Society | Euthanasie

“Wir müssen über den Tod sprechen”

Mara Zussa bezeichnet ein Recht auf Sterbehilfe als menschlich und gerecht, sieht einem diesbezüglichen Gesetz aber nicht ohne Sorge entgegen.
mara zussa
Foto: @salto.bz

Seit dem 8. Juli und bis zum 30. September läuft in Italien eine Unterschriftensammlung, um die Frage der aktiven Sterbehilfe zur Volksabstimmung zu bringen. In Südtirol werden unter anderem in Bozen, Brixen, Bruneck, Innichen, Klausen, Lana, Leifers, Meran, Sand in Taufers, Sterzing und St.Ulrich Unterschriften gesammelt.

Bis vor Kurzem war Euthanasie, in Form von ausdrücklich gewünschter, aktiver Sterbehilfe, in Europa nur in den Benelux Staaten legal, die Schweiz erlaubt den assistierten Suizid, der die Verabreichung der tödlichen Substanz durch den Patienten selbst vorsieht. Vor wenigen Monaten haben sich auch die Parlamente in Portugal und Spanien dafür ausgesprochen, Euthanasie zu legalisieren, wobei die portugiesischen Gerichtshöfe das Gesetz anfechten. In Italien steht, nachdem 2017 die Unterbrechung lebenserhaltender Maßnahmen und Therapien erlaubt wurde, die Diskussion rund um das Thema Euthanasie noch aus.

Salto.bz hat mit Mara Zussa, Präsidentin der Südtiroler Organisation für Palliativpflege "Il Papavero/ Der Mohn" über das Sterben und aktive Sterbehilfe gesprochen. Das Gespräch, das aus dem Italienischen übersetzt wurde, geht vor allem auf die Situation jener Menschen ein, die Sterbehilfe aufgrund einer unheilbaren und tödlichen Krankheit in Erwägung ziehen.

 

Salto.bz: Frau Zussa, Sie sagen, dass viele zu Ihnen kommen, um über Euthanasie zu sprechen, aber nur wenige sich für Ihre Arbeit in der Palliativpflege interessieren. Erzählen Sie, worum geht es in der Palliativpflege?

Mara Zussa: Wir kümmern uns um jene Menschen, die unter einer nicht-therapierbaren Krankheit leiden – das heißt, dass die Therapie keine Wirkung mehr auf den Krankheitsverlauf zeigt. Anstatt sich also weiter um die Krankheit zu kümmern, nimmt sich die Palliativpflege der Menschen an, die darunter leiden. Einerseits geht es darum, die Schmerzen und Symptome der betroffenen Personen zu lindern; dafür sind vor allem die Palliativmediziner und -pfleger zuständig. Andererseits geht es aber auch um die psychische und soziale Betreuung der Person und ihrem familiären oder – im Fall einer alleinstehenden Person – freundschaftlichen Umfeld. Hier kümmern sich vor allem Psychologen, verschiedene spirituelle Einrichtungen und ausgebildete freiwillige Helfer darum, den Betroffenen ein bis zum Schluss respekt- und würdevolles Leben zu ermöglichen, ein Leben, das bis zum Schluss als lebenswert empfunden wird. Diese Empfindung ist natürlich sehr subjektiv.

Das heißt, jede Person, die unter einer unheilbaren Krankheit leidet, kann sich an euch wenden?

Bei der Palliativpflege kümmern wir uns vor allem um Personen mit chronischen, degenerativen und onkologischen Krankheiten. Dabei geht es insbesondere jene Fälle, die keine Aussicht auf Heilung haben: Die Arbeit beginnt dann, wenn nichts mehr getan werden kann. Im Normalfall handelt es sich um die Betreuung der Personen während der letzten sechs bis zehn Monaten ihres Lebens. Heute versuchen wir, die Palliativpflege vorzuziehen, schwerkranke Menschen bereits dann zu begleiten, während sie noch in Behandlung sind. So wird ein eventueller Übergang zur Palliativpflege erleichtert.

