Society | Nachhaltigkeit

Zur Worthülse verkommen?

Je mehr von Nachhaltigkeit die Rede ist, desto mehr, so der Eindruck, verkommt das Wort zu einer PR-Strategie. Nachhaltigkeit „ist in“. Aber Nachhaltigkeit ist nicht immer drin, wo sie draufsteht.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: shutterstock

Bei Diskussionen mache ich die Erfahrung, dass immer mehr Menschen allergisch auf den Begriff der Nachhaltigkeit reagieren. In der Tat laufen Begriffe, die häufig verwendet werden, Gefahr, zu Containerbegriffen zu werden. Ein Containerbegriff ist dadurch charakterisiert, dass er viele unterschiedliche Bedeutungen enthält, je nachdem, in welchem Kontext oder von wem er verwendet wird. Wie ein Container mit vielerlei Dingen gefüllt werden kann, so können auch in einen Begriff viele Assoziationen und Aspekte verpackt werden. Je mehr Bedeutungen mit einem Begriff letztendlich verbunden werden, umso schwammiger wird er. Er wird zu einem Modewort und jeder bzw. jede kann damit je eigene Vorstellungen verbinden, vielleicht sogar einen Begriff kreativ umdefinieren. Vor einiger Zeit präsentierte eine Firma ihre Nachhaltigkeitsstrategie. Allerdings vermisste ich darin jegliche Verbindung zu den Themen, die normalerweise mit Nachhaltigkeit verknüpft sind, wie Umweltschutz, schonender Ressourcenverbrauch, soziale Gerechtigkeit etc. Auf die kritische Nachfrage kam sinngemäß die Antwort: „In unserer Firmenphilosophie verstehen wir jene Strategien als nachhaltig, die geeignet sind, unsere Ziele langfristig und effektiv umzusetzen.“ Eine selbstkritische Reflexion darüber, ob diese Firmenziele etwas mit den Sustainable Development Goals, d. h. mit den von der UN formulierten 17 globalen Nachhaltigkeitszielen zu tun haben, war Fehlanzeige.

 

Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich auch, wenn man angesichts der mittlerweile auch hierzulande unübersehbaren Folgen der Klimaerwärmung – Wasserknappheit, Rückgang der Gletscher, mildere und schneeärmere Winter, Verschiebung der Permafrostgrenze, Rückgang der Biodiversität etc. – feststellen muss, dass ein Umdenken auch bei uns noch nicht oder erst ansatzweise stattfindet, trotz vielfältiger Initiativen wie beispielsweise der sehr aufwändig organisierten und durchgeführten Nachhaltigkeitstage Anfang September 2022 oder der Veranstaltung „Gemeinsam für die Nachhaltigkeit“ vor wenigen Wochen in Bozen, bei der Siegerprojekte des Schulwettbewerbs „Everyday for future“ ausgezeichnet worden sind.

 

Immer noch werden neue Skigebiete gebaut, teils in sensiblen Habitatzonen für bedrohte Wildtierarten wie das Auerhuhn; anstatt konkreter Maßnahmen, um das Verkehrsaufkommen zu reduzieren, wird der dreispurige Ausbau der Brennerautobahn gefordert; gegen das Tiroler Transitverbot haben italienische Frächterverbände mit Südtiroler Unterstützung Klage auf EU-Ebene eingereicht, da sie den freien Warenverkehr und den fairen Wettbewerbs bedroht sehen; bei der verpflichtenden Herkunftsbezeichnung von Lebensmitteln, damit Konsumentinnen und Konsumenten ihrer Verantwortung im Konsumverhalten besser gerecht werden können, treten Handelskammer und Gastronomie auf die Bremse; ein Produkt wie der „Südtiroler Speck“, das unter Einbeziehung der gesamten Produktionskette ein Negativbeispiel für mangelnde Nachhaltigkeit ist, darf weiterhin mit dem Südtirol-Logo beworben werden, usw. usf.

In den meisten Fällen lassen sich die Konflikte auf folgenden gemeinsamen Nenner bringen: Priorität der wirtschaftlichen Interessen vor den Belangen von Umweltschutz und sozialen Fragen wie Gesundheit der Menschen.

 

In Südtirol gibt es seit einem Jahr eine Allianz der Lehre und Forschung für Nachhaltigkeit, an der unterschiedliche akademische Institutionen beteiligt sind wie die Freie Universität Bozen, die Eurac, die Philosophisch-Theologische Hochschule Brixen, das Versuchszentrum Laimburg, die Fraunhofer-Gesellschaft Italien, das Naturmuseum, Eco Research, das Ökoinstitut Südtirol u. a. Die administrative Leitung liegt bei der unibz, bei der auch das Kompetenzzentrum für ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit angesiedelt ist.

