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Akte Regeni geschlossen

Als Italien vor wenigen Wochen seinen Botschafter nach Kairo zurückschickte, macht es drei Kreuze über den Regeni-Mord. Aber es geht dabei um noch einen Deal.
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Giulio Regeni
Foto: upi

Nun hat also die italienische Regierung ihren Botschafter wieder nach Kairo geschickt. Es gibt Leute, die darin eine „bedingungslose Kapitulation“ vor einem Mörder-Regime sehen.

 

Januar 2016: Mord an Regeni

Wir haben schon mehrmals über den „Fall Regeni“  berichtet: Am 25. 1. 2016 verschwand – zunächst spurlos – der junge italienische Soziologe Giulio Regeni, der als Doktorand der Universität Cambridge in Kairo Material über die Rolle der ägyptischen Gewerkschaften im „ägyptischen Frühling“ sammelte. 9 Tage später, am 3. 2. 2016, präsentierte die ägyptische Polizei seine Leiche, die sie angeblich in einem Graben an einer Kairoer Ausfallstraße fand. Was der erste Blick zeigte, bestätigte später die Autopsie nach der Überführung nach Rom: Man hatte Regeni ca. eine Woche lang bestialisch gefoltert, bevor man ihm das Genick brach. Und noch etwas wurde schnell klar: Die Spuren seiner Folterung trugen die Handschrift der ägyptischen Geheimdienste. Als Regenis Eltern, die italienische Öffentlichkeit und schließlich auch der italienische Staat von der ägyptischen Regierung Aufklärung forderten, reagierte diese mit so offensichtlichen Ausflüchten, Lügen und Blockaden, dass der Verdacht zur Gewissheit wurde: Für diesen Mord war das Al Sisi-Regime selbst verantwortlich.

(Ein Beispiel: Am 8. Februar 2016, unmittelbar nach dem Auffinden von Regenis Leiche, behauptete die ägyptische Innenministerin Magdi Abdel Ghaffar gegenüber den Medien, ihr und ihrem Geheimdienst sei Regeni unbekannt. Später wurde bekannt, dass der Geheimdienst auf Regeni schon mindestens einen Monat vor seinem Verschwinden Spitzel angesetzt hatte.)

 

Rückkehr des Botschafters

Da Regeni italienischer Staatsbürger war, musste seine Ermordung durch das ägyptische Regime die italienische Regierung herausfordern, zu deren elementaren Aufgaben ja auch der Schutz ihrer Bürger gehört. Als nicht mehr zu übersehen war, dass das ägyptische Regime jede Aufklärung verhinderte, rief Italien Anfang April 2016 seinen Botschafter aus Kairo zurück. Dabei sollte es bleiben, bis der Fall Regeni aufgeklärt war – oder die ägyptische Regierung den glaubhaften Nachweis erbracht hatte, dass sie zu dieser Aufklärung das ihr Mögliche getan hat. Mitte August 2017, also anderthalb Jahre später, schickte Italien seinen Botschafter nach Kairo zurück, ohne dass auch nur eine dieser Bedingungen erfüllt worden wäre. Denn bis heute ist das Regime bei seiner Linie geblieben, alles abzustreiten, was auf seine eigene Verwicklung hinweisen könnte. Schlimmer noch: Nachdem es von der bevorstehenden Rückkehr des italienischen Botschafters informiert worden war, hat es wie zum Hohn die Repression gegen die eigenen Menschenrechtsaktivisten nochmals erhöht, vor allem gegen diejenigen, die sich in Ägypten mit Regeni solidarisch erklärt hatten.

Besonders ins Visier nahm es die ägyptische Menschenrechtsorganisation ERCF (Egyptian Commission for Right and Freedom), mit deren Anwälten Regenis Eltern eng kooperieren. Fast unmittelbar nach der italienischen Rückkehrankündigung schloss es die Internet-Seite, auf der die ERCF eine Dokumentation über 378 Personen veröffentlicht hatte, die allein im letzten Jahr in Ägypten mit staatlicher Nachhilfe zum „Verschwinden“ gebracht worden waren. Einer ihrer Autoren ist der Anwalt Ibrahim Metwally, dessen eigener Sohn vor vier Jahren spurlos verschwand und der heute zu den Beratern von Regenis Eltern gehört. Er wurde am 10. September verhaftet, als er nach Genf fliegen wollte, um auf einer UN-Konferenz über das Thema Menschenrechte in Ägypten zu berichten. Inzwischen weiß man, dass er noch lebt, denn er konnte sich aus einem Gefängnis melden: Gegen ihn sei die Anklage der „Subversion“, der umstürzlerischen Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und der Gründung einer regierungsfeindlichen Assoziation erhoben worden (Metwally ist Mitglied einer Bewegung der Familien der in Ägypten Verschwundenen). Am 22. 9. wurde bekannt, dass Beamte der Polizei und des Geheimdienstes das Kairoer Büro der ERCF durchsucht haben, vermutlich als Vorspiel seiner Schließung.

