eltern in meiner eigenen Pubertät als schon ältere Menschen, denen ich möglichst wenig Leid und Aufregung zufügen wollte (es natürlich trotzdem tat; aber es war eine verhaltene Rebellion mit dem schlechten Gewissen, gegen nicht mehr starke, sondern schwächer werdende Eltern aufzubegehren); das zweite Kind meiner Mutter, der erste Sohn Norbert, war nach wenigen Monaten Krankheit als Baby gestorben, für meine Mutter ein Schock und schwerer Verlust. Sie trug das tote Kind, erzählte sie später häufig, den über zwei Kilometer langen Weg vom Krankenhaus wie in Trance im Arm nach Hause; sein Bild stand, soweit meine Erinnerung zurückreicht, an ihrem Nachtkästchen, später in der Küche, wo sich die Familie an den Sonntagen traf. In einer autobiographisch-politischen Reflexion habe ich in den Dankesworten an meine Familie spontan auch Norbert erwähnt auf eine Weise, die mich nachträglich ergriff: Mein toter Bruder sei mir, schrieb ich, immer Ansporn gewesen, „habe ich doch Kraft und Leben, die ihm versagt blieben“.7
In der Narzissmustheorie fand ich später mögliche Bedeutungen einer solchen Stellvertreterrolle8 im Sinne einer transgenerativen Rollenweitergabe von einem verstorbenen Kind zu den nachgeborenen Geschwistern. Ohne es überbewerten oder gar dramatisieren zu wollen, mag der frühe Tod Norberts meine Geschwister und mich vielleicht zu einer die Mutter schonenden und durch Leistung und Arbeit tröstenden Lebenshaltung angehalten haben. Auffallend ist, dass es vor allem uns zwei Brüder in ein öffentliches Wirken drängte und trieb, meinen älteren (und Norbert noch näheren) Bruder Oskar in die Politik, mich in den Journalismus.
Die Verehrung für meine Mutter, die ich als Kind in jeder Hinsicht für vollkommen hielt, war stark ausgeprägt; nie hätte ich ihr irgendeine Verfehlung zutrauen können, in unserer Familie war sie in vielen Lebensangelegenheiten die treibende, in ethischen Fragen die Normen setzende Instanz. Mein Vater war in vielem milder, allerdings – wie es mir selbst geschehen kann – bei ausgereizter Geduld unvermittelt aufbrausend. Meine Pubertät und sein Lebensknick – eine Herzerkrankung und in Folge davon die vorgezogene Pensionierung – fielen fast zusammen. Als Kind hatte ich ihn als bärenstarken Mann erlebt. Aber als ich heranwuchs, konnte er bei Bergwanderungen, während ich mit Freunden davon stürmte, plötzlich nicht mehr den Schritt halten. Als ich mein erstes Motorrad bekam, brachte ich ihm, der sein Lebtag kein Auto hatte und nur mit dem Fahrrad fuhr, auch das Motorradfahren bei. So kamen die Rollen zwischen dem jungen Pubertierenden und dem von Alter und Krankheit an den Lebensrand geschobenen Mann wohl durcheinander.
 
 
 
