Culture | Salto Gespräch
„Die Zeichnungen erst später verstanden“
Foto: Francesco Porcu
Salto.bz: Frau Zampieri, was gab den Anstoß, die Zeichnungen und Gedichte Ihrer Mutter mit der Öffentlichkeit zu teilen?
Giuliana Zampieri: Es war eine Verkettung von Umständen. Mein Onkel, der nach Äthiopien ging um zu unterrichten hatte eine Schülerin, die sich in ihn, als gebildeten Mann, Historiker und Philosophen verliebt hatte. Diese Frau verstarb vor zwei Jahren und ihr Sohn wollte einen Aufsatz schreiben, über seine Mutter und über meinen Onkel, Arturo Pasa, den Professor. Als der Sohn Kontakt zur Familie aufnahm, stieß er auf das Buch eines anderen Onkels, Giovanni - der Mann der Schwester meiner Mutter - zu Dokumenten über den Widerstand in Verona. Am Ende des Buches hatte er die Zeichnungen meiner Mutter publiziert, die bis dahin versteckt geblieben waren.
Meine Mutter wollte nie darüber sprechen, hat nie von der Gefangenschaft erzählt. Sie hatte diese Zeichnungen noch und hat sie, sich im Zimmer einsperrend, dem Onkel gegeben, als er uns besuchen kam. Er hat sie dann veröffentlicht, das war 1986. Der Sohn von Arturo hat sich in die Zeichnungen verliebt und fand, sie würden eine Ausstellung verdienen und hat so die ANED (Associazione nazionale ex deportati, Anm. d. Red.) kontaktiert. Diese hat dann beschlossen, dass es, statt sie in Verona zu zeigen, richtiger sei, die Ausstellung zuerst, 2022 im Jahr der Erinnerung, in Bozen zu organisieren. So kam es zur Ausstellung. Ich habe Brief und Reime meiner Mutter beigesteuert. So ging es los.
Wie interessant ist es für Sie nun historische Analysen zu sehen, die Versuche, den abgebildeten Personen, wo möglich, eine Identität zuzuweisen? Gibt Ihnen das eine gewisse Genugtuung?
Natürlich. Ich muss auch sagen, ich habe in den letzten Jahren mehr herausgefunden über die Wichtigkeit der Zeichnungen und Geschichten, was auch mit meinem Alter zu tun hat. Der Umstand, dass die ANED, fast alle - zumindest aus Verona - wiederfinden konnte, da sie ein Register aller Personen besitzt, die verhaftet und eingesperrt wurden, ist wichtig.
Ich fand heraus, dass meine Mutter in ihren Briefen schrieb, dass sie berühmt werden würde, weil sie ihre Schriften und Beschreibungen über das Lager veröffentlichen wollte. Ich weiß nicht, ob ihr die Bekanntheit jetzt gefallen hätte. Am 25. startet auch in Verona eine Ausstellung und die Ausstellung in Bozen wird nach Trient und Florenz weiterziehen… Mir scheint das nach all diesen Jahren wichtig für ihre Geschichte.
Der Umstand, dass die Zeichnungen „leicht“ sind, auch wenn sie aus einem Umfeld der Gewalt und Tragik stammen, scheint sie für viele zugänglich zu machen, auch für junge Menschen, die oft Schwierigkeiten haben sich mit einem so schweren Thema zu konfrontieren. Ich bin also sehr zufrieden.
Es ist ein anderer Zugang zur Geschichte. Wie haben Sie die Werke in der Nähe zu den alptraumhaften Visionen Marian Kolodziejs, die im oberen Stock der Stadtgalerie ausgestellt sind, erlebt?
Mir war es wichtig, dort sofort eine Unterscheidung zu machen: Kolodzej war für fünf Jahre Insasse in Vernichtungslagern. Das ist eine andere Situation als jene in Bozen, wenngleich es auch dort nicht an Tötungen und Gewalt fehlte. Meine Mutter trug einen Overall, aber ihr wurden nicht die Haare abrasiert und ihr wurde keine Nummer tätowiert. Zweifelsohne sind die Unterschiede groß.
Auch hat er nach der Rückkehr gemalt, sie hat ihre Zeichnungen als Gefangene gemacht. Da meine Mutter nie gesprochen hat, weiß ich das, was ich weiß aus den Briefen, welche sie an ihre Eltern schrieb. Sie hatte beim Schreiben an sie immer einen leichten Ton, wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten und gab vor, es ginge ihr gut, sie habe zugelegt und würde gute Luft atmen. In den Briefen erzählte sie, die Hofdichterin und -zeichnerin geworden zu sein, endlich eine Rolle zu haben, gefragt und geschätzt von ihren Leidensgenossinnen zu sein, die von ihr eine Skizze als Andenken wollten.
