Politik | Kommentar

Der ambivalente Wahlhelfer

Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz weilt morgen auf Einladung der SVP auf Südtirolbesuch. Ein Blick hinter die Kulissen.
Kurz
Foto: upi
Ist der Südtirolbesuch von Sebastian Kurz ein Skandal, wie sich Michaela Biancofiore von Forza Italia empört?
Nein. Dass Österreichs Bundeskanzler in der Tradition der Schutzmacht (trotz Streitbeilegungserklärung) ein gutes Verhältnis zu Südtirol pflegt, ist angebracht und von Vorteil. Dass er in seiner derzeitigen Funktion als EU-Ratspräsident kommt, könnte man sogar als besondere Wertschätzung für eine beispielhafte Autonomieregelung für ethnische Minderheiten werten. Und dass er, wie andere bedeutende Politiker, in benachbarte Länder reist, um eine Schwesterpartei zu unterstützen, ist ebenfalls statthaft – erst kürzlich ist Kurz vor dreitausend begeisterten CDU-Anhängern in Deutschland aufgetreten. Keinen deutschen Oppositionspolitiker hat das verwundert oder gestört. Man könnte dem sogar eine positive Seite abgewinnen, dass nämlich die Trennlinien innerhalb Europas nicht mehr nach Ländern und Nationen verlaufen, sondern nach Weltanschauung. 
Ist der Südtiroler Kurz-Besuch trotzdem hoch problematisch? Ja. Und zwar für den Landeshauptmann.
 
In seinem neuesten Wahlvideo sagt Arno Kompatscher auf die Frage, wovon er seine Politik leiten lässt: “Mir persönlich ist eine klare Haltung wichtig. Meine Haltung baut auf den Grundwerten auf und auf das Bewusstsein darüber, welche Ziele ich verfolge.” Und damit wären wir beim Problematischen: den Grundwerten.
 

Sebastian Kurz und die Grundwerte

 
Die historisch gewachsenen christdemokratischen Parteien wie die SVP und ÖVP einen Grundwerte wie Demokratie, Freiheit des Individuums, Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit, die Ablehnung von Rassismus und Antisemitismus und eine christlich-soziale Verantwortung für die Armen und Schwachen in unserer Gesellschaft. 
Ist der Südtiroler Kurz-Besuch trotzdem hoch problematisch? Ja. Und zwar für den Landeshauptmann.
Ganz in diesem Sinne zeigte sich der auf der Karriereleiter rapid aufsteigende Sebastian Kurz als Staatssekretär für Integration (2011) als moderner Vorreiter. Er förderte den Dialog zwischen den Religionen (auch mit dem Islam), ernannte im Rahmen der Kampagne „GEMEINSAM:ÖSTERREICH“ erfolgreich integrierte junge Leute zu „Integrationsbotschaftern“ mit denen er durch die Schulen tourte, ließ sich gerne in Lerncafés der Caritas mit jungen Kopftuch-Mädchen lächelnd abbilden, vermehrte die Deutschkurse und fand beispielhafte Worte: 
„Wir müssen bei allen kulturellen Herausforderungen Vielfalt auch als Chance begreifen.“ – „Wichtig ist es, Motivation zu schaffen und Vorurteile abzubauen“ – „Es geht nicht darum, woher jemand kommt, sondern was jemand leistet.
All das ist vorbei und vergessen. Jetzt sind Geflüchtete und Migranten nur mehr illegale Profiteure des Sozialsystems, ein Problem für die öffentliche Ordnung und eine Gefahr für die abendländische Kultur. Deshalb lauten die Schlagworte jetzt Ausweisung, Abschiebung, Null-Immigration, Abschottung. 
Kein Wunder, hatte Kurz doch schon den Wahlkampf im Vorjahr fast ausschließlich mit Angstmache und radikalen Slogans zur Flüchtlingskrise bestritten, die FPÖ dabei sogar rechts überholt und damit schließlich das Kanzleramt erobert.
Zur Erinnerung: man müsse die Balkanroute konsequent dicht machen, auch wenn das an den Zäunen „hässliche Bilder“ abgeben werde. Und schon damals forderte der türkise Wahlkämpfer, eine „australische Lösung“, nämlich die Bootsflüchtlinge „auf Inseln im Mittelmeer“ festzusetzen. Welche Inseln das sein sollten, konnte Kurz nie beantworten. 
 