 

Als PTH Brixen sehen wir unsere Aufgabe darin, die philosophische und ethische Perspektive von Nachhaltigkeit in die Diskussionen einzubringen. Ein Aspekt ist der, dass wir an das Grundkonzept der Nachhaltigkeit erinnern. Dabei geht es wesentlich darum, dass die drei  großen Bereich des menschlichen Handelns – Ökonomie, Soziales, Ökologie – in ein angemessenes Verhältnis gesetzt und in ihren komplexen Vernetzungen wahrgenommen werden. Es handelt sich nicht lediglich um drei voneinander unabhängige Kreise mit gemeinsamen Schnittmengen, sondern um ein filigranes Netzwerk wechselseitiger Verbindungen. Entscheidungen in einem Bereich wirken sich auf jeden Fall, unmittelbar oder mittelbar, kurzfristig oder langfristig auf die anderen Bereiche aus. In der katholischen Soziallehre spricht man deshalb im Kontext der Nachhaltigkeit auch vom Prinzip der Retinität (Vernetzung), um auf diese vielfältigen und komplexen Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Dabei bleibt zu bedenken, dass die Bereiche Ökonomie und Soziales auf die Ökologie aufbauen, nicht umgekehrt, und dass deshalb langfristig gesehen Ökonomie und Soziales nur Bestand haben, wenn bei der Lösung von Zielgüterkonflikten die gemeinsamen ökologischen Grundlagen nicht zerstört werden. Hierfür wäre es aber nötig – und dies geschieht immer noch zu wenig –, dass klare Vorzugsregeln erarbeitet und befolgt werden und dass die ökologischen Belange und die langfristigen Auswirkungen auf die ökologischen Zusammenhänge durch qualifizierte Risikoabwägungen stärker berücksichtigt werden. Derzeit räumen wir m.E. der Ökonomie und der Berücksichtigung von lediglich kurzfristigen Strategien immer noch eine zu starke Priorität ein.

 

Dabei ist klar, dass diese Themen in den öffentlichen Debatten kontrovers diskutiert werden und dass besonders das Einbringen der ethischen Perspektive von manchen auch als provokant wahrgenommen wird. Die Aufgabe der Ethik besteht grundsätzlich darin, sich mit dem Status quo nicht zufrieden zu geben, sondern diesen kritischen zu hinterfragen und danach zu fragen, wie er zum je Besseren verändert werden könnte. Ethik ist aber nicht nur kritisch, sondern sie will neben möglichen Lösungsstrategien auch Motivationsquellen aufzeigen, um zu einem veränderten Verhalten zu ermutigen. Dazu gehört auch die Ermutigung zu neuen Lebensstilen, die auch die Aspekte Selbstbeschränkung und Verzicht beinhalten. Das an der PTH Brixen angesiedelte Institut De Pace Fidei für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in ökumenischer und interreligiöser Perspektive setzt sich intensiv mit diesen Themen auseinander und ist u.a. Mitglied des interdiözesanen Netzwerks Rete interdiocesana Nuovi stili di vita.

 

An der PTH Brixen wird derzeit auch ein von der Provinz Südtirol finanziertes Forschungsprojekt „Religion und Nachhaltigkeit“ durchgeführt, welches die Zusammenhänge zwischen Religiosität, Wertvorstellungen und nachhaltigem Verhalten und Handeln untersucht. Es wird spannend sein, ob sich Studienergebnisse aus anderen Ländern auch in Südtirol bestätigen werden oder nicht. Beim Festvortrag am diesjährigen Dies Academicus der PTH Brixen hatte die Schweizer Soziologin Irene Becci zwei bedenkenswerte Ergebnisse von empirische Studien über den Zusammenhang zwischen Religiosität und Nachhaltigkeit vorgestellt: erstens, „dass Menschen, die in den jüdisch-christlichen Überlieferungen beheimatet sind, im Vergleich zu anderen weniger aufgeschlossen sind für ökologische Themen, Fragen und Problemen“ (– dieses Ergebnis gibt mir als katholischem Theologen, der sich für Tier- und Umweltschutz einsetzt, besonders zu denken; da haben wir als Kirche offensichtlich noch wichtige Hausaufgaben zu erledigen –); zweitens, „dass unter den Aktivistinnen und Aktivisten im Umweltbereich die Religiosität im weiten Sinn des Wortes zunimmt und dass diese in ihrem Engagement deutlicher als früher Verbindungen zu spirituellen Vorstellungen, Haltungen, Praktiken und Gruppen herstellen bzw. suchen“ (– auch dieses Ergebnis gibt mir zu denken, da erdbezogene Spiritualitätsformen in ökologischen Bewegungen oft einhergehen mit einer Resakralisierung der Natur und der Wiederkehr vormoderner Naturvorstellungen –). Als Theologinnen und Theologen fragen wir uns, wie wir das christliche Verständnis der Natur als Schöpfung besser und glaubwürdiger für eine umwelt-, tier- und menschenfreundliche Schöpfungsspiritualität und für nachhaltige Lebensstile fruchtbar machen können.

Ein Beitrag von Martin M. Lintner