 

Viele bringen die Palliativpflege mit Sterbenden in Verbindung. Solange wir aber nicht tot sind, leben wir. Und um diese Lebenden kümmern wir uns.

 

Der Schritt, die Bekämpfung der Krankheit aufzugeben und sich in die Palliativpflege zu begeben, muss schwer sein.

Ja, das ist unglaublich schwierig. Auch deshalb, weil viele die Palliativpflege nur mit Sterbenden in Verbindung bringen. Viele denken: Man geht ins Hospiz, um zu sterben.

Ist das nicht so?

In gewisser Hinsicht stimmt das natürlich. Man stirbt aber nicht nur im Hospiz und sterblich, – also sterbend – sind wir alle. Wenn mich morgen ein Auto überfährt, bin ich tot – und dann hatte ich nicht mal die Zeit, darüber nachzudenken. Solange wir aber nicht tot sind, leben wir. Es gibt einen klaren Bruch zwischen Leben und Tod, dem Bekannten und dem Unbekannten. Und um die Lebenden kümmern wir uns in der Palliativpflege. Es sind Menschen, für die der Tod nicht unbedingt näher, aber vorstellbarer ist als für uns. Niemand von uns wacht morgens mit dem Gedanken an den eigenen Tod auf, nicht mal wir, die wir täglich damit konfrontiert sind. Diese Menschen versuchen wir zu begleiten. Wir hören zu, kümmern uns um einen lang aufgeschobenen Anruf oder darum, eine besondere Süßigkeit zu besorgen. Aber auch Hochzeiten und Geburtstage gehören dazu! Wir versuchen den Willen und die Würde der betroffenen Personen bis zum Ende zu respektieren.

Es gibt aber auch jene Personen, deren Schmerzen nicht mehr behandelt werden können oder die ganz einfach den Wunsch äußern, ihrem Leiden ein Ende setzen zu wollen. Wie geht ihr damit um?

Manchmal ist es nicht möglich, den Menschen die Schmerzen zu nehmen. Das ist eine unglaublich schwierige Situation. Einige akzeptieren ihr Leid und nehmen es auf sich – für sich selbst, für eine Überzeugung oder für andere. Ich bewundere diese Menschen, aber ich verurteile niemanden, der sein Leiden nicht schultern will oder kann. Dass wir unser Leid und unsere Schmerzen ertragen müssen, das ist Blödsinn. Ich habe es aber ehrlich gesagt noch nie erlebt, dass eine Person, die palliativ betreut wird, um Sterbehilfe bittet. Natürlich gibt es extreme Affektsituationen, in denen die Menschen den Wunsch äußern, zu sterben. Es handelt sich hier aber meist um Momente. 

Unabhängig davon entscheiden sich Menschen dafür, zu sterben. Einer der bekanntesten Fälle ist jener von Piergiorgio Welby, der jahrelang darum kämpfte, die künstlichen Maßnahmen, die ihn am Leben hielten, auszusetzen. Eine willentliche Unterbrechung von lebenserhaltenden Maßnahmen ist in Italien inzwischen erlaubt, aktive Sterbehilfe bleibt aber weiterhin verboten. Zurecht?

Ich glaube, dass unser Leben das Einzige ist, was uns gehört und gehören muss. Nur wir selbst sollen über unser Leben richten dürfen. Welby hat sich bewusst gegen dieses Leben entschieden, zu dem ihn seine Krankheit zwang. Diese Entscheidung ist heute auch rechtlich abgesichert. Niemand hat das Recht, uns vorzuschreiben, wie oder wie lang wir leben müssen. Diese Entscheidungsfreiheit gehört nur uns.

 

Ich glaube, dass unser Leben das Einzige ist, was uns gehört und gehören muss.

 

Das heißt, Sterbehilfe sollte in Italien auch rechtlich ermöglicht werden? 

Ein Recht auf Sterbehilfe wäre ein mitleidvoller, menschlicher Akt und wahrscheinlich auch ein gerechter: Wer aus dem Fenster springen möchte, springt. Wer seinen letzten Willen aber nicht mehr autonom ausführen kann, bleibt in seinem Leiden gefangen. Und warum sich einen solch brutalen Tod bescheren, wenn es auch sanftere Möglichkeiten gibt? 

