Milite ignoto
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Gesellschaft | Vorausgespuckt

Mystizismus der Nation

Rom, 4. November 1921: Eine große Menschenmenge nimmt an der Beerdigung des Unbekannten Soldaten teil.

Nach 100 Jahren ist der Mystizismus der Nation immer noch lebendig und nährt sich offensichtlich an den Toten. Daran erinnerte Roberto Raja kürzlich in einem Artikel in der Tageszeitung “Il Foglio”, in dem er «die Gedächtniserfindung des Ersten Weltkriegs schlechthin», nämlich das Grab des Unbekannten Soldaten, rekonstruierte. Jeder weiß, was der “Milite ignoto” war und was er ist. Ein verstümmelter, daher unkenntlich gemachter Gefallener, der aus der Erde gezogen und in einem Sarg aufgebahrt wurde, über den das ganze Volk seine heißen Tränen der Trauer vergießen sollte. Der symbolische Weg wird durch die Zundschnür des gefallenen Sohnes, der untröstlichen Mutter und des Vaterlandes gezündet, so dass es zu einer kollektiven Umarmung kommt (in erster Linie ist es die Umarmung des Vaterlandes, das sich selbst umarmt, anerkennt und sich weiht).

Roja zitiert einen Auszug aus dem Buch La leggenda del soldato sconosciuto von Lorenzo Cadeddu, einem Offizier der Armee, der sich der historischen Forschung verschrieben hat: «Man dachte an eine Mutter aus Livorno, die auf der Suche nach ihrem vermissten Sohn zu Fuß von Livorno nach Udine ging. Man betrachtete den Fall einer Mutter aus Lavarone, die, nachdem sie herausgefunden hatte, wo ihr Sohn begraben war, zu diesem Friedhof ging und die Erde, die seine sterblichen Überreste bedeckte, selbst aushob; nachdem sie die Knochen gefunden und mit einem dreifarbigen Band zusammengebunden hatte, legte sie diese in den Schoß und nahm sie mit zurück ins Dorf, wo sie sie neben den Überresten ihres Mannes begrub. Letztendlich wurde der Fall einer Mutter betrachtet, die die Kraft hatte, an mehr als 150 Exhumierungen teilzunehmen, um die sterblichen Überreste ihres Sohnes zu finden...». Um all diesen Schmerz auszutreiben, mussten die irdischen Mütter durch die symbolische GROSSE MUTTER der Nation ersetzt werden: eine zufällig ausgewählte Leiche sollte sie alle repräsentieren.

Es ist nicht leicht, sich von diesem Mystizismus zu lösen, denn man müsste erkennen, dass der Krieg (insbesondere: jener Krieg) in erster Linie ein Mechanismus der Massenvernichtung ist. Kurz gesagt, die Masse hatte die Möglichkeit, die Subjektivität des Einzelnen anzuerkennen, bereits ausgelöscht. Und so war es kein Zufall, dass diese Toten nach ihrem Tod unerkennbar waren, vielmehr schon vor ihrem Tod unkenntlich gemacht wurden, wissentlich vernichtet als Soldaten im Namen des Kollektivs. Die Mystik der Nation ist im Grunde nichts anderes als das: in den offenen Mündern der Toten, nachdem die Nation sie hat töten lassen, die öde Blüte eines vorweggenommenen Nichts zu düngen.

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Hartmuth Staffler Do., 04.11.2021 - 21:18

Gabriele Di Luca hat es vielleicht allzu philosophisch formuliert, aber er hat natürlich Recht. Allerdings wird er kaum gehört und noch weniger erhört werden, weil gedankenlose Rhethorik bequemer und leider auch erfolgreicher ist als konsequentes Überprüfen der eigenen Positionen.

Do., 04.11.2021 - 21:18 Permalink