Politik | Interview

"Integration birgt auch Bringschuld"

Landesrat Philipp Achammer spricht über den Beschluss der Landesregierung, bestimmte Sozialleistungen an Sprach- und Kulturkenntnisse der Antragsteller zu koppeln.
Achammer
Foto: ASP/Fabio Brucculeri

Die Landesregierung knüpft den Erhalt von Kinder- und Familiengeldern für in Südtirol ansässige Familien aus Nicht-EU-Ländern an verpflichtende Sprach- und Kulturkenntnisse: Die Antragsteller*innen und deren Partner müssen, um für diese sogenannten Zusatzleistungen infrage zu kommen, elementare Kenntnisse in Deutsch oder Italienisch (Niveau A2 oder höher) sowie bestimmte Kulturkenntnisse nachweisen. Sprach und Kulturkenntnisse können unter anderem durch den Besuch der vom Land angebotenen Kurse belegt werden. Der Beschluss, der bereits 2019 gefasst wurde, soll ab Herbst 2022 definitiv umgesetzt werden. Die Situation wirft Fragen auf: Was ist das, die lokale Kultur einer heterogenen Gesellschaft und wie wird sie vermittelt? Warum gilt der Beschluss nur für Bürge aus Nicht-EU-Ländern? Und müssen Menschen, um hier Leben zu dürfen, bestimmte Gegenleistungen erbringen? Salto.bz hat mit Bildungslandesrat Philipp Achammer darüber gesprochen.

 

Salto.bz: Herr Achammer, die Landesregierung hat beschlossen, nicht essenzielle Zusatzleistungen wie Kinder- und Familiengelder für Nicht-EU-Bürger und Bürgerinnen an einen Nachweis lokaler Sprach- und Kulturkenntnisse zu koppeln. Warum? 

Philipp Achammer: Die Landesregierung hat sich lange mit dem Thema Integration befasst und hat Ihr Ergebnis in den Prinzipien “Fordern und Fördern” und “Integration durch Leistung” gefunden. Einerseits müssen natürlich Integrationsmaßnahmen gesetzt werden, um die Integration in den Arbeitsbereich, den Wohnbereich und so weiter zu ermöglichen. Parallel dazu muss Integration aber auch eingefordert werden. Wir haben viele Fällen denen es ohne diese Maßnahmen ganz wunderbar funktioniert. Aber wir haben auch Fälle, wo der Zugang zur Integration nicht möglich ist. Er wird entweder verweigert oder ist aus anderen Gründen nicht möglich; positive Maßnahmen und Anreize reichen nicht aus. In diesen Fällen muss die Verpflichtung, Sprachen zu lernen und die wesentlichen Grundlagen der Gesellschaft zu kennen, eingefordert werden.

Der Beschluss impliziert den Gedanken, dass Menschen kein Interesse daran haben, sich zu integrieren. Machen wir es uns damit nicht zu einfach, indem wir die Verantwortung abgeben?

Ich glaube nicht. Ich glaube, dass die Sensibilität der Bevölkerung zu diesem Thema in den letzten Jahren sehr gewachsen ist. Auch in der Peripherie, wo weniger Ausländer leben, ist das Verständnis gewachsen: Wir müssen etwas tun. Es wurden viele Maßnahmen umgesetzt, aber die Rückmeldung war immer wieder dieselbe. Man erreicht zwar eine gewisse Gruppe, aber andere können bei allen positiven Bemühungen nicht erreicht werden. Dafür gibt es verschiedene Gründe: nicht wollen, nicht dürfen, nicht können… Nicht dürfen bezieht sich oft auf Frauen, deren familiäre Situation ein gesellschaftlich integriertes Leben verhindert. Nicht können kann bedeuten, dass ein Analphabet die Informationen nicht erhält. Es kann natürlich auch sein, dass Sprachkurse zur falschen Zeit am falschen Ort stattgefunden haben. Hier gilt es genau hinzuschauen. Aber manche wollen auch ganz einfach nicht, sie verweigern Integration von vornherein. Mit dem Einfordern der Pflicht ist auch eine Verbesserung des Angebotes verbunden. Hier versuchen wir an Schulen, in Gemeinden und Betrieben, neue Initiativen umzusetzen.

