Zeitlose Virginia Woolf
Hört man dem künstlerischen Betriebsdirektor des Schauspiels Hannover bei der Stückeinführung zu „Orlando“ im Bozner Waltherhaus zu, kommt man nicht umhin, kurz die Augenbraue zu heben. Sehr löblich (nein, hinter dieser Formulierung /steckt kein Funken Ironie), dass das Theater fünfzig Prozent der Regie weiblich besetzt und sogar die Hälfte des Ensembles aus Frauen besteht, obwohl der klassische Theaterkanon wesentlich mehr Rollen für Männer bereithält. Man wünscht /sich aber, dass ihm nur die Formulierung etwas unglücklich geraten ist, als er die Wahl des Stücks von Virginia Woolf damit begründet, dass ein Trend zu gewissen Themen hin bestünde (also Feminismus und so) und das Schauspiel //Hannover da eine Sparte für gewisse Themen (Feminismus und so) habe, für die man ein passendes Stück gebraucht habe. Wir senken aber brav die Augenbraue wieder und wollen ihm an dieser Stelle nicht unterstellen, dass er Virginia /Woolf als Alibi-Autorin dafür sieht, dass der Trend bedient und die Quote erfüllt ist. Denn Virginia Woolf ist alles andere als eine passable Programmfüllerin.
Virginia Woolf ist eine Wucht. Zugegeben, nach der anderthalbstündigen Aufführung, die am Mittwoch im Bozner Waltherhaus und am Donnerstag im Meraner Stadttheater gezeigt wurde, bleibt ein leichter Zweifel daran, ob „Orlando“ grundsätzlich ein Bühnenstoff ist, aber die Inszenierung beweist dennoch: Die Geschichte ist seit dem Erscheinen des Romans 1928 um keinen Tag gealtert. Eher scheint es, sie verjünge sich mit den Jahren und reife langsam dem Zeitpunkt entgegen, zu dem sie genau passend und zugleich obsolet sein wird, weil sie sich erfüllt hat. Vielleicht aber wohnt ihr einfach der eigenartige zeitlose Zauber inne, der auch die Hauptfigur Orlando selbst umgibt. Anfangs ein junger Adliger am Hof Elisabeths I. im 16. Jahrhundert, durchlebt Orlando mehrere Jahrhunderte, wacht irgendwann als Frau auf und landet zuletzt als Dichterin im frühen 20. Jahrhundert.
Das Parodistische dieser Biografie hebt die Regisseurin Lily Sikes von der Textebene in die Inszenierung hinein durch verspielte und clowneske Elemente, den boshaften Witz von Virginia Woolf wissen Corinna Harfouch und auch ihr Partner Oscar Olivo präzise auf den Punkt zu bringen. Im Bühnenbild wird nochmal visuell das verdeutlicht, was „Orlando“ als Figur und Werk ausmacht: Der glatte, verspiegelte Boden lässt die räumlichen Grenzen zerfließen, ebenso ist das Stück weniger ein Bruch mit Rollen und Konventionen als ein spielerisches Zerfließen derselben. Harfouch ist als Orlando mal Mann, mal Frau oder weder noch oder beides zugleich, Olivo doppelt sie bisweilen, nimmt ihr ein Stück der Figur ab, schlüpft dann in andere Rollen – auch bei ihnen völlig unbedeutend, welches Geschlecht, welchen Status sie verkörpern. Das Korsett der Konvention und Rollenzuschreibung, dessen letzte Schnüre auch im Jahre 2020 noch nicht gesprengt sind, löst sich in „Orlando“ auf und Orlando – er und sie – zeigt es uns vor: Wir können alles sein.