Der journalistische Blick auf eine für Bekämpfung zu alte und zu liebenswürdige, weil auch kraftlos gewordene politische Vätergeneration findet damit eine Entsprechung in meiner eigenen Vaterbeziehung. Im Traum nun war es mein Vater, der – auch im Traumgeschehen schon verstorben – nach meinem Konflikt mit dem Landeshauptmann aus dem Jenseits zurückkam und beim Landeshauptmann für mich vorsprach, ja auf den Tisch haute, nicht schwach oder unterwürfig, sondern gespenstisch und mächtig, wobei sein Körper durch korsettartige Eisenteile verstärkt war. Wuchtigen und schweren Schrittes ging er auf den Landeshauptmann zu und ergriff Partei für mich. Psychoanalytisch geschulten Leserinnen und Lesern wird es nicht schwer fallen, in diesem Traum einerseits die Haupteigenschaft des Traumes im Sinne Freuds zu erkennen, nämlich jene einer Wunscherfüllung9, vermutlich dem Wunsch nach Schutz angesichts der ausgesetzten Situation, in der ich oft arbeiten musste. Es verging ja fast kein Weihnachten, an dem nicht im Verwaltungsrat „meiner“ Zeitung ein politisch veranlasster Misstrauensantrag gegen mich vorlag. Andererseits zeigt der Traum die enge Verknüpfung zwischen persönlicher Vaterbeziehung und politischer Machtstruktur auf. Ich habe meinen im Alter als geschwächt erlebten Vater, gegen den ich nicht mehr richtig rebellieren konnte, im Traum regelrecht „aufgerüstet“ und gegen den politischen Ersatzvater aufgeboten, auf den ich meine privat unterlassene Rebellion umgelenkt hatte. Als wenige Monate später der Landeshauptmann eine Versöhnungsgeste mir gegenüber erkennen ließ, war ich tief gerührt – ich empfand es wie eine väterliche Geste des Verzeihens und der Zuneigung, ganz unabhängig davon, dass ich rational weiterhin nicht von meinen Überzeugungen abzuweichen bereit war.
Ich hatte Durnwalder gelegentliche Mimik zwischen durchaus sympathischem Lustinstinkt und hintergründiger Strategie als „ein ganz schweinisches Grinsen“ beschrieben, worauf er mich klagte und auf meinen Herausgeber entsprechenden (damals noch abgewehrten) Druck ausübte.
Andererseits möchte ich einschränken: Vielleicht war es auch das Erleben eines letztlich weichen, gesprächsbereiten, liebevollen Vaters (mit polternden, aufbrausenden Zügen und einem offenen Blick für politische und soziale Missstände), der mir so viel Mut und Zuversicht gab, um politischen Autoritäten offen entgegenzutreten, wenn auch manches Mal mit einer angreifbaren und angegriffenen Emotionalität. Die moralische Aufrüstung durch eine Mutter, die um die ganze Welt – Tier und Mensch – leiden konnte, wenn ihr etwas ungerecht oder schmerzvoll schien, war in diesem Sinne wohl für uns Brüder auch die Anvertrauung einer Mission, auf die wir uns unterschiedlich einließen.
 

Narzissmus als politische Theorie am Beispiel der Tiroler und Südtiroler Geschichte

 
Die Mutter als Repräsentanz der heilen und heilungsbedürftigen Welt, der Vater als Repräsentanz für Vaterland und politische Macht sind – wie alle psychoanalytischen Deutungen – weder absolut zu setzen, noch monokausal zu verstehen. Auch für Freud waren gesellschaftliche und individuelle Handlungen von oft unentwirrbar verstrickten psychischen Motiven beeinflusst, sodass zu einfache Erklärungen immer auch relativiert werden müssen. Ein Zugang, um politisches Handeln zu verstehen, ist die Narzissmus-Theorie.  In der Tiroler und Südtiroler Geschichte finden sich immer wieder Erfahrungen der Demütigung, auf die ein Aufbäumen folgt – von Andreas Hofer 1809 bis zu den Südtirol-Attentaten in den 1950er und 1960er Jahren.
In der Untersuchung von kollektiven narzisstischen Phänomenen unterscheidet der türkisch-amerikanische Psychoanalytiker Vamik Volkan zwischen einem malignen, sadistischen und einem reparativen, sozusagen gesunden und positiven Narzissmus. Beide entstehen aus Kränkungen, die aber im einen Fall den Betroffenen so unzugänglich sind, dass sie nicht nur verdrängt, sondern von der eigenen Persönlichkeit geradezu abgespalten werden, während sie im anderen Fall wenigstens teilweise integriert und im günstigen Fall angenommen werden können und damit gesellschaftlich fruchtbar und nützlich werden (selbstverständlich mit Mischformen zwischen den Extremen).10 Dass sich in Südtirol – mit der Paket-Lösung von 1969 und einer Klimaverbesserung zwischen Rom-Bozen und Wien-Rom – die Gewaltwelle stoppen ließ und konstruktive Aushandlungsprozesse zwischen Land und Staat ebenso wie zwischen den Sprachgruppen im Land ermöglichte, ließe rückwärts gelesen auf einen doch weitgehend reparativ ausgerichteten Narzissmus als kollektiven Grundzug in Südtirols kollektiver Gestimmtheit schließen.
 