Noch viel wichtiger wäre es aber, jene von uns, die sich in solch schwierigen Situation befinden, zu unterstützen. Und bevor wir zur Sterbehilfe kommen, müssen wirklich alle wissen, dass es die Möglichkeit der Palliativpflege gibt und dass sie auch funktioniert. Denn sie funktioniert.

Wie meinen Sie das?

Viele, die sich an die Palliativpflege wenden, haben nur einen Wunsch: diesen schwierigen, für sie nicht lebenswerten Moment in ihrem Leben zu beenden. Wer aber palliativ betreut wird, sich als Mensch aufgenommen und wertgeschätzt fühlt und auch die Familie aufgehoben weiß, ist geneigt, seine Meinung zu ändern. Deshalb ist es wichtig, dass die Möglichkeit der Palliativpflege, das Recht, sich der aggressiven Behandlung der Krankheit zu entziehen, ohne auf sich selbst gestellt zu sein, wirklich allen anerkannt wird.

Sie sagen, dass viele gar nicht über die Möglichkeit der Palliativpflege Bescheid wissen. Warum?

Manche kennen die Palliativpflege nicht, nein, und wer sie kennt, hat oft eine falsche Vorstellung davon. Auch deshalb, weil es schwierig ist, darüber zu sprechen. Früher vermied man es, über Sex zu sprechen, heute verdrängen wir den Tod. Der Tod erschreckt uns, wie all das, was wir nicht kennen. Wir müssen aber über den Tod und die Palliativmedizin sprechen, ansonsten werden Vorstellungen bedient, die nicht der Wahrheit entsprechen. Seit Kurzem ist die Palliativmedizin fester Bestandteil der medizinischen und Pflege-Ausbildung, hier zeichnet sich ein gewisser Wandel ab. Das stimmt mich zuversichtlich.

 

Es ist nicht einfach zu verstehen, wann es tatsächlich der Wunsch und die feste Überzeugung eines Menschen ist, zu sterben

 

In Ihren Aussagen zur Sterbehilfe schwingen Vorbehalte mit. Sie tun sich schwer, sich klar dafür oder dagegen auszusprechen. Warum?

Es ist nicht einfach zu verstehen, wann es tatsächlich der Wunsch und die feste Überzeugung eines Menschen ist, zu sterben und wann möglicherweise eine depressive Phase oder ein gewisser Druck von Außen eine Rolle spielt. Wir müssen aufpassen und sichergehen, dass ein Gesetz zur Sterbehilfe gut strukturiert ist. Und wir müssen verstehen, wann wir helfen können und wann nicht… Ich glaube, dass das Thema nicht auf die Rechtslage reduziert werden kann. Ein Gesetz allein, auch ein anständiges, erübrigt die Diskussion nicht.

Die ethisch-moralische Perspektive außer Acht lassend, sind die Bedenken, die viele gegenüber dem Recht auf Sterbehilfe hegen, nachvollziehbar: Der Gedanke daran, dass wir einen geliebten Menschen frühzeitig verlieren könnten, ist nur schwer zu ertragen. 

Natürlich, aber ihr Leben gehört ihnen, nicht uns. Wollen wir diese Entscheidung nur deshalb verhindern, weil wir uns schlecht fühlen könnten? Weil wir über die Gründe der Person, sich der Euthanasie zu unterziehen, nachdenken müssten? Haben wir Angst, uns in einer moralisch schwierigen Position zu befinden, weil wir diese Entscheidung nicht verhindern konnten? Darüber müssen wir sprechen!

 

Wer sich bei vollem Bewusstsein dafür entscheidet, zu sterben, wird diesen Schritt nicht mit Leichtigkeit setzen.

 

Warum ist es so schwierig, diese Entscheidung zu akzeptieren?

