Society | Digitalisierung

"Wir haben die Kindheit abgeschafft"

Zu Schulbeginn erklärte der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff den Südtiroler LehrerInnen, warum die Digitalisierung Kinder zu Tyrannen mache.
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Foto: Pixabay (cc)
Bei der Pädagogischen Großtagung von ASM (Arbeitskreis Südtiroler Mittel-, Ober- und Berufsschul- lehrer/innen) und KSL (Katholischer Südtiroler Lehrerbund) diagnostizierte der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Michael Winterhoff, Autor von "Warum unsere Kinder Tyrannen werden - oder: Die Abschaffung der Kindheit", unserer Gesellschaft Überforderung mit der Digitalisierung.
 
Wenn morgen die Schulen des Landes ihre Tore öffnen, werden es erstmals nur Kinder des 3. Millenniums sein, die das Schuljahr beginnen, zumindest regulär. Digital Natives werden sie auch genannt, und man unterstellt ihnen, sie fänden sich in einer Welt, die von Technologisierung und den neuen Medien bestimmt ist, intuitiv zurecht.
 
Eine ganz andere Diagnose stellt der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff: „Jeder zweite Heranwachsende ist nicht herkömmlich arbeitsfähig.“, meint er – geschädigt sei die junge Generation durch das Aufwachsen in einer von der Digitalisierung überforderten Welt. Unter dem Vortragstitel „SOS Kinderseele – Kinder und Jugendliche im Zeitalter der Digitalisierung“ sprach er heute auf Einladung von ASM und KSL zu den im Bozner Stadttheater versammelten Südtiroler LehrerInnen und KindergartenpädagogInnen.
 
Der Verdacht, dass etwas in der gesellschaftlichen Entwicklung schiefgeht, kam dem Sozialpsychiater Winterhoff durch seine Arbeit als Psychiater für Kinder und Jugendliche. Berufsbedingt habe er es zwar immer mit „schwierigen“ Kindern zu tun gehabt. Aber während noch vor 20 Jahren die Kinder im Wartezimmer seiner Praxis das Spielen unterbrochen hätten, um ihn an der Seite ihrer Eltern zu begrüßen, würden sie ihn heute oft bewusst ignorieren. Auch im therapeutischen Gespräch seien Kinder weniger begeisterungsfähig und kooperativ als noch Anfang der 90er Jahre, gäben kaum Antwort, wären trotzig. Und das, obwohl Eltern heute mindestens so engagiert hinter der Erziehung ihrer Kinder stünden wie früher.

"Ein Kind sitzt nicht aus Gehorsam ruhig im Restaurant"

Warum? Dafür findet Winterhoff klare Worte: „Wir haben die Kindheit abgeschafft. Kinder bekommen keine Zeit und Ruhe mehr. Stattdessen behandeln wir sie wie kleine Erwachsene.“ Immer öfter könnten sich Kinder aussuchen, wie und was sie wann lernen wollen, es fehlten ihnen die festen Rahmenbedingungen. So lernten sie nie, fremdbestimmt zu handeln, sondern kreisten ewig um sich selbst, meint der Psychiater. „Wenn ein Kind mich im Wartezimmer grüßt, statt weiterzuspielen, wenn es im Restaurant ruhig sitzt und isst, statt eine Szene zu machen, dann nicht, weil es gehorsam ist. Sondern weil es die Menschen um sich herum wahrnimmt und nicht stören will. Diese Fähigkeit fehlt heute vielen Kindern.“

Erwachsene im Katastrophenmodus

Der Grund dafür ist laut Winterhoff die Digitalisierung. Nicht, weil die Kinder zu viel von neuen Medien umgeben seien. Der Psychiater ist zwar überzeugt, dass ein Smartphone vor 14 Unfug ist. Aber die Ursache für die Existenz all der Kinder „ohne Unrechtsbewusstsein und Empathie“ liegt seiner Meinung nach in der Bindung zu den Erwachsenen. Durch Bindungen bilde sich die Psyche, ist er überzeugt. Und von der Bildung der Bindungen, nicht von Erziehungsmaßnahmen, hängt es ab, was für Personen Kinder werden.
 
Für Winterhoff sind es eigentlich die Erwachsenen, die von unserer Welt überfordert sind. Die Digitalisierung führe zu Stress im Beruf und Ablenkung durch Smartphones. Neue Medien trügen die Katastrophen der ganzen Welt ununterbrochen in unsere Leben. Dazu komme ein negatives Weltbild, die Vorstellung, dass die Dinge schlechter werden und nicht besser. „Stress, Reizüberflutung und eine diffuse Angst bringen uns in den Katastrophenmodus. Wir rennen mit Scheuklappen durch die Gegend und verlieren darüber unsere Intuition.“ Zum Beispiel die Intuition, dass man ein 10 Monate altes Baby durchaus etwas schreien lassen könne, bevor man es füttert. Dadurch erlerne es Geduld und Frustrationstoleranz.

Angst vor Liebesentzug

Den Eltern fehle also einerseits Ruhe und Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten, andererseits identifizierten sie sich in einer Welt, in der es an positiven Visionen mangelt, viel zu stark mit dem Glück des Kindes. „Eltern sehnen sich nach dem Glück des Kindes, grenzen sich zu wenig ab. Das führt zu einer ungesunden Symbiose.“ Das Resultat seien Machtkämpfe und Trotz mit dem Kind, statt Respekt vor der Autorität der Eltern. „Großeltern, die dem Kind sagen, es soll in Ruhe essen, machen sich schon Sorgen, dass sie deshalb nicht mehr geliebt werden.“
 
Wie also raus aus dem Dilemma? Winterhoffs Rezept: Waldspaziergänge. Oder andere Wege, zur Ruhe zu kommen, zwei, drei Stunden zu flüchten aus dem Dauerstress. „Aber nicht Rad fahren oder joggen, Neues entdecken, Handy oder Freunde mitnehmen.“, betont der Psychiater, „Sondern ganz abschalten, auch wenn es ungewohnt ist. Nur so stellt sich wieder Ruhe ein.“

Mut zu klaren Grenzen

Und gewappnet mit dieser Ruhe wäre man auch fähig genug, mit den modernen Medien umzugehen. Den Kontakt, den Kindern zu all den digitalen Unterhaltern hätte, sollte man eindämmen. Den sinnvollen Umgang lerne man als gesunder Mensch sowieso nebenbei, das zeige seine eigene Generation. Den Lehrern gibt Winterhoff außerdem Mut dazu mit, den Kindern klare Grenzen zu setzen, und ihnen auch Leistung abzuverlangen. Denn nur aus Kindern, die Frustration erlebt haben und gelernt, sie zu überwinden, würden „lebensfähige“ Erwachsene.