Politics | Doppelte Staatsbürgerschaft

“Regionsbürgerschaft” statt doppelter Staatsbürgerschaft

Die Südtiroler Freiheit drängt wieder einmal auf die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler Hier einige Kritikpunkte und ein Gegenvorschlag.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Politisches Bewusstsein wird weiter auseinanderdividiert

Die Mitgliedschaft in einem Staat (Bürgerschaft) begründet Rechte und Pflichten. Den Südtirolern würde die zusätzliche Bürgerschaft im österreichischen Staat vor allem Rechte wie das Wahlrecht verschaffen und neue Leistungsansprüche begründen, aber weniger Pflichten bewirken: weder hätten wir Steuern nach Wien zu entrichten noch zum Bundesheer einzurücken. Weil wir bei der Nationalratswahl mitwählen könnten, würden sich die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler etwas mehr für die österreichische Politik interessieren, die uns nicht direkt betrifft; entsprechend weiter ab nähme das Interesse für die italienische Politik, die uns direkt betrifft. Laut ASTAT verfolgt schon heute nicht mal ein Zehntel dieser Kreise die italienische Politik näher (vgl. ASTAT, Lebensformen und Werthaltungen in Südtirol, Bozen 2007). Das Land fiele im politischen Bewusstsein und sprachlich getrennten Medienkonsum noch weiter auseinander.

Es gibt schon das Gleichstellungsgesetz

Ohne Zweifel könnte die doppelte Staatsbürgerschaft die Bindung der Minderheiten zum “Mutterland” einerseits und die Verantwortung der Schutzmacht für seine Staatsbürger im Ausland andererseits nochmals stärken. Doch sind die Südtiroler einerseits durch das Gleichstellungsgesetz in Österreich ohnehin schon in vielerlei Hinsicht den Inländern gleichgestellt. Andererseits ist unsere Autonomie völkerrechtlich abgesichert und die Schutzfunktion Österreichs dafür wird von Italien nicht in Frage gestellt. Die eigentliche “Schutzfunktion” hat ja die Autonomie, dies es uns ermöglicht, im eigenen Land gleichberechtigt und eigenständig zu leben. Sie hat auch den Sinn, dass alle offiziellen Sprachgruppen die Politik gleichberechtigt und möglichst eigenständig gestalten und nicht mit halben Fuß im jeweiligen “Ausland” leben. Mit der Erfüllung neuer Leistungsansprüche von nicht Steuer zahlenden Staatsbürgern im Ausland wird man sich auch in Wien schwer tun, weil man auch dort weiß, dass Südtirol kein armes Land mehr ist.

EU-Bürgerschaft wichtiger

In Südtirol würde die doppelte Staatsbürgerschaft die bestehende Ausdifferenzierung von Bürgern mit verschiedener Rechtslage erweitern: die Angehörigen der altösterreichischen Minderheiten, die “normalen” Staatsbürger, die EU-Bürger, die ausländischen Mitbürger mit Daueraufenthaltsrecht, jene mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung. Für die schon recht gut geschützten Bürger würde ein neuen Schutzschirm aufgespannt, während für die “emotionale Einbürgerung” der italienischen Mitbürger und die Integration der neuen Zuwanderer mit einer solchen Neuerung nicht geholfen wäre. Ein weiterer Schutzschirm ist auch deshalb wenig dringlich, weil Europa allgemein einen Rechtsrahmen für den Minderheitenschutz aufgebaut hat, die Rahmenkonvention für Nationale Minderheiten, die Italien und Österreich ratifiziert haben. In der EU ist man von Doppelstaatsbürgerschaften abgekommen, weil man zum einen Nicht-EU-Migranten zu einer Entscheidung bezüglich ihres Lebensmittelpunkts bewegen will, und zum andern die EU-Bürgerschaft allen EU-Bürgern ohnehin eine breite Palette von Rechten und Möglichkeiten eröffnet.

