Books | Rezension

Sind wir in der kollektiven Pubertät?

Bestsellerautorin Alice Hasters schreibt in ihrem neuen Buch über die Generation der 90er, das westliche Lebensmodell und wagt einen pragmatischen Blick in die Zukunft.
Spiegel
Foto: Jovis Aloor/Unsplash
  • Es ist eine Zeit des Entgleitens. Wer sind wir eigentlich? Was sind wir geworden? Warum sind wir so geworden? Was können wir werden? Was wollen wir werden? 

    Die deutsche Bestsellerautorin Alice Hasters geht in ihrem neuen Buch „Identitätskrise“ diesen Fragen auf den Grund. Unverblümt rekonstruiert sie die Entwicklung des Westens, der sein Modell der Demokratie und des Kapitalismus bis heute feiert, aus der Perspektive einer Schwarzen Frau. Sie beschreibt dabei nicht nur historische Zusammenhänge zwischen Ausbeutung der Einen und Selbstverwirklichung der Anderen, sondern auch die Gefühle jener Menschen, die in diesem wohlhabenden und verängstigten Westeuropa leben. 

    „Ich glaube, dass die vielen großen Krisen unserer Zeit auch unsere individuelle und unsere gesellschaftliche Identität in Unsicherheit versetzen. Wir befinden uns also momentan in einer Identitätskrise. Ich sehe diese Identitätskrise vor allem bei den Privilegierten“, schreibt Hasters. Wer privilegiert ist, muss sich nicht damit auseinandersetzen, was Trockenheit auf dem eigenen Feld bedeutet. Wer privilegiert ist, hat die Wahl, sich mit dem größer werdenden Leid auf dieser Welt zu beschäftigen oder auch nicht. Denn sie oder er ist (noch) nicht direkt betroffen und kann sich Ohnmacht und Zynismus leisten. 

    Eine Identitätskrise ist sozusagen eine gesellschaftliche Pubertät.

    „Es gibt kaum eine Gruppe, die so viel Einfluss auf die Weltgeschichte hat wie die Gleichgültigen“, schreibt der syrisch-deutsche Autor Rafik Schami. „Und das Bemerkenswerte daran ist, niemand spricht von ihnen. Ihre Passivität hat die radikalsten Umbrüche ermöglicht. Die Gleichgültigen nehmen alles hin, wie es kommt. Sie sind weder dafür noch dagegen. Engagement ist für sie ein rotes Tuch; mit der Zeit stumpfen sie ab.“ Dieses Zitat finden Sie in dem Buch „Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich“, von Luisa Neubauer und Dagmar Reemtsma

    Auch Alice Hasters schreibt gegen die Ohnmacht an, macht sich verletzlich, gibt persönliche Erfahrungen preis. Als Journalistin in Deutschland beobachtete sie, wie sich das Meinungsbild in Medien und Öffentlichkeit verändert, und kommt zu dem Schluss, dass all die Versprechungen des Westens nicht eingehalten werden können. Denn wir leben noch lange nicht in einer gleichberechtigten Gesellschaft. Es macht sich ein Unwohlsein breit. Die Geschichte, die wir über uns erzählen, geht nicht mehr auf. 

    „Eine Identitätskrise ist sozusagen eine gesellschaftliche Pubertät: eine Phase der Veränderung, die irrationales, überemotionales Verhalten, ein starkes Verlangen nach Zugehörigkeit und ein schwieriges Verhältnis zu Autorität mit sich bringt“, erklärt Hasters. Sie stützt sich dabei auf das Modell des Soziologen Erik Erikson, der jeder Lebensphase entscheidende Krisen zuwies, und bringt mit ihrer Gesellschaftsdiagnose die Problemlage auf den Punkt. 

    Noch nie ging es den Menschen in westlichen Ländern so gut wie heute, das hörte die Generation der 90er Jahre, zu denen auch Hasters gehört, häufig. Auch ich wurde in den 90er Jahren geboren. Ich kenne keinen Hunger und keinen Krieg. Ich bin in einer Demokratie aufgewachsen, mit vollen Supermärkten und billigen Klamotten in jeder erdenklichen Farbe. 

    Sie ist unangenehm und unheimlich, jedoch kommen wir nicht weiter, wenn wir sie nicht durchstehen.

    1989 schrieb der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Philosoph Francis Fukuyama den Essay „Das Ende der Geschichte?“. Seine These darin lautet, dass sich die liberale Demokratie als stabilstes und friedlichstes System herausgestellt hat und andere Länder dem westlichen Modell folgen würden – mit dem Kapitalismus im Gepäck.  

    Doch diese These muss in Frage gestellt werden. Alice Hasters stellt dabei den Freiheitsbegriff in den Mittelpunkt. Und beschreibt die Menschen in Europa, als wären sie auf einem Drogen-Trip. Sie ignorieren die schlechten Nachrichten und verwirklichen sich selbst, komme, was wolle. Denn ihnen ist bewusst, dass sie ein Individuum sind, das sterben wird. Aber wie viel ist unsere Freiheit wert, die längst ein Ablaufdatum bekommen hat?

    „Eine Identitätskrise ist ein Prozess. Sie bedeutet die emotionale Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel. Und sie ist unumgänglich. Sie ist unangenehm und unheimlich, jedoch kommen wir nicht weiter, wenn wir sie nicht durchstehen.“ Verdrängung, Wut, Trauer und Akzeptanz seien Teil dieses Prozesses, wo am Ende eine neue Identität und mit ihr ein neues System entstehen können. 

  • Über die Person

    Alice Hasters wurde 1989 in Köln geboren. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin, Moderatorin und Speakerin in Berlin. 2020 wurde sie für ihre Bildungsarbeit zum Thema Rassismus zur Kulturjournalistin des Jahres gewählt. Ihr erstes Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. 

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