Bei der Ausstellung habe ich mich an etwas erinnert, das Primo Levi schrieb, von der Wichtigkeit nicht ein Irgendjemand zu werden, weil alle Wege verschlossen waren für jemand, der keine Aufgabe erfüllt. Wer aber eine Aufgabe fand, für den waren Wege offen, selbst wenn diese scheinbar banal war. Meine Mutter schrieb in einem ihrer Briefe, dass die Zeichnungen, ihr und den anderen halfen um zwei Minuten - ich will nicht Freude sagen - aber vielleicht Zufriedenheit zu finden.
Was glauben Sie hat sie dabei angetrieben? War es mehr der persönliche Antrieb, der sie zu dieser Aufgabe führte, um bei Verstand zu bleiben oder wollte sie es den Menschen um sie herum ermöglichen?
Ich denke, beides. Einerseits wollte sie sich wohl nicht auslöschen, nicht brechen lassen, ihre Persönlichkeit und ihre Seele bewahren. Auf der anderen Seite erzählte sie, dass sie, in den Schlafsälen, in welchen sie zu dritt übereinander und mit einem halben Meter zwischen den Betten schliefen, oft zornig waren: wegen der Kälte, des Hungers, wegen Streitigkeiten und Missgunst. Dann kehrte man wieder in die Schneiderei, an den Ofen zurück mit einer Scheibe Brot, lag sich in den Armen und schloss Frieden. Vielleicht auch dadurch, durch die Gedichte und Zeichnungen, überwand man das ein wenig. Zum einen überwand man das Persönliche, ließ sich nicht brechen und nicht auslöschen. Zum anderen schafften diese - wie sie es nannte - „Hofgedichte“ es vielleicht, dass Gefährtinnen, die bis vor Kurzem noch stritten, Gelegenheit hatten in ein familiäres, ruhigeres Umfeld einzukehren.
Welche Wirkung denken Sie hatte damals diese nach außen hin fröhliche Art, die wir heute mit Wissen um das, was in den Lagern geschehen ist, sehen?
Ich denke, es herrschte große Erschöpfung. In den Briefen sprach sie kaum davon, nur in wenigen kommen die Kälte, die Furcht, die Läuse, Flöhe und andere Tiere, der Schmutz und die Angst, welche viele nachts hatten vor. Es gab auch öffentliche Hinrichtungen, als Personen auf der Flucht eingefangen wurden. Ich denke, es war eine gewisse Leichtigkeit, der Versuch, sich nicht noch die Seele, das Innerste nehmen zu lassen.
Die Frauen trugen grau-grüne Anzüge; In einem der Briefe, die ich vor kurzem gelesen habe, erzählt sie, dass diese Anzüge ausgegangen und schwarze nachgeliefert wurden. Sie erkannte sofort die Absurdität von schwarz gekleideten Wächtern, welche über schwarz gekleidete Gefangene wachten. Sie meinte, nun seien Sie alle Funktionäre der faschistischen Partei und eines Tages, näherte sich, als sie beim Appell im Hof war, ein Unteroffizier. Weil sie geredet hatte, war er bereit sie zu schlagen. Sie erwiderte: „Willst du eine Kameradin schlagen?“ Sie meinte, er war perplex, lächelte und entfernte sich.
Es gibt aber auch Briefe in denen sie schreibt, dass sie nicht mal mehr zornig oder rebellisch nur mehr gleichgültig ist; dass sie mit ihr tun sollen, was sie wollen. Sie sah Züge in den Norden starten und niemand von ihnen wusste, was das bedeuten würde, nach Norden zu fahren. Es gibt all das.
Sie schrieb auch, sie sei zu beschäftigt gewesen um zu schreiben, was sie nur zwei mal im Monat durfte. Vielleicht schrieb sie auch nicht, weil sie schwermütig war, um die Eltern nicht zu belasten. Diese hatten zum einen eine Tochter, die in Bozen inhaftiert war, einen Sohn, der für sechs Jahre in britischer Gefangenschaft in Kenia war, einen weiteren Sohn, der in die Schweizer Berge geflohen war und eine Tochter, die sich im Friaul versteckte. Das muss für meine Großeltern auch schwer gewesen sein.
Konnten die Kinder heimkehren?
Ja, zum Glück kehrten sie nach Ende des Krieges alle nach Hause zurück. Ein Onkel war Geologe und half mit, das naturgeschichtliche Museum in Verona wieder aufzubauen. Der Onkel, der aus Kenia zurückkam unterrichtete Geschichte und Philosophie. Die Schwester, deren Mann später das Buch schrieb, kam auch nach Verona zurück und die Familie fand wieder zueinander.
Wie erging es ihrer Mutter, als sie aus dem Lager zurückkehrte?