Mehr Bindung zum Land für alle

Nicht zusätzlicher Schutz durch Angehörigkeit zu einem anderen Staat ist vordringlich, sondern mehr gemeinschaftliche Bindung zum eigenen Land aller Gruppen. Gerade die alte Migration (Italiener, die vor 2-3 Generationen zugewandert sind), und die Migration der letzten 25 Jahre werfen ein Problem dieser Art von Bürgerschaft auf. Viele Italiener sind noch immer nicht ausreichend in Südtirol verwurzelt, sprechen wenig Deutsch, misstrauen der deutschen Mehrheitsbevölkerung wie die letzte Volksabstimmung deutlich gezeigt hat, klammern sich an faschistische Relikte und Ortsnamen, als ob diese Identität begründen könnte. Sie betrachten die Staatsbürgerschaft als entscheidend, nicht die Regionsbürgerschaft. Für die neuen Einwanderer ist der Weg zur Integration in ein Land wie unseres anstrengend: der italienische Staat erschwert die Einbürgerung und in Südtirol müssen sie und ihre Kinder gleich zwei neue Sprachen lernen. Dabei wirft schon eine fremde Sprache ein Problem auf: die vielen halbsprachigen Migrantenkinder in den Ländern mit älterer Migration, die im Bildungssystem und Arbeitsmarkt ganz unten landen, zeugen davon. Andererseits haben die Zuwanderung und die politischen Reaktionen darauf auch einen Mangel in der Autonomie aufgezeigt: Südtirol kann die Zuwanderung nicht autonom steuern.

Vorbild Åland-Inseln

Eine solche Möglichkeit hat hingegen eine andere autonome Region Europas. Auf den Åland-Inseln gibt es das Hembygdsrätt, eine Art Heimatrecht, als Rechtsinstitut. Es wird jenen finnischen Staatsbürgern zuerkannt, die ausreichend Schwedisch sprechen und eine Mindestansässigkeitsdauer vorweisen können. Dieses “Heimatrecht” eröffnet ihnen die Möglichkeit, auf Åland eine Gewerbe auszuüben, Grund zu erwerben und das passive und aktive Wahlrecht auszuüben. Eine solche Regionsbürgerschaft mag für diese fast nur schwedischsprachigen Inseln Finnlands Sinn machen, für Südtirol nicht, obwohl sie absolut EU-konform ist. Doch der Grundgedanke ist wichtig: es geht darum die Bindung der Menschen zu ihrer Region und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken; darum, die Migrationsbewegungen zu stabilisieren und bessere Bedingungen für die Integration zu schaffen; darum, gemeinsame Verantwortung für die engere Heimatregion aufzubauen. Eine solche Regionsbürgerschaft kann allen offen stehen, In- und Ausländern, alten und neuen Zuwanderern. Sie knüpft an denselben Kriterien an, die für den Erwerb der Staatsbürgerschaft, aber auch für den Bezug einiger öffentlichen Leistungen in Südtirol gelten: die legale Ansässigkeitsdauer. Dazu gesellt sich der Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse und die Bereitschaft, in diesem Land zu leben. Eine derartige Regionsbürgerschaft darf nicht bloß symbolische Wirkung, sondern muss auch konkrete Rechtswirkungen und dadurch einen praktischen Nutzen haben. Sie kann Nicht-Staatsbürgern den Zugang zu Teilbereichen des öffentlichen Dienstes, zu Sozialleistungen (Wohnbau usw.) und zum Wahlrecht auf Gemeinde- und Landesebene öffnen. Sie stabilisiert die Migration und ermutigt Zuwandererfamilien, eine langfristige Perspektive in der Region aufzubauen. Nicht die formale Staatsbürgerschaft, die später folgen kann, sondern Kriterien persönlicher Leistung (Spracherwerb und Sprachnachweis) und das objektive Kriterium der Ansässigkeitsdauer wären maßgeblich. In einem Satz: statt mit doppelter Staatsbürgerschaft noch einen weiteren Schutzschirm für schon Geschützte einzuführen, kann mit einer Regionsbürgerschaft beides befördert werden: mehr Einfluss auf die Migration durch die Landespolitik auszuüben und eine bessere Integration jener Mitbürger zu fördern, die in Südtirol den geringsten Schutz genießen.