Dafür hat er kürzlich wieder sein Verständnis der viel beschworenen Grundwerte unter Beweis gestellt. Als Matteo Salvini sämtliche Häfen für Flüchtlinge sperren ließ, pflichtete Kurz ihm als einziger westeuropäischer Staatsmann bei: es sollten überhaupt keine Flüchtlingsschiffe in irgendeinen EU-Hafen dürfen. Dass damit de facto die Genfer Flüchtlingskonvention und das internationale Seerecht außer Kraft gesetzt wären, bekümmerte ihn keineswegs. Und erst an diesem Montag meinte Kurz im ORF-Sommergespräch, dass er – ebenso wie der Papst – enorm schockiert gewesen sei, als er die Videos über die grausame Folter in den libyschen Zwangslagern gesehen habe. Aber, trotzdem müssten Bootsflüchtlinge auch nach Libyen zurück gebracht werden, damit sich bei den Menschen herumspreche, dass es sich gar nicht erst lohne, die Flucht via Libyen zu versuchen. Nur so könne den Schleppern das Handwerk gelegt werden.
Also grausame Folter zur Abschreckung in Kauf nehmen, so wie eben humanitäre Dramen und „hässliche Bilder“ am Balkan. Mit diesen mantrahaft wiederholten Forderungen ist Kurz längst zur Speerspitze der Abschottungsprediger avanciert, aber im Unterschied zu seinen Partnern der FPÖ, verzichtet der Kanzler vollkommen auf heftige Parolen, drastische Vergleiche und Anekdoten oder gar derbe Bierzeltsprüche. Er verteidigt seine Grundwerte hingegen redegewandt, mit blondem Engelsgesicht und Wiener-Sänger-Knaben-Manieren. Das schätzen seine Wähler besonders.
 

Sebastian Kurz und der Wille zur Macht

 
Am meisten hat der junge Aufsteiger seine eigene Partei überrascht und verblüfft. Durch seine jugendlich-elegant-eloquente Performance als Außenminister, der sich von allem innenpolitischen Streit und Hader fern hält, erreichte Kurz große Popularität. Die Dauerkrise der damals großen SPÖ-ÖVP-Koalition erkannte der Politprofi als seine Chance. Von wirtschaftsmächtigen Kräften unterstützt gelang Kurz ein doppelter Coup: er eroberte den Chef-Sessel der ÖVP und verwandelte sie im Handumdrehen zur straffen, türkis-blauen „Basti-Partei“. Schluss mit dem traditionellen Ausgleich zwischen ÖVP-Landesfürsten, Kammern, Bünden und Verbänden, stattdessen höchste Personalisierung und Zuspitzung auf den „Leader“, alleinige Entscheidungsbefugnis in allen wichtigen Personalfragen und perfektes „Message Control“ – jede Selbstdarstellung, jede Botschaft, jede Inszenierung muss von Kurzens Gnaden sein. Und wo immer möglich, wird nicht nur in den ORF, sondern auch in Zeitungen hineinregiert, wie die soeben erfolgte frühzeitige Ablöse Helmut Brandstätters als Kurier-Chefredakteur durch die rechte und türkis-begeisterte Martina Salomon zeigt.
 
Das wird der Basti bei seinem Auftritt mit viel Höflichkeit, Lächeln und Eloquenz schon wieder gerade biegen.
Großzügig freie Hand gewährt der Kanzler hingegen seinem Koalitionspartner. Wenn die Mannen der Burschenschafterpartei – allen voran Vilimsky, Gudenus, Kickl, Rosenkranz & Co – fremdenfeindliche Sprüche klopfen, einen vom Bundespräsidenten durch seinen Besuch geehrten, von der Abschiebung bedrohten Lehrling fälschlicherweise als Terrorismussympathisanten anzeigen, antisemitische Rülpser niederer Chargen als „Missverständnisse“ banalisieren – dann schweigt Kurz. Ebenso angesichts des von Innenminister Herbert Kickl initiierten Versuches durch eine spektakuläre Polizeirazzia beim eigenen Geheimdienst BVT Zugriff auf brisante Daten über die rechtsextreme Szene und eventuelle Informanten zu erhalten – mit schweren Folgeschäden für das Image und die Kooperation mit verbündeten Geheimdiensten. 
 