 
 
Für Volkan gibt es zwischen solchen Grundtendenzen in der Bevölkerung und ihrem Führungspersonal ein komplementäres Verhältnis. Je gekränkter, je gedemütigter, je entwerteter, je hungriger das kollektive Selbstwertgefühl einer Bevölkerung ist, desto grandioser muss die Selbstvorstellung der Führungspersönlichkeit sein. Narzissmus ist, nach der jüngeren Psychoanalyse, eine Grundbedingung menschlichen Daseins, noch keine Pathologie. Der gesunde Narzissmus nährt sich – im gelungenen Fall – an der Spiegelung, die das Kind aus seinem Umfeld erfährt und mit der es sich seines Daseins und Angenommen-Seins versichert, es lernt geliebt zu sein und dadurch sich für liebenswert zu halten, eine Voraussetzung, um auch selbst lieben und positiv auf die Welt zugehen zu können. Eine pathologische Ausprägung der narzisstischen Persönlichkeitsorganisation kann nach Volkan entweder durch extreme Kränkung und Zurückweisung oder aber auch durch Überidealisierung des Kindes nach vorangegangenen schweren Verlusten oder Traumata der wichtigsten Bezugspersonen entstehen: Wenn etwa eine Mutter eine Vergewaltigung oder den Tod eines Kindes nicht ausreichend betrauern und verarbeiten kann, sondern ihren Schmerz durch ein neugeborenes Kind unbewusst zu kompensieren versucht. Dieses nachgeborene Kind wird zwar übermäßig geliebt, aber nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch als Substitut für das verstorbene Kind oder als Trost für das Erlittene. Es muss die Mutter für das verlorene Glück entschädigen und wird dies durch außerordentliche Leistungen und ein ausgeprägtes grandioses Selbst versuchen, das aber – im Sinne dieser Theorie –  ein unbewusst verletztes Selbst ist, weil die Spiegelung nicht wirklich oder nicht ausschließlich ihm gegolten hatte.11
Mit seinem gezwungenen Dauerlächeln, seinem verbissenen Festhalten an Macht, seinem Dauerauftritt in den eigenen TV-Sendern, seiner vor der gesamten italienischen Öffentlichkeit zelebrierten Pseudojugendlichkeit durch Lifting und Haarverpflanzung, seinem zwanghaften und meist peinlichen Bedürfnis, lustig sein zu müssen, erfüllt Berlusconi zweifellos die Kriterien für eine narzisstische Führungspersönlichkeit
Seinen Stinkefinger, bei einem Auftritt in Bozen gegen Südtirol gerichtet, begründete der langjährige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi nachträglich mit folgendem Satz: „Meine Mutter fragte mich kürzlich, was es bedeute, wenn ihr jemand den Mittelfinger zeige. Meine Antwort war: ‚Dass ich die Nummer eins bin’.“12 Ein solches Bekenntnis legt wohl tiefe Schichten der Persönlichkeit Berlusconis frei: Mit seinem gezwungenen Dauerlächeln, seinem verbissenen Festhalten an Macht, seinem Dauerauftritt in den eigenen TV-Sendern, seiner vor der gesamten italienischen Öffentlichkeit zelebrierten Pseudojugendlichkeit durch Lifting und Haarverpflanzung, seinem zwanghaften und meist peinlichen Bedürfnis, lustig sein zu müssen, erfüllt Berlusconi zweifellos die Kriterien für eine narzisstische Führungspersönlichkeit. Zugleich erklärt es, warum Berlusconi trotz vieler blamabler Auftritte und einer auch wirtschaftlich desaströsen Politik 2004 und, nach einer neuerlichen Niederlage, auch 2008 wiedergewählt wurde und noch über 2020 hinaus eine einflussreiche Rolle im Mitte-Rechts-Lager spielen konnte: Der Mythos des erfolgreichen Aufsteigers, der die Welt verlacht, auch wenn sie über ihn lacht, kommt dem italienischen Verlust ehemaliger Größengefühls kompensatorisch entgegen: von der Weltmacht Rom zu einem meist krisengeschüttelten, wirtschaftlich in einen reichen Norden und einen armen Süden geteilten Staat. Gemessen an einem seiner Erben im populistischen Lager Italiens, dem Lega-Leader Matteo Salvini, können an Berlusconi zugleich auch reparative narzisstische Tendenzen gezeigt werden – er zielte auf eine Überhöhung Italiens ab, ohne aber deshalb mit der Europäischen Union auf Bruch gehen zu wollen und ständig auf die Schwächsten zu treten, wie es Salvini vielfach gegenüber geflüchteten und zugewanderten Menschen verbal und faktisch tut.
Narzisstische Kränkungen der Gruppe durch soziale Not, nationale Demütigung, Bedrohung von außen oder auch nur politische und wirtschaftliche Unsicherheit können den Aufstieg eines narzisstischen Führers erleichtern. Es kommt zu einer Passung der grandiosen Ambitionen eines Individuums mit den Bedürfnissen einer ausreichend großen Masse in der Bevölkerung.13 
Die maligne, sadistische, narzisstische Führungspersönlichkeit ist destruktiv. Sie sucht die Abwertung und Vernichtung entweder von Außenfeinden oder von Untergruppen der eigenen Großgruppe, um die eigene Größe besser davon abheben zu können, verbunden oft mit „Reinigungsakten“ zur Schuldabwehr: ethnische Säuberungen, Ausmerzung „fremder“ oder „entarteter“ Kultur. Die reparative Führungspersönlichkeit versucht dagegen, das Niveau ihrer Anhängerschaft, ihrer Großgruppe zu heben, um von einem höheren Niveau aus bewundert zu werden; „Reinigungen“ kommen vor, dienen aber eher der  moralischen Erneuerung oder dem Abwerfen historischen Ballasts als der Vernichtung jedweden „Unrats“. Als Beispiele nennt Volkan den Begründer der modernen Türkei Atatürk (für Volkan eher reparativ) und Adolf Hitler (destruktiv).
Der Übergang zwischen reparativem und destruktivem Narzissmus ist, von Extrembeispielen abgesehen, allerdings fließend. Eine reparative Führungspersönlichkeit kann sehr wohl trotzdem politische Widersacher ausschalten, aber das Hauptmotiv ihres Handelns ist nicht sadistischer Art, sondern auf das Ziel gerichtet, der eigenen Gruppe aufzuhelfen. Eine sadistische Führungspersönlichkeit wird in Teilzielen oder in Teilerfolgen reparative Leistungen vollbringen. Und es geht, je nach sozialem, politischem und historischem Kontext nicht nur um extreme letale Auswirkungen von Sadismus oder Reparation. Eine sadistische Führungspersönlichkeit in Kontexten, die Gewaltauslebung nicht zulassen, zeichnet sich vielleicht dadurch aus, dass sie im Betrieb Mitarbeiter entwertet, Konkurrenten ausschaltet und mit heimlichem Genuss Entlassungen anordnet – oder Mobbing ersatzweise als Vernichtungskampf betreibt.14 Eine reparative Führungspersönlichkeit wird im selben Betrieb vielleicht auch Entlassungen vornehmen, aber eher, um andere Arbeitsplätze zu schützen, sie wird mit den Entlassenen mitfühlen und die Maßnahme solange hinauszögern wie möglich oder durch Unterstützungsleistungen abzufedern versuchen; sie wird sich um Teamarbeit bemühen, was nicht ausschließt, dass sie auch darauf bedacht ist, Genugtuung und Bewunderung für sich zu ernten. Letztlich ist ein solcher Narzissmus wohl Antrieb, um sich überhaupt Führungsaufgaben zu stellen.
 