Regionsbürgerschaft die Alternative

2016 werden an die 50.000 ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen in Südtirol leben, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben und für sich und ihre Kinder eine Zukunftsperspektive aufbauen wollen. Südtirol braucht keine fluktuierende Manövriermasse von Migranten, die kommen und gehen, die keinen Bezug zu unserem Land finden, sondern Menschen, die sich in dieses Land bis zu einem bestimmten Grad “einbürgern” wollen. Somit ist, neben der Staatsbürgerschaft, eine neue Form von Regionsbürgerschaft gefragt, die allen offen steht, die hier arbeiten und auf Dauer leben wollen. Nicht unbedingt die Begründung zusätzlicher Rechte und Ansprüche im Ausland – das ist und bleibt Österreich rechtlich gesehen - schon geschützter Angehörigen einer ethnischen Minderheit ist nötig, sondern mehr Beheimatung für jene, die das Leben zur Auswanderung gezwungen hat und die in Südtirol eine zweite Heimat gefunden haben.

 

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Sabina Frei Fri, 09/18/2015 - 21:03

Ich hätte auch noch eine Frage, nämlich, was du mit

„Südtirol braucht keine fluktuierende Manövriermasse von Migranten, die kommen und gehen, die keinen Bezug zu unserem Land finden, sondern Menschen, die sich in dieses Land bis zu einem bestimmten Grad “einbürgern” wollen.“

genau meinst.

Fri, 09/18/2015 - 21:03 Permalink
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klemens hacht Fri, 09/18/2015 - 23:50

viele interressante hypothesen, aber die aussage "Viele 'Italiener' sind noch immer nicht ausreichend in Südtirol verwurzelt" finde ich vermessen, eigentlich bitter. die aussage ist eine politisch ideologisierte wertung, die man ja öfter hört, weil man in südtirol immer noch von einem einseitigen idealbild einer "(gemeinsam) gefühlten heimat" ausgeht, genährt durch langjähriger kulturpolitischer indoktrinierung. man kann doch aber nicht den italienischsprechenden südtirolern absprechen, dass sie weniger an ihrer heimat hängen (verwurzelt sind), wie die deutschsprachigen. und dass es neben dem lauten, alles anderen unterdrückenden "tirolerischen nationalismus" keinen allgemeinen regionalpatriotismus gibt, liegt nicht nur in der diversität der kulturen, ländlicher und urbaner bevölkerung, sondern auch, weil die diskrepanz von dem immer noch grassierenden idealbild einer 'nation' südtirol (möglichst deutsch, alpin, kulturstark) und mittlerer realität (kleine heterogene, nicht kulturproduzierende durchzugsregion) keine wirkliche substanz für ein zusammengehörigkeitsgefühl zulässt. dass die von mir kritisierte aussage eine hochgegriffene ist, erhärtet sich auch mit Ihrer feststellung, dass 'italiener' keinen bezug zur regionalbürgerschaft haben: KEIN südtiroler weiss, was eine regionalbürgerschaft ist.

Fri, 09/18/2015 - 23:50 Permalink
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Hartmuth Staffler Sat, 09/19/2015 - 00:35

Mich würde interessieren, ob die schrecklichen Entwicklungen, die Thomas Benedikter für den Fall einer doppelten Staatsbürgerschaft für die Südtiroler an die Wand gemalt hat, auch in den 27 EU-Staaten registriert wurden, die die doppelte Staatsbürgerschaft bereits gewähren, insbesondere in den naheliegenden Gebieten Istrien und Dalmatien (wo slowenische und kroatische Staatsbürger zusätzlich auch die italienische Staatsbürgerschaft haben) und in Friaul (wo italienische Staatsbürger zusätzlich auch die slowenische Staatsbürgerschaft haben.

