Jede, was sie kann
Maxi Obexer: Frau Dr. Hauser, als junge Ärztin trafen Sie 1993 eine folgenreiche Entscheidung: Sie sprangen den von sexualisierter Kriegsgewalt betroffenen Frauen im jugoslawischen Bürgerkrieg bei, gründeten ein erstes auf Selbsthilfe basierendes Projekt und sorgten neben der Hilfe vor Ort für eine weltweite Wahrnehmung und Sensibilisierung