Eine Frage des Systems?
Sowohl das deutsche als auch das italienische Gesundheitssystem sind im Großen und Ganzen gut funktionierende Systeme. Dies das Fazit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der diesjährigen gemeinsamen Konferenz der Eurac und der Friedrich Ebert Stiftung zum Thema Multi-Level-Governance im Gesundheitsbereich. Beide Länder weisen aber Schwachstellen – wie die strukturelle Vernachlässigung einzelner Regionen und Gebiete – auf; die Probleme sind jedoch auf unterschiedliche Systeme und Ursachen zurückzuführen: Während in Italien vor allem Umsetzung und Kontrolle auf nationaler und subnationaler Ebene fehlen, sind den einzelnen Akteuren in Deutschland häufig die Hände für wichtige Entscheidungen gebunden.
Italien: “Umsetzung und Kontrolle fehlen”
Ein Kritikpunkt, der das italienische Gesundheitssystem regelmäßig trifft, sind die starken regionalen Unterschiede in der Gesundheitsversorgung, denen häufig die Forderung nach mehr Zentralisierung entgegengestellt wird. Wie Renato Balduzzi – Professor für vergleichendes Verfassungsrecht im Mailand und ehemaliger Gesundheitsminister der Regierung Monti – erklärt, sei der Vorwurf einer fortschreitenden verfassungsrechtlichen Zerstückelung der regionalen Gesundheitssysteme jedoch unzulässig: “Die Dezentralisierung des italienischen Gesundheitssystems geht auf die Anfänge der italienischen Verfassung im Jahr 1946 zurück”, so Balduzzi. Die partielle Autonomie der verschiedenen Gesundheitssysteme im Land war also bereits vor der Entstehung der regionalen politischen Ebene im Jahr 1970 und auf jedem Fall vor der rezenten Verfassungsänderung aus dem Jahr 2001 vorhanden.
Für Balduzzi ist das Problem der starken regionalen Unterschiede in der italienischen Gesundheitsversorgung also nicht auf eine verfassungsrechtliche Schieflage zurückzuführen: “Viel mehr liegt das Problem bei der fehlenden Kontrolle und Umsetzung von nationalen Mindeststandards und fehlender politischer Führung in den einzelnen regionalen Realitäten”, so Balduzzi. Für ein flächendeckend zufriedenstellendes Gesundheitssystem seien mehr Koordination und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen politischen Ebenen, ein gestärktes Verantwortungsbewusstsein für die jeweiligen Zuständigkeiten sowie schärfere Kontrollen nötig. Dabei gehe es nicht um eine Ausweitung von staatlichen, regionalen oder lokalen Kompetenzen, sondern vor allem um die praktische Stärkung der zu erbringenden Leistungen, wobei auch der Staat in seiner Funktion als kontrollierendes und moderierendes Organ zur Verantwortung gezogen wird.
Deutschland: “Bei Innovationsthemen zahnlos”
Während Balduzzi also vor allem auf die konkrete Umsetzung der bereits vorgesehenen Leistungen und entsprechenden Kontrollen in den einzelnen regionalen Realitäten pocht, wird für Deutschland ein ganz anderes Problem identifiziert: “Aufgrund der vielen voneinander abhängigen Akteure, die gemeinsam das deutsche Gesundheitssystem bilden, stagniert das System”, so Josef Hilbert, Professor für Soziologie und Gesundheitswirtschaft am Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik. “Wichtige Entscheidungen wie die Stärkung von strukturell schwachen Gebieten oder die Digitalisierung des Gesundheitssystems verfangen sich in den institutionellen Prozessen und werden somit immer weiter aufgeschoben.”