Das ist die nächste Frage, über die wir sprechen müssen. Offen, mit den Betroffenen und ohne Urteile zu fällen. Egal, wie sich eine Person entscheidet, nur sie kann diese Entscheidung treffen. Es ist eine Sache, über eine Krankheit zu sprechen, es ist eine ganz andere, davon betroffen zu sein. Die Welt ist nach so einer Diagnose nicht mehr dieselbe. Wir, die wir nicht in dieser Situation sind, können uns die Schmerzen und Ängste, die damit verbunden sind, gar nicht vorstellen. Ich würde mich nie trauen, die Entscheidung einer Person zu verurteilen, auch deshalb nicht, weil ich weiß, dass ein Windhauch genügt, damit wir uns auf der anderen Seite der Debatte befinden. Ich kann nur versuchen, die Entscheidung zu verstehen, aber ich muss sie respektieren. Wer sich bei vollem Bewusstsein dafür entscheidet, zu sterben, wird diesen Schritt nicht mit Leichtigkeit setzen.

Im Moment läuft eine Unterschriftensammlung, die die Entkriminalisierung der Sterbehilfe in Italien zur Volksabstimmung bringen will. Werden Sie unterschreiben? 

Wenn wir es dadurch schaffen, über den Tod und den Weg dorthin zu sprechen, ja, warum nicht!

 

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Karl Trojer Wed, 08/11/2021 - 10:54

Das Thema TOD wird in unserer Zivilisation tabuisiert und verdrängt, ein Umstand, der die Angst füttert. Diese Angst kann unser Leben schwer belasten, sie kann aber durch offenen Dialog miteinander auch verwandelt werden. Ist der Tod ein Tor zu neuem Leben oder ein Abgang ins Nichts ? Ich würde bei der Frage beginnen : woher kommen wir, wohin gehen wir ?, und dazu gibt es keine sichere Antwort. Meines Erachtens muss man die Antwort selber finden, indem man bewußt das Risiko eingeht, sich für das "Tor" oder das "Nichts" zu entscheiden. Ich persönlich glaube, dass wir alle aus der Liebe kommen und in sie zurückfallen. Wenn der Tod bei mir anklopft, dann wünschte ich mir, mich von meinen Lieben noch verabschieden zu können, dass eventuelle körperliche Leiden möglichst gelindert werden und dass ich, gegebenenfalls, bewußt entscheiden kann, ob ich weiter künstlich ernährt werden soll oder nicht. Ich anerkenne das Recht auf Selbstentscheidung über das Ende des eigenen Lebens, auch wenn dafür die Hilfe Dritter erforderlich ist, möchte diesen Weg aber nicht gehen.

Wed, 08/11/2021 - 10:54 Permalink
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Sepp.Bacher Wed, 08/11/2021 - 11:44

@ Servus Leute - Dass politisch nichts weiter geht, hat auch damit zu tun, dass es keine Lobby für dieses Thema gibt. Für die Parteien ist das Thema auch zu wenig populär - eignet sich nicht für populistische Politik.
Es ist wichtig, auf die Gemeinden zu gehen und dort für dieses Referendum zu unterschreiben.
Ein Argument ist oft, dass Suizid und folglich auch Sterben auf Verlangen, aktive Sterbehilfe, gegen die Natur ginge. Meines Erachtens ist aber auch die ganze Medizin und gesellschaftliche Haltung, die Menschen immer älter zu machen - mit den ganzen negativen Begleiterscheinungen, gegen die Natur.
Die Überalterung der Gesellschaft und die Umdrehung der Alterspyramide ist ein Problem für unsere ganze Gesellschaft, aber auch ein Zeichen, dass die demografische Entwicklung sich schon lange gegen die Natur richtet. Man sollte alten Menschen, die unheilbar krank, die nur künstlich am Leben gehalten werden, dement und/oder taub sind, oder Langzeitpflegefälle sind, die Chance geben, freiwillig aus dem Leben zu scheiden oder diesen Wunsch in der persönlichen Patientenverfügung zu deponieren.

Wed, 08/11/2021 - 11:44 Permalink