Sebastian Kurz und sein Schlingerkurs in Europa

 
Im Regierungsabkommen mit der FPÖ hat Sebastian Kurz auf ein klares und unzweideutiges Bekenntnis zur EU bestanden. Das hat die eigene Anhängerschaft und die europäischen Partner beruhigt. Zugleich lässt der Jungkanzler keine Gelegenheit verstreichen, ohne zu betonen, dass weniger EU eigentlich mehr EU sei. Nicht eine Vertiefung der Zusammenarbeit – etwa durch eine Sozialcharta, durch gemeinsame Banken- und Steuerregelungen oder eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen – also nicht ein weiteres Zusammenrücken strebt Kurz an, sondern „weniger Zentralismus und mehr Subsidiarität“ stellt er in den Vordergrund. Die Staaten sollen auch nach einem Brexit nicht mehr einzahlen müssen und wieder mehr Entscheidungen national treffen können. Emmanuel Macron ist für ihn defenitiv kein Vorbild.
Dazu passend die immer wieder für sich in Anspruch genommene „Brückenfunktion“. Kurz ist nicht nur ein geschickter „Putin-Versteher“, er will auch Vermittler zwischen den offen EU-feindlichen Visegrad-Staaten und Brüssel sein und betont regelmäßig, man müsse die Standpunkte der Orbans, Kacynskis, Zemans und Babisse verstehen, respektieren etc. 
 
Dass Kurz die Abgeordneten seiner „neuen Volkspartei“ gestern im EU-Parlament für die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Ungarn wegen Gefährdung der Demokratie hat abstimmen lassen, ist auch in erster Linie als Taktik zu sehen. Der Schulterschluss der Konservativen in Straßburg war zugleich der Auftakt des Wahlkampfes für die EU-Parlamentswahlen im kommenden Mai. Das Ziel: eine betont moderate pro-EU-Mehrheit zu bewahren, damit der bayerische CSU-Mann Manfred Weber Jean-Claude Junker als Kommissionspräsident beerben kann. 
Sebastian Kurz konnte einmal mehr seine EU-Treue beweisen, ohne hohen Preis. Selbst wenn vier Fünftel der noch 28 EU-Regierungen (also 23) das Strafverfahren gegen Ungarn gut heißen, könnten echte Sanktionen gegen das Orban-Regime nur einstimmig beschlossen werden. Dazu wird es nie kommen, denn Polen und Ungarn haben sich gegenseitig schon zugesichert, solche Sanktionen durch ihr Veto zu Fall zu bringen. 
Ebenso rücksichtslos hat Sebastian Kurz schließlich seinen Freunden von der neuen SVP, Achammer und Kompatscher, ein vergiftetes Präsent gemacht: das Regierungsversprechen zur Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler.
Wesentlich realere Folgen hat da schon die engagierte Rolle von Sebastian Kurz beim Achsenschmieden innerhalb der EU, wenn es um die Migrationspolitik und den Ausbau der Union zur fremdenfeindlichen Festung geht. Da scheut der immer so zuvorkommend höfliche Modernisierer nicht davor zurück, sich mit den CSU-Bayern Seehofer, Söder und Dobrindt (Zitat: wir brauchen eine konservative Revolution), im einträchtigen Doppelpack mit H.C. Strache und im Einklang mit den Visegrad-Regenten sowie Matteo Salvini gegen Angela Merkel zu verbünden – selbst dann, wenn dadurch beinahe die Regierung in Berlin zu Fall gebracht worden wäre. 
Ebenso rücksichtslos hat Sebastian Kurz schließlich seinen Freunden von der neuen SVP, Achammer und Kompatscher, ein vergiftetes Präsent gemacht: das Regierungsversprechen zur Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler. Es war ein eindeutiges Zugeständnis an die deutschnationale Burschenschafter-Truppe, die immerhin 40 Prozent der FPÖ-Abgeordneten im Nationalrat stellt und einen guten Teil der Parteikader. Dass damit die ethnischen Spannungen in Südtirol wieder angefacht und das Verhältnis zu Rom belastet werden, war und ist Sebastian Kurz offenbar ebenso gleichgültig wie die Tatsache, dass er damit den deutschen Oppositionsparteien rechts von der SVP Aufwertung und Wahlkampfmunition beschert. Aber das wird der Basti bei seinem Auftritt mit viel Höflichkeit, Lächeln und Eloquenz schon wieder gerade biegen.