 

Ich bin der Meinung, dass Integration auch eine Bringschuld mit sich bringt.

 

Sie sprechen von der Pflicht der zugewanderten Personen, sich zu integrieren. Was sollten hingegen die Pflichten oder Verantwortungen der einheimischen Bürgerinnen und Bürger sein?

Wenn die zugewanderten Personen die wesentlichen Grundvoraussetzungen erfüllen, das beinhaltet auch die Achtung von Rechtsstaat und Grundrechten zum Beispiel, dann ist es unsere Verantwortung, den Menschen eine würdige Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Das heißt, Zugang zu Wohnmöglichkeiten schaffen oder die Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Könnte auch diese Verantwortung an gewisse Zusatzleistungen geknüpft werden?

Pflichten vonseiten der Einheimischen finde ich in diesem Fall nicht sinnvoll. An was sollte sich diese Pflicht konkret richten? An das Freihalten von Wohnungen? Es wird ja bereits jetzt dafür gesorgt, dass Wohnmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Natürlich müssen gewisse Möglichkeiten geboten werden, aber diese gibt es bereits. Ich bin der Meinung, dass Integration auch eine Bringschuld mit sich bringt. Wenn ich mich als Neuzugewanderter in eine Gesellschaft integrieren will, können auch ihrerseits Bemühungen verlangt werden.

Was ist Integration für Sie?

Integration ist für mich Teil einer Gesellschaft werden zu können; ein möglichst gleichberechtigter Teil. Integration bedeutet nicht, die eigene Kultur oder Konfession ablegen zu müssen, aber um Teil einer Gesellschaft werden zu können, muss ich mich innerhalb eines gewissen Rahmens bewegen. Wenn ich die Sprache nicht spreche, bewege ich mich nur sehr schwer innerhalb dieses Rahmens, weil ich nicht verstanden werde. Selbes gilt für den Respekt des Rechtsstaates, Gleichberechtigung von Mann und Frau…

Der Beschluss der Landesregierung setzt wie bereits erwähnt nicht nur auf Sprachkenntnisse, sondern auch darauf, gewisse kulturelle Kenntnisse zu vermitteln und zu prüfen. Die lokale Kultur zu vermitteln ist eine komplexe Angelegenheit. Worum geht es in den vom Land angebotenen Kursen und inwiefern sind diese Inhalte repräsentativ für eine diverse, sich wandelnde Gesellschaft in Südtirol?

In den Kursen geht es nicht darum, Bräuche wie das Herz-Jesu-Feuer zu vermitteln. Sondern darum zu verstehen, wo man sich befindet und was die Prinzipien sind, auf denen die lokale Gesellschaft aufbaut. Für mich sind diese Kenntnisse zentral, damit erledigt sich eine ganze Fülle von Sorgen. Die Rechtsstaatlichkeit, Respekt für die europäischen und verfassungsrechtlichen Grundrechte… Auch wissen, wie Südtirol aussieht und dass es ein mehrsprachiges Land ist, ist wichtig. Nochmals: Es geht hier nicht um die Mehrzahl der Fälle. Vieles funktioniert im Bereich der Integration schon sehr, sehr gut. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass prekäre, problematische Fälle nicht außer acht gelassen werden dürfen. Ich habe mehrere Jahre in einem Kondominium in Mühlbach gewohnt, einer Gemeinde mit einem höheren Ausländeranteil. Nebenan lebte eine ausländische Familie, bei der ich die Frau kaum zu Gesicht bekam. Sie hatte keinen Zugang zur Gesellschaft und auch keine Möglichkeit, Anschluss zu finden. Das widerspricht unserem Verständnis von Integration.

 

Vieles funktioniert im Bereich der Integration schon sehr, sehr gut. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass prekäre, problematische Fälle nicht außer acht gelassen werden dürfen.

 

Und glauben Sie, dass diese Situation durch Kultur- und Sprachkurse gelöst wird?