 

„Strategischer Partner“

Spiegelt also die Rückkehr des italienischen Botschafters nach Kairo „nur“ den klassischen Konflikt wider: zwischen Staatsräson und Rechtsstaatlichkeit, in den jede Demokratie gerät, die auch mit Unterdrücker-Regimes im Gespräch bleiben muss? Hier geht es um mehr, und dieses „Mehr“ versteckt sich in der Feststellung, dass Al Sisi für Italien und für Europa ein „strategischer Partner“ sei. Gentiloni konstatierte es schon im Frühjahr 2016, als er Außenminister und die Empörung über den Mord noch frisch war, und sein Nachfolger Alfano hat es gerade vor den auswärtigen Ausschüssen beider Kammern wiederholt.

Dazu nur zwei Stichworte: Ägyptens ist reich an fossilen Brennstoffen. und das Regime ist einer der Schlüssel zur „Lösung“ des europäischen Flüchtlingsproblems.

(1) Ägypten verfügt über Erdöl und Erdgas, im Land operiert die italienische ENI. Vor der ägyptischen Mittelmeer-Küste lockt eines der größten Erdgaslager Europas, zu dessen Erschließung internationale Konkurrenten auf der Matte stehen. Die ENI ist auch in Libyen aktiv, dem ägyptischen Nachbarn, wo es ebenfalls reiche Erdöl- und Erdgasvorkommen gibt, das aber seit der westlichen Intervention gegen Gaddafi zu einem failed state wurde. Da Ägypten über den in Tobruk residierenden General Haftar den libyschen Osten kontrolliert, ist es schon aus diesem Grund ratsam, sich mit Al Sisi gut zu stellen.

(2) Wegen der Situation Libyens nimmt Ägypten auch im Hinblick auf die Flüchtlinge eine Schlüsselstellung ein, und zwar für ganz Europa. Laut Al Sisi leben in Ägypten gegenwärtig 5 Millionen Flüchtlinge, und es sei nur ihm zu verdanken, dass sie sich bisher noch nicht auf den Weg nach Europa gemacht hätten, obwohl er dafür – anders als die Türkei – von der EU bisher keinen einzigen Euro bekommen habe. Sein zweites Faustpfand ist Libyen, in dem dank General Haftar ohne das Einverständnis Ägyptens nichts geht. Minnitis fragiles Abkommen mit der libyschen Küstenwache hat zwar den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer fast versiegen lassen, weil nun die Flüchtlinge erst einmal in libyschen Lager „entsorgt“ werden. Aber nachhaltig wird dies erst dann sein, wenn es in Libyen wieder eine staatliche Zentralgewalt gibt, die sich an Verträge hält. Auch hier führt an General Haftar, d. h. Al Sisi, kein Weg vorbei. Weshalb nicht nur Alfano und Gentiloni, sondern auch Merkel in ihm den „strategischen Partner“ sieht, wie mörderisch sein Regime auch immer sein mag.

 

Europäische Schizophrenie

Was Italien zusätzlich in die Arme eines Mannes wie Al Sisi treibt, ist das fast vollständige Fehlen europäischer Solidarität. Dieses zeigte sich im Fall Regeni wie bei der Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas. Pragmatische Konsequenz: Flüchtlinge dürfen gar nicht erst europäischen Boden betreten.

Die Rückkehr des italienischen Botschafters nach Kairo ist demnach mehr als nur ein bedauerliches Zugeständnis an die Realität – in einem Fall, in dem es einen staatlichen Foltermord gab. Die heutige europäische Flüchtlingspolitik braucht Regimes wie das von Erdogan und Al Sisi, die sich an keine Menschenrechtskonvention gebunden fühlen. Und sie braucht Helfer wie die libyschen Milizen, die als „Küstenwache“ maskiert die Flüchtlinge in Lager fern von Europa verbringen und dort festhalten. Das „Europa der Menschenrechte“ ist eine Insel der Seligen, deren Zugänge Höllenhunde bewachen.