 
Narzisstische Führer sind meist erfolgreich, weil es ihnen gelingt, die äußere Welt entsprechend der inneren Forderung verändern zu können.
Narzisstische Führer sind meist erfolgreich, weil es ihnen gelingt, die äußere Welt entsprechend der inneren Forderung verändern zu können.15 Eine starke Anziehungskraft auf kleine oder große Gruppen, die sie sich zur Auslebung ihres Narzissmus suchen, ist nach Volkan kennzeichnend für eine narzisstisch-charismatische Führungspersönlichkeit: „Erfolgreiche Narzissten verwirklichen ihre Grandiosität.“16 Dabei hilft ihnen die teilweise Integration der eigenen Kränkungen oder zumindest deren Verdrängung durch Abwehrformen wie Verleugnung, Projektion, Introjektion – das hungrige Selbst wird verleugnet zugunsten des grandiosen Selbst, die Kränkung wird auf Außenfeinde projiziert oder aber introjiziert im Sinne von „geschluckt“. Nach außen, auf das Publikum aber strahlt das grandiose Selbst. Verleugnung, Projektion und Introjektion sind nach Volkan Abwehrstrategien für Kränkungen in der nicht mehr ganz frühen Entwicklung des Kindes und Heranwachsenden. Ist die Kränkung dagegen so früh und so überwältigend, dass die primitiveren Formen der Abwehr – vor allem die Spaltung – vorherrschen, kann es zu narzisstischen Pathologien kommen, wie dem Suchtphänomen mit Ähnlichkeiten zur Borderline-Störung, dem Grenzgang zwischen neurotischer und psychotischer Erkrankung.
Im öffentlichen Leben ist der Narzissmus oft gut integriert; erst in emotional intimen Beziehungen – wenn von Beziehungspersonen die bedingungslose Anerkennung des eigenen Größenselbst benötigt wird – treten die reiferen Abwehrmechanismen zugunsten der Spaltung zurück.17 Dies kann nachvollziehbar machen, warum die narzisstische Symptomatik im öffentlichen Leben oft erfolgreiche Auslebungsformen findet, während sie im privaten Umfeld schwieriger „lebbar“ wird – manche Schauspielkarriere und das dahinterstehende private Drama zeugen davon. Eine andere Erklärung wäre, dass im intimen Bereich das stets ebenfalls präsente, nur verborgene „hungrige Selbst“ stärker zum Vorschein kommt. Beides stellt gewissermaßen die andere Medaillenseite jener Grundannahme dar, dass im Öffentlichen ausagiert wird, was privat zu belastend wäre. Im Öffentlichen kann Narzissmus ausagiert werden, privat zerstört er – wenn er sich ins Pathologische steigert und keine Grenzen mehr kennt – jede Möglichkeit von Beziehung.
 