Ich glaube, dass es eine wesentliche Weiterentwicklung ist. Eine interkulturelle Mediatorin meinte vor einigen Jahren, dass auch sie die Erfahrung gemacht hat, dass Menschen manchmal zu ihrem Glück, das heißt Teil einer Gesellschaft zu werden, partizipieren zu können, gezwungen werden müssen. Und damit halte ich es. Nur positive Anreize allein sind nicht genug. Gewisse Situationen wird man nur durch eine Verpflichtung lösen.

Eine lokale Kultur entsteht und existiert dadurch, dass man sie zusammen lebt, sich austauscht… Inwiefern kann hier ein Kurs hier auch nur ansatzweise Abhilfe bieten?

Der Kurs wurde deshalb ins Leben gerufen, weil es bisher – laut Integrationsabkommen des Staates – nur eine Verpflichtung zu staatlichen Integrationskursen gibt*. Wir sind in Südtirol in vielerlei Punkten doch etwas speziell, auch innerhalb des Staatsgebietes. Deshalb war es uns wichtig, die staatlichen Integrationskurse zu ergänzen. Integration erfolgt natürlich nicht allein durch den Kurs, aber es ist ein wichtiges Mittel zur Integration. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ausländische Bürger – oder auch Bürger aus dem restlichen Staatsgebiet – die Voraussetzungen und Grundlagen unserer Gesellschaft nicht kennen. Es geht also darum, Informationen zu vermitteln, um sie so besser auszustatten.

Dann ergibt sich aber die Frage, warum die Regelung nur für Nicht-EU-Bürger gilt und nicht für jeden, der nach Südtirol zieht.

Man möchte hoffen, dass Menschen aus anderen EU-Staaten ein gewisses Verständnis über Grundrechte und so weiter mit sich bringen. Bei Nicht-EU-Bürgern ist dieses Verständnis nicht von vornherein gewährleistet. Es gibt Menschen, die aus demokratischen Staaten stammen und andere, die das nicht tun. Es geht hier also auch darum, gewisse Grundrechte der EU zu verteidigen, zu leben und zu erklären. Aber im Wesentlichen ist es auch eine rechtliche Frage. Jeder Unionsbürger hat das Recht auf die volle Gleichberechtigung und zwar ab dem ersten Tag. Natürlich ist das Erlernen der Landessprachen auch für EU Bürger wichtig; aber die Kopplung an gewisse Zusatzleistungen ist für sie nicht möglich.

 

Jeder Unionsbürger hat das Recht auf die volle Gleichberechtigung und zwar ab dem ersten Tag.

 

Rechtlich ist das Ganze umsetzbar, wenn es sich um “nicht essenzielle Leistungen” handelt, das heißt sogenannte Zusatzleistungen wie Kinder- und Familiengelder. Viele Familien sind in ihrer Existenz jedoch auf genau diese Zusatzleistungen angewiesen. Was bedeutet der Begriff der nicht essenziellen Leistung für Sie?

Wir haben hierzu lange diskutiert. Es gibt laut Gesetz keine wirkliche Definition, was Grundleistungen oder Zusatzleistungen betrifft. Im Wesentlichen geht es bei Zusatzleistungen um jene Leistungen, die uns von anderen Regionen unterscheiden. Speziell ist hier jedoch zwischen verschiedenen Leistungen zu unterscheiden. Die Beiträge im Bereich des Wohnens beispielsweise werden von den Gerichten als Grundleistungen erachtet**. Die Frage, die wir uns in der Landesregierung gestellt haben, ist jene der Vernünftigkeit und Verhältnismäßigkeit. Wenn es den Betroffenen möglich ist, die Voraussetzungen zu erfüllen – und das ist es –, können diese auch eingefordert werden.

Ich kann mir vorstellen, dass auch einheimische Personen und Bürger aus anderen EU-Ländern nicht mit den Inhalten der Kulturkurse bekannt sind. Ist es auch für sie möglich, diese Kurse zu besuchen?

Bisher hat sich dieses Interesse nicht unbedingt manifestiert, aber es ist natürlich für alle ohne Weiteres möglich, diese Kurse zu besuchen. Auch wenn wir die Kenntnisse aufgrund einer gewissen Schulbildung voraussetzen.