Als Grund dafür nennt Hilbert die Verzahnung des deutschen Gesundheitssystems, das die Entscheidungsgewalt auf eine Reihe von öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Akteuren verteilt: “Der Staat macht die Rahmengesetzgebung”, so Hilbert, “die Ausgestaltung der Versorgung liegt jedoch bei den Versicherungen und den einzelnen Leistungserbringern – das heißt, beim Personal der einzelnen Krankenhäuser und Gesundheitszentren.” Die Länder haben hingegen eine zentrale Rolle bei der Planung von Krankenhäusern und der entsprechenden Infrastruktur. Zudem üben sie eine überwachende Funktion aus.
Laut Hilbert führe diese Situation zwar zu einem gut überwachten System, das die vorgesehenen Leistungen erbringt, es fehle jedoch gleichzeitig an Instrumenten, um innovative Prozesse in Gang zu setzen: “Man drängt einerseits auf Veränderung, andererseits werden wichtige Entscheidungen durch die verschachtelten institutionellen Prozesse und gegenseitigen Kontrollen blockiert.” In vielen Fällen laufe diese Situation auf zahnlose Kompromisslösungen und eine Vielzahl an Pilotprojekten hinaus, die jedoch nach Ablauf der Pilotstudien keinen gesicherten institutionellen Rahmen finden und folglich ausgehungert werden.
Die Corona-Krise und einzelne innovative Vorstöße auf lokaler Ebene lassen laut Hilbert jedoch auf Veränderung hoffen: “Einerseits ist das Bewusstsein für dringend notwendige Veränderungen durch die Corona-Krise gewachsen; vor allem was die Versorgung in strukturell schwachen Gebieten betrifft, wo die Mortalität um einiges höher war als in anderen Gebieten”, so Hilbert. Andererseits haben sich lokale Realitäten zum Netzwerk der deutschen Gesundheitsregionen zusammengeschlossen, um innovative Prozesse im Kleinen voranzutreiben.
Eine europäische Gesundheitspolitik?
Hilbert lokalisiert das größte Innovationspotenzial in den einzelnen lokalen Gegebenheiten und auch Balduzzi betont die Notwendigkeit einer bürgernahen und dezentralisierten Gesundheitsversorgung. Welche Rolle bleibt vor diesem Hintergrund für die Europäischen Union?
Wie die Expertin für vergleichendes und europäisches Recht, Lucia Busatta von der Universität Trient erklärt, agiert die EU, – die ihre Rolle seit Beginn der Pandemie ausbauen konnte –, vor allem im Hintergrund: “Es geht um die Prüfung und Regulierung von Arzneimitteln, um klinische Versuche, aber auch um Sicherheitsbestimmungen für verschiedene Produkte, die dann in den einzelnen Mitgliedsstaaten verwendet werden”, so Busatta. Auch die Koordinierung der einzelnen Systeme obliegt – insbesondere mit Blick auf die von der EU gewährten Freiheiten – der Europäische Union: “Viele von uns sehen im europäischen Grünen Pass eine Selbstverständlichkeit”, so Busatta. “Ohne die EU wären aber weder das Green Pass System noch eine gleichmäßige Verteilung der Impfdosen an die einzelnen Länder möglich.”
Busatta weist der EU vor allem eine orientierende Rolle zu, die es jedoch weiter auszubauen gilt, um auf dem gesamten EU-Gebiet eine robuste Gesundheitsversorgung zu gewährleisten: “Es ist bereits möglich, Gesundheitsleistungen in einem anderen Staatsgebiet in Anspruch zu nehmen, wenn diese im eigenen Land nicht oder nur zu Ungenügen gewährleistet werden”, so Busatta. “Dieses System wird häufig kritisiert, da den lokalen Gesundheitssystemen finanzielle Mittel abhandenkommen. Gleichzeitig werden die einzelnen europäischen Staaten so aber dazu gedrängt, die eigenen Leistungen an europäische Standards anzupassen.”
Unter "Vergleich" (im Titel)
Unter "Vergleich" (im Titel) haben sich viele Leser*innen wohl etwas anderes vorgestellt ! ?