Errata non corrige
Im Blick auf Geschichte und ihre komplexen Zusammenhänge ist es ratsam, Polemiken abklingen zu lassen, um mit Besonnenheit darauf zurückzukommen. Dies hätte auch Rolf Steininger gutgetan, als er in der „Dolomiten“-Ausgabe vom 2./3. Oktober einen groß aufgemachten Verriss des Autonomie-Parcours auf dem Dr.-Silvius-Magnago-Platz veröffentlichte. Die Feder führte - wie sich in Ton und Wortwahl nachvollziehen lässt - kochender Ärger darüber, dass die Autonomie nicht nur aus der Perspektive des Zeithistorikers - und seiner streitbaren Thesen - abgehandelt wird, sondern auch ihre rechtlichen und finanziellen Grundzüge thematisiert werden, wie Finanzautonomie, Sprachregelungen und Proporz, dass Fragen zu Gegenwart und Zukunft Platz finden und das Spannungsfeld zwischen individueller Autonomie und Gruppenschutz zur Sprache kommt. Darauf hat die Arbeitsgruppe, die den Parcours inhaltlich gestaltet hat und der auch ich angehöre, bereits Stellung bezogen, sodass sich eine weitere Auseinandersetzung erübrigen würde.
Die Feder führte - wie sich in Ton und Wortwahl nachvollziehen lässt - kochender Ärger darüber, dass die Autonomie nicht nur aus der Perspektive des Zeithistorikers - und seiner streitbaren Thesen - abgehandelt wird.
Die „Dolomiten“ wären nicht die „Dolomiten“ und Steininger wäre nicht Steininger, wenn die mehr als zurückhaltende und ausgewogene Stellungnahme der Arbeitsgruppe kommentarlos geblieben wäre. In der Tradition eines Josef Rampold, nur mit weit weniger Brillanz und Schreibkunst, beharrte Steininger nicht nur auf seiner Einschätzung, dass die Ausstellung ihr Geld nicht wert sei, was sein gutes Recht ist, denn Meinung ist nun einmal Meinung. Nein, er kaprizierte sich auch noch auf den Hinweis der Arbeitsgruppe, dass die von ihm benannten „Fehler“ keine Fehler seien, sondern lediglich „andere Einschätzungen als die seinen“ („Dolomiten“, 6.10.2021). Steininger von der Kanzel eines Professors (im Ruhestand): „Fehler bleibt Fehler - und sollte so nicht stehen bleiben.“ Mit letzterem Halbsatz hat er recht, weshalb hier - ausdrücklich im eigenen Namen, nicht der Arbeitsgruppe - auf die zwei zentralen Fehleinschätzungen Steiningers eingegangen wird, damit diese „so nicht stehen bleiben“. Dies geschieht, nach längerem Nachdenken und mit gebotenem zeitlichen Abstand, nun umso bewusster im Gedenken an zwei Persönlichkeiten der Südtiroler Geschichte, die Steiningers Ab-Wertungen nicht verdienen, nämlich Viktoria Stadlmayer und Hans Dietl.
Der „Fehler“, den Steininger zu Hans Dietl ankreidet, bezieht sich auf dessen Rolle im Vorfeld der Großkundgebung auf Schloss Sigmundskron 1957, bei der Magnago das „Los von Trient“ ausrief. In der Ausstellung wird knapp darauf verwiesen, dass dies „auf Druck des SVP-Rebellen Hans Dietl“ erfolgte. Steininger: „falsch; das ist zu viel der Ehre. Und Dietl hat der SVP vorher massiv geschadet.“ Eine solche überschlägige, jede Argumentation überspringende Wertung ist zum einen eklatant unwissenschaftlich, sie stammt von einem, der immer noch glaubt, die Wahrheit nicht nur zu besitzen, sondern dekretieren zu könne. Steininger hat den engsten politischen Freund von Hans Dietl, den Bozner Franz Widmann, über Monate bedrängt, ihm doch die Unterlagen zu geben, die dieser für sein Buch „Es stand nicht gut um Südtirol“ (Raetia, 1998) gesammelt hatte. Widmann hat seine Unterlagen zurückgehalten, sie aber im Buch detailliert aufgearbeitet und sich überdies mit Steininger unterhalten. Allein von daher müsste Steininger - dargelegt an Fakten, nicht an Werturteilen - von der Bedeutung Dietls für die Vorbereitung des „Los von Trient“ wissen, ebenso auch aus meiner Biographie über Hans Dietl („Biographie eines Vordenkers und Rebellen“, Raetia, 2007). Dietl trat 1955 aus Protest gegen die Bevormundung Südtirols im Regionalrat von seinem Amt als Regionalassessor zurück, während andere am Sessel klebten. Zuvor hatte er vergeblich