 

*Es gibt in Italien keine Kurse, um auf die Sozialleistungen des Staates zuzugreifen. Das Integrationsabkommen des Staates – ein Abkommen zwischen dem Staat und den ausländischen Staatsbürgern – sieht jedoch einen "impegno al rispetto delle regole della società civile, al fine di perseguire, nel reciproco interesse, un ordinato percorso di integrazione" vor. Der Erhalt der Staatsbürgerschaft und langfristiger Aufenthaltsgenehmigungen ist in Italien an den Erwerb bestimmter Kenntnisse geknüpft.

**Von rechtlicher Seite wurde darauf hingewiesen, dass die Definition von nicht essenziellen Leistungen vom spezifischen Fall abhängt. Was für eine Familie als essenziell gilt, kann für andere als nicht essenziell eingestuft werden. Generell bezieht sich das europäische Recht hier auf die Möglichkeit einer "würdigen Existenz".

 

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Harry Dierstein Fr., 24.09.2021 - 09:13

Puuhhh, das wird dann auch für sehr viele "deutschsprachige" Südtiroler evtl. extrem hart, weiterhin in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen, wenn sie künftig ein Sprachniveau A2 nachweisen müssen.

Ob sich der "Bildungs"-Landesrat mit diesem Vorschlag nicht ins eigene Knie schiesst?

Fr., 24.09.2021 - 09:13 Permalink
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Karl Trojer Fr., 24.09.2021 - 09:25

Menschen, insbesondere Kinder in Not haben das Recht auf angemessene Hilfe seitens unserer reichen Gesellschaft und wir haben die Pflicht, diese Hilfe ohne wenn und aber zu geben. Es ist wertvoll, Kurse für bessere Integration anzubieten, aber es entspricht nicht der Charta der Menschenrechte, Notleidenden mögliche Hilfe zu verwehren !

Fr., 24.09.2021 - 09:25 Permalink
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Gianguido Piani Fr., 24.09.2021 - 11:51

Von ausgebildeten Erwachsenen kann bzw muss man erwarten, dass sie sich integrieren können und wollen. Wenn jemand die Fähigkeit dazu hat, zieht es aber vor, sich nicht zu integrieren und zwar nach sehr einfachen Maßstäben, gehört er/sie auch nicht hier oder sonstwo in Europa. Die verfügbaren Mittel sollten lieber anderen erteilt werden. Verantwortung muss von beiden Seiten getragen werden.

Fr., 24.09.2021 - 11:51 Permalink
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Salto User
Sepp.Bacher Fr., 24.09.2021 - 12:05

Sprach- und Bürgerkunde-Kurse verpflichtend anzubieten finde ich notwendig. Wichtig ist, dass die Lehrkräfte auch gut darauf vorbereitet werden und sich bei Kulturvermittlern kundig machen, aus welchen gesellschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Verhältnissen die Teilnehmer/innen kommen. Meines Erachtens müsste ihnen auch nachher noch eine (telefonische) Beratungsmöglichkeit geboten werden.
Ob es richtig ist, den Nichtgewillten Sozialleitungen zu streichen, finde ich fraglich. Jedenfalls glaube ich, dass auch die Schweiz schon seit Jahren/Jahrzehnten ähnliche Programme anbietet und die Teilnehmer dazu verpflichtet. Ich glaube, dass die Schweiz damit sehr erfolgreich ist und dass es dort kaum oder keine Exzesse gibt, wo Bürger und Clans ihre eigenen z. T. kriminellen Süppchen kochen und der Staat hilflos zuschaut, wie in Deutschland.

Fr., 24.09.2021 - 12:05 Permalink
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Gianguido Piani Sa., 25.09.2021 - 09:28

Es gibt die Charta der Menschenrechte, aber keine Charta der Menschenpflichte. Ersatzweise können wir Bezug auf die UN Sustainable Development Goals nehmen. https://www.un.org/sustainabledevelopment/
Leute kommen nach Europa wegen der Pkt. 1,2,3,6,8. Dann können wir von ihnen verlangen, dass sie sich auch zu den Pkt. 4,5,10,16,17 bekennen. Wenn nicht, dann sollte der "Ius Soli" des Herkunftslandes gelten. Es heißt: Abschiebung.

Sa., 25.09.2021 - 09:28 Permalink