Sie erhielt, als sie befreit wurde, vom Comitato di Liberazione Nazionale einen Attest, der alle dazu aufrief ihr zu helfen. Sie kehrte nach Verona zurück, wo sie ihre Lehrtätigkeit in der Klosterschule wieder aufnehmen wollte. In ihren Briefen hatte sie meinen Großvater gebeten zu den Klosterfrauen zu gehen, damit diese sie nicht als ausgetreten ansehen sollten, und er ihnen versichern solle, dass sie zurückkehren würde. Sie warfen ihr vor, die Schule im Stich gelassen zu haben. Der Kommandant ihrer Brigade, der „Brigata Montanari“ schuldete ihr Geld und verschwand. Sie sah Faschisten, die plötzlich Partisanen geworden waren. Sie war schwer enttäuscht. Sie lehnte auch die Anerkennung als Partisanin und die Veteranen Pension ab, nahm keine Lire an. Nach einem Jahr heiratete sie meinen Vater und widmete sich der Familie.
Sie hatte oft Schwierigkeiten, das Haus zu verlassen, aber innerhalb des familiären Umfelds behielt sie ihre Ironie, ihre Fähigkeit zu lächeln. Ich habe sie glücklich gesehen. Sie malte die Wände des Hauses mit Bäumen an. Sie widmete sich der Familie.
Schrieb sie weiterhin Gedichte?
Sie schrieb Reime, an Geburtstagen, oder wenn es galt ein Geschenk zu machen und das Geld nicht reichte. Aber sie blieb immer gewitzt, und viele, auch mein jetziger Mann, verbrachten lieber Zeit mit ihr als mit mir, weil sie eine intelligente und lebhafte Frau war.
Was an den Zeichnungen fast anachronistisch scheint, ist die Verwendung von Sprechblasen. War Ihre Mutter auch in anderer Hinsicht Ihrer Zeit voraus?
Sie hatte sehr moderne Züge. Meine Mutter, 1907 geboren, hatte das Glück, einen Vater zu haben, der, auch wenn er ein Mann des 18. Jahrhunderts war, sehr offen war: Er schickte alle fünf Kinder in die Schule, auch seine drei Töchter, die alle Lehrerinnen wurden. Meine Mutter war wenig konventionell und etwas rebellisch. Sie fuhr Ski und focht, malte und besuchte die Akademie der schönen Künste. Eine sehr moderne Frau.
Wieviel davon sehen Sie in den Zeichnungen? Es ist selten sie selbst zu sehen, fast ausschließlich sind es andere…
In einem der Briefe schrieb sie, dass sie sich selbst immer als etwas wild sah: Es gefiel ihr, allein zu sein, was sicher auch damit zu tun hatte, dass sie keinen Moment für sich haben konnte. Sie schrieb, dass es ihr gefalle das Verhalten der anderen zu beobachten, der Unterdrücker und der Unterdrückten: die Schmeicheleien, die Unterwürfigkeit und die Gerissenheit. Ich denke, dass sie das dazu bewegt hat, mehr andere zu zeichnen als sich selbst. Es interessierte sie die Menschlichkeit. Sie war aber sehr zurückhaltend, auch abgesehen von den Erfahrungen in Bozen. Sie fing immer die humorvollen und paradoxen Züge des Lebens ein.
Um bei Menschlichkeit zu bleiben: Ihre Mutter hat im Lager solche Momente der Alltäglichkeit gefunden und festgehalten. Welche Wirkung hatten die Zeichnungen auf Sie, als Sie sie zum ersten Mal sahen?
Ich muss gestehen, dass ich die Zeichnungen erst sehr viel später verstanden habe. Ich war wenig älter als 30, als ich sie zum ersten Mal sah und verstand nicht, wie ich in der Schule von den Schrecken der Lager erfahren hatte und diese in den Zeichnungen meiner Mutter nicht wiederfand. Später habe ich das verstanden. Mit den Briefen hatte ich auch Schwierigkeiten: Ich las zwei und es rührte mich zu sehr. Auch jetzt noch, fallen mir Dinge auf, die ich erst nicht wahrgenommen hatte. Jetzt verstehe ich ihre Ironie, mit der sie nicht die einzige war: Auch andere Frauen, in anderen Lagern, zeichneten mit Leichtigkeit und schrieben Gedichte, alle gereimt. Ich denke, der Reim hilft, gewisse Botschaften zum Ausdruck zu bringen. Ich setze mich jetzt immer öfter mit den Zeichnungen und Texten meiner Mutter auseinander. Sie berühren mich sehr. Zu ihr verspüre ich, auch wenn es seltsam ist, eine Beziehung wie eine Mutter zur Tochter. Ich würde sie gern halten, umarmen und sie liebkosen. Ich habe sie sehr geliebt, aber wenn ich alles gewusst hätte, hätte ich sie zu Lebzeiten, auch wenn sie da scheu war, öfter umarmt.
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