 
Kennzeichnend ist das narzisstische Wechselbad der Gefühle zwischen dem nach außen demonstrierten grandiosen Selbst und dem meist verdeckten hungrigen Selbst. Zwischenmenschlich kann dies bedeuten, dass zum Beispiel nach außen in ambivalenten oder seichten Beziehungen Anerkennung gesucht wird, während ein tatsächliches Ja und Sich-Anvertrauen schwer möglich ist. Die in solchem Sinne narzisstische Persönlichkeit gibt sich charmant, hat aber meist nur oberflächliches Interesse an anderen, scheint Menschen zu mögen, duldet aber keinen Widerspruch, wirkt verführerisch und lebt oft ein ungehemmtes Sexualleben, kann aber nicht lieben. Er oder sie tritt enthusiastisch für hohe Werte und Ideale ein, die aber schnell wechseln können, beeindruckt durch Wissen, doch dieses ist meist trivial oder instrumentell.18
Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsorganisation sammeln ununterbrochen Ruhm, ob im Bemühen um einen Wissenschaftspreis oder um die „Bewunderung am Schwimmbadrand“19; das bewundernde Publikum wird gebraucht, aber nicht immer loyal honoriert, sondern eher zur Hebung des eigenen Selbst entwertet. Das versteckt nagende „hungrige Selbst“ verrät sich leicht in der Sprache, etwa, wenn jemand die eigene Leistung als „unglaublich toll“ anpreist und seine Überlegenheit damit selbst als „unglaublich“, als nicht glaubhaft konterkariert. Oder jemand preist seine Schönheit, hält sich aber – für das noch ferne Alter – bereits ein Lager an Faltencremen zum Schutz vor den zu erwartenden narzisstischen Kränkungen.

Fotos: Othmar Seehauser

Lesen Sie morgen Teil 2.
 

1] Hans Karl Peterlini: Freiheitskämpfer auf der Couch. Psychoanalyse der Tiroler Verteidigungskultur von 1809 bis zum Südtirol-Konflikt, Innsbruck-Bozen-Wien 2010. Auf diese Publikation – hervorgegangen aus meiner Diplomarbeit „Die Sprengung von Macht und Ohnmacht“ (Universität Innsbruck) – greife ich, überarbeitet und neu reflektiert, auch für den hier abgedruckten Beitrag zurück, vor allem auf das Kapitel „Jenseits von Ödipus“ (S. 165-177).
2] ff – Südtiroler Illustrierte (jetzt Wochenmagazin), Ausgabe 18/91 vom 27.04.1991
3] Hans Karl Peterlini: Wir Kinder der Südtirol-Autonomie. Ein Land zwischen ethnischer Verwirrung und verordnetem Aufbruch, Bozen-Wien 2003: S.119
4] Sigmund Freud: Totem und Tabu, in: Ders.: Studienausgabe Bd. IX, hrsg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt a. M. 1974, S. 287-444, hier S. 315
5] Hans Karl Peterlini: Schreiben in einem eingeklemmten Land 1998a: Schreiben in einem eingeklemmten Land. Journalismus in Südtirol. Arbeiten zwischen Einschränkungen, schlechten Gewohnheiten und historischem Nachholbedarf, in: Aus der Norm. Arunda 47: Schlanders 1998, S. 121–148, hier S. 132.
6] Josef Berghold: Feindbilder und Verständigung. Grundfragen der politischen
Psychologie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2005, S. 129.
7] Hans Karl Peterlini, Wir Kinder, S. 206
8] Vamik D. Volkan/Gabriele Ast: Spektrum des Narzissmus. Eine klinische Studie
des gesunden Narzissmus, des narzisstischen-masochistischen Charakters, der narzisstischen Persönlichkeitsorganisation, des malignen Narzissmus und des erfolgreichen
Narzissmus. Göttingen – Zürich 1994, S. 47
9] Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe Bd. II. Frankfurt am Main
 1972, S. 525ff
10] Volkan/Ast, S. 92ff
11] Ebd.
13] Volkan / Ast 1994, S.153-156.
14] Vgl. Friederike Rothe: Vernichtung durch Kommunikation – aufgezeigt am Phänomen
„Mobbing“, in: OSC, Nr. 10/2003, S. 301–314, hier S. 306.
15] Vamik D. Volkan: Großgruppen und ihre politischen Führer mit narzisstischer Persönlichkeitsorganisation, in: Otto Kernberg/Hans-Peter Hartmann: Narzissmus. Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. Stuttgart – New York 2006, S.152
16] Ebd.: 153
17] Volkan/Ast 1994: 41
18] Ebd.: 50
[19] Ebd.: 60
 