einen konsequenteren Kurs seiner Partei angemahnt. Der demonstrative, einsame Rücktritt mobilisierte in der SVP die Bereitschaft zu einem neuen Aufbruch. Durch die geschickte Regie von Widmann und Dietl wurde auch die SVP-Führung um den neuen SVP-Obmann Silvius Magnago praktisch ausgetauscht. Erst dies ermöglichte den Marsch auf Sigmundskron, bis zuletzt bekämpft von der früheren, abgewählten Parteispitze. Sigmundskron brachte wohl unbestreitbar einen Umschwung in Südtirol - „von der Resignation zur Selbstbehauptung“, wie der Untertitel von Widmanns Buch lautet. Von der alten Parteispitze waren sich einige dennoch nicht zu schade, noch nach der Kundgebung in Österreich zu intervenieren, dass der Tag von Sigmundskron Schaden an Südtirol angerichtet habe. Steininger muss das wissen. Warum klammert er es in seinem Werturteil aus, indem er Dietl als Schädling der Partei abstempelt? Das ist nicht Wissenschaft, das ist Verbohrtheit, die Deutungen mit Fakten verwechselt. Ein gerechtes Urteil über Dietl wird manchen radikalen, vielleicht sogar fundamentalistischen Zug entdecken, der bis zur Unterstützung der Attentate ging, auch manche Verbitterung, er wird aber auch die Leidenschaft und das Leiden eines Politikers für die Sache Südtirol wahrnehmen müssen. Dies in Schaden und Nutzen messen zu wollen und einseitig den Schaden zu verbuchen, wie es Steininger tut, ist genauso absurd wie sein schier endloser Versuch, die Feuernacht als Verhinderung der Selbstbestimmung darzulegen, anstatt sich mit den Dynamiken, die zur Gewalt und ihrer Eskalation führten, faktenorientiert und mit Gespür für die damalige Zeit auseinanderzusetzen. Zu dieser öden Debatte erlaube ich mir den Link zu einem Beitrag in „Geschichte und Region/Storia e Regione“ anzuführen, in dem ich die Willkürlichkeit an Steiningers Thesenkonstruktion dargelegt habe.
Der Fehler, den Steininger an der knappen Erwähnung von Viktoria Stadlmayer im Autonomie-Parcours anprangert, hängt mit genau dieser Streitfrage zusammen. Steininger stößt sich daran, dass Stadlmayer - langjährige Beamtin im Referat S (Südtirol) der Tiroler Landesregierung und engste Beraterin des Tiroler Landeshauptmannes Eduard Wallnöfer - unter den (wenigen) Frauen der Südtiroler Autonomie-Geschichte genannt wird, die im Schatten der Männer wichtiges geleistet haben. Unter anderem wurden noch die Sozialpolitikerin Waltraud Gebert-Deeg und die alternative Politikerin Andreina Emeri genannt, da auch diese Opposition zum Autonomieprozess gehört und manche Verhärtung in der Umsetzung gelindert hat. Zu Stadlmayer steht im Autonomie-Parcours der (notgedrungen) knappe Satz: „Viktoria Stadlmayer prägte für die Tiroler Landesregierung die Autonomieverhandlungen.“ Steininger: „Diese Aussage ist sachlich falsch. Wenn jemand die Autonomieverhandlungen nicht geprägt hat, dann war es diese Frau. Sie war eine erklärte Gegnerin der Autonomie. Als Österreichs Außenminister Bruno Kreisky im Jänner 1961 ein 22-Punkte-Programm vorlegte, meinte sie in einer internen Besprechung in Innsbruck: ‚Das Programm interessiert uns gar nicht. Wir wollen noch weitergehen und dann das Selbstbestimmungsrecht verlangen.‘ […] Also: Statt Stadlmayer bitte Angela Nikoletti einsetzen, das Symbol der Katakombenschule.“ Diese Darstellung legt Steiningers Argumentationsweise offen, die mit herausgefischten Einzelfakten willkürliche Schlussfolgerungen über die Gesamtleistung einer Persönlichkeit trifft. Zum einen ist es völlig absurd, die 1930 verstorbene Angela Nikoletti, das traurige Schicksal einer jungen Frau aus der Zeit des Faschismus, mit der Autonomieentwicklung in Verbindung zu bringen, die nun einmal erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt. Zum anderen aber nagelt Steininger das jahrzehntelange Wirken von Viktoria Stadlmayers an einer einzigen Aussage in einem ganz bestimmten historischen Moment fest, um ihr Verdienste an den Autonomieverhandlungen abzusprechen.