Sat, 09/19/2015 - 00:35 Permalink
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Thomas Benedikter Sun, 09/20/2015 - 23:11

Danke für die beherzten Kommentare, hier einige wenige Antworten.
Hartmuth Staffler weist auf die doppelten Staatsbürgerschaften in Dalmatien und Friaul hin. Aus verschiedenen (vor allem persönlichen) Gründen gibt es die doppelte Staatsbürgerschaft (auch in anderen Staaten), doch welchen Zweck soll dieses Modell in Südtirol wirklich erfüllen? Wenn es nur um die Symbolik geht (Anerkennung von Dalmatien-Italienern als 'Auslandsitaliener') und die betroffenen kroatischen Staatsbürger sich besser fühlen, wenn sie das römisch eParlament mitwählen dürfen, meinetwegen. Doch was bringt dies für die Minderheitenrechte der Dalmatien-Italiener in ihrem konkreten Alltag? Brauchen wir das in Südtirol mit ganz anderer Absicherung unserer Minderheitenrechte, also Symbolpolitik, die dann im Innern verschiedene Kategorien von Südtirolern schafft?
Liebe Sabina, bei diesem Satz geht es natürlich darum: die noch relativ junge Migration aus Arbeitsgründen nach Südtirol mus stabilisiert werden, damit Integrationsbemühungen wirken können. Migranten, die in Italien auf Arbeitssuche von Region zu Region ziehen, tun sich mit sozialer und kultureller Integration schwerer. Südtirol mit seiner speziellen, sprachlichen Situation muss geradezu ein Interesse daran haben, zu hohe Fluktuation (kurzeVerweildauer, vor allem wegen zu prekärer Arbeit) von Migranten zu vermeiden.
Mit Region ist bei diesem Vorschlag natürlich Südtirol gemeint, Benno, ganz unabhängig von den verfassungsrechtlichen Fakten, mit denen wir zu leben haben.
Zu Klemens Hacht: zumindest einige SALTO-Leser wissen nach der Lektüre dieses Beitrag, was eine Regionsbürgerschaft sein könnte. Doch Sie haben recht: Italiener können nicht etwas schätzen oder nicht, was sie nicht kennen (in diesem Fall die Regionsbürgerschaft). Man müsste sich überraschen lassen.
Eine reine Hypothese also, gebe ich zu. Nicht so verhält es sich mit der mangelnden Verwurzelung vieler italienischsprachiger Mitbürger in Südtirol, leider, denn dafür gibt es eine Reihe von Belegen, so z.B. im neuen Sprachbarometer des ASTAT.

Sun, 09/20/2015 - 23:11 Permalink
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Thomas Benedikter Tue, 09/22/2015 - 08:45

Der "Sprachbarometer 2014" wird Ende September veröffentlicht.
Eine Regionsbürgerschaft für die EVTZ macht diesen Vorschlag wohl noch unrealistischer, lieber Benno, zumal die EVTZ - möge sie gedeihen und wachsen - keine irgendwie verfassungsrechtlich verankerte autonome Region ist, sondern eine zusätzliche, grenzübergreifende Regierungsebene zwischen Ländern und Provinzen und EU. Gäbe es eine Südtiroler Regionsbürgerschaft, einen EVTZ-Pass, die traditionelle Staatsbürgerschaft und die EU-Bürgerschaft, würde das Ganze langsam unübersichtlich.....

Tue, 09/22/2015 - 08:45 Permalink
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Benno Kusstatscher Thu, 09/24/2015 - 00:44

In reply to by Thomas Benedikter

Christian hat mich wohl besser verstanden. EU-Pass und EVTZ-Bürgerschaft wären langfristig die zwei einzigen Dokumente, die ich zu meiner Existenzberechtigung benötige. Eigentlich interessieren mich weder Mobilitäts- noch Gesundheits-Ausweise, deren Gültigkeit sich auf Südtirol beschränkt. Kann mir kaum vorstellen, dass eine Südtiroler Regional Bürgerschaft in mir einen BZ-Patriotismus entfachen könnte.

Thu, 09/24/2015 - 00:44 Permalink
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Christian Mair Wed, 09/23/2015 - 19:52

Die Regionsbürgerschaft könnte man auch verbinden mit einer frühzeitigen Teilnahmerecht an kommunalen Wahlen und Volksbefragungen/Volksbestimmungen/abrogativen Referenden.

Wed, 09/23/2015 - 19:52 Permalink