 
 
 
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△rtim post Mo., 13.09.2021 - 20:27

Ohne Rauswurf des HKP damals aus "FF" hätte er wohl nie seine akademische Karriere gestartet. Auch damals meinte ein Verleger so handeln zu müssen.
Die cancel culture des Verlegers des Durnwalder-Geburtstagsbuches kann ich nicht nachvollziehen.
Wie gut, dass nun sogar eine breitere Öffentlichkeit auf Salto die beanstandeten Beiträge lesen kann und jede und jeder sich selbst ein Urteil bilden kann.

Mo., 13.09.2021 - 20:27 Permalink
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Greta Karlegger Di., 14.09.2021 - 08:15

Verständlich, dass diese Analyse nicht ins Durnwalder-Buch mit aufgenommen wurde.

Psychologischer Quatsch mit Soße.

Nichts gegen Sie persönlich, Herr Peterlini, dass das klar ist.

Di., 14.09.2021 - 08:15 Permalink
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Profil für Benutzer Peter Gasser
Peter Gasser Di., 14.09.2021 - 08:53

... ich habe da jetzt ein Stück hineingelesen, und es dann wieder “gelassen”. Der Autor spricht darin vorwiegend von sich selbst.
Durnwalder wird Attribut der Selbstdarstellung des Autors - DIES ist ohne weiteres psychologisch interessant.

Di., 14.09.2021 - 08:53 Permalink
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Karl Trojer Di., 14.09.2021 - 11:42

Hans Karl Peterlini, verfällt in diesen Darlegungen keineswegs einer narzistischen Selbstbeweihräucherung. Erst wenn man sich ernsthaft darum bemüht, die eigenen Hintergründe zu verstehen, kann man verantwortungsvoll das Verhalten Anderer zu deuten versuchen. Eben dieses tut HK Peterlini hier. Dieser Mut zur Preisgabe ganz persönlicher Erfahrungen qualifiziert diese seine Darlegungen. Ein großes Dankeschön !

Di., 14.09.2021 - 11:42 Permalink
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Profil für Benutzer Elisabeth Garber
Elisabeth Garber Di., 14.09.2021 - 13:42

Nicht jede/r hat die Gabe zwischen den Zeilen zu lesen...der Text ist, mit Verlaub, kein "psychologischer Quatsch" (@Karlegger) sondern das genaue Gegenteil davon...Herr Trojer hat es auf den Punkt gebracht.
Die Beweggründe, den Beitrag nicht in die Anthologie aufzunehmen, dürften m.M.n. höchst uninteressant/gewöhnlich (@Strobl) sein. Heißt, ein möglichst breites Publikum soll das Buch kaufen, es flüssig lesen und weiterempfehlen. Das funktioniert nur mit bodenständig-einfacheren Traktaten.
PS: Einige würden ja schon beim Titel von Peterlinis Beitrag einen Fremdwort-Kropf kriegen, geschweige denn, den feinmaschigen und mehrperspektivischen Rest verstehen. (Achtung, a bissl Sarkasmus im PS)

Di., 14.09.2021 - 13:42 Permalink
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Salto User
Sepp.Bacher Do., 16.09.2021 - 10:13

Antwort auf von Greta Karlegger

Sie haben Philosophie studiert, glaube ich mich zu erinnern.
Das muss ja ein ganz einseitiges Studium gewesen sein! Mir fehlt bei Ihnen der breite Horizont, den man erwarten könnte.

Do., 16.09.2021 - 10:13 Permalink