Welche Bedeutung Stadlmayer für die Verhandlungen hatte, lässt sich allein an der Reaktion von Bruno Kreisky ermessen, als sie - übrigens im selben Frühjahr 1961, aus dem Steiningers Zitat stammt - wegen angeblicher (unzutreffender) Verwicklung in die Attentate verhaftet und 42 Tage lang in Untersuchungshaft gehalten wurde. Bei der darauffolgenden internationalen Verhandlungsrunde in Klagenfurt ließ Kreisky demonstrativ einen Stuhl neben sich frei - für die inhaftierte Viktoria Stadlmayer. Gewiss wurde den Autonomieverhandlungen von vielen Beteiligten oft nicht getraut, es gab mühsame Fortschritte und immer neue Rückschläge, die immer wieder - und dies auch noch bei der Paketdebatte 1969 - an der Ernsthaftigkeit der Autonomie-Angebote zweifeln ließen. Auch dieser Widerstand ist aber in das Gesamtergebnis eingeflossen, da Silvius Magnago mit dem Hinweis auf den Widerstand in seiner Partei und den Wunsch nach Selbstbestimmung bei jeder Fahrt nach Rom noch ein wenig mehr herausholen konnte. Seine historische Leistung liegt darin, diesen Druck nicht nur ausgehalten, sondern in Verhandlungserfolge umgemünzt zu haben. Ohne Zweifel hat das Fordern des Maximalziels auch die Erreichung des Teilziels unterstützt. Magnago hat dies im Rückblick würdigend anerkannt, Steininger schafft es bis heute nicht.
Menschlich nachdenklich stimmt, wie Steininger eine Frau niedermacht, die er ursprünglich als Kronzeugin für seine These vereinnahmen wollte, nämlich, dass die Feuernacht der Selbstbestimmung geschadet habe. Er tat dies auch damals mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat von Stadlmayer vom Frühjahr 1962: „Die Neunzehner-Kommission und ihre positive Aufnahme in Südtirol ist kein Erfolg der Bomben-Politik, sondern ist ein Sieg Italiens.“ Dies war Stadlmayers Sorge im Frühjahr 1962, eine Momentaufnahme aus der Betroffenheit der damaligen Situation heraus, aber keine dauerhafte Einschätzung, weshalb sie ihm dann auch heftig widersprochen hat. Tatsächlich konnte die 19er-Kommission damals durchaus auch als staatliches Abwimmelungsmanöver verstanden werden, entstanden ist daraus erst mit der Zeit ein Gremium geduldigen Verhandelns, bei dem sich die Beteiligten über alle Fronten in die Augen schauen und zuhören lernen mussten. Steininger hadert hier mit einer Frau, der er offenbar auch über den Tod hinaus nicht verzeiht, dass sie seine Thesen messerscharf zerlegt hat. Sie warf Steininger „logische Zickzacksprünge“ und „Denkfehler“ vor, die zu korrigieren er sich auch bei klarer Widerlegung weigere. Seine Antwort in mehreren Beiträgen in den „Dolomiten“ waren gespickt mit charakterlichen Abwertungen („hinterfotzig“, „persönliche Antipathie“, „gekränkter Stolz“, „verletzte Eitelkeit“, „hämisch“). Dagegen wich er einer unmittelbaren Konfrontation aus, indem er Stadlmayers Teilnahme an einer Podiumsdiskussion über sein Werk ablehnte. Der damalige Kommentar der Athesia-Zeitung „Zett“: „Der Grund für die Ablehnung Stadlmayers: Die ‚Grande Dame‘ der Südtirolpolitik hat sich mehrmals sehr energisch und kritisch mit dem Werk Steiningers auseinandergesetzt und in einer ganzseitigen, für die Dolomiten verfassten Stellungnahme u.a. gemeint, dass Steininger mit der ‚ausschließlichen Darstellung eines bestimmten Sektors außenpolitischen Verhaltens die realen Proportionen verzerrt‘.“
Kollege Steininger müsste doch auch einmal den Versuch machen, die eigenen blinden Flecken zu reflektieren, statt unbeirrt und rechthaberisch darauf einzuschlagen.
Das tut er bis in die Gegenwart. Schade, ein Wissenschaftler mit großen Verdiensten, wie sie dem Kollegen Steininger nicht abgesprochen werden sollen, müsste doch auch einmal den Versuch machen, die eigenen blinden Flecken zu reflektieren, statt unbeirrt und rechthaberisch darauf einzuschlagen. Es ist kein Errata corrige zum Autonomie-Parcours auf dem Dr.-Silvius-Magnago-Platz nötig, über Deutungen lässt sich diskutieren, aber die Fakten sollten dazu nicht verzerrt werden.
Zum Beitrag über die Feuernacht: „Methode und Urteil“ in Geschichte und Region/Storia e Regione,
https://storiaeregione.eu/attachment/get/up_95_1467116462.pdf
Es war Hans Dietl, der das
Es war Hans Dietl, der das "Los von Trient" auf den Weg brachte; mit meinen 83 Jahren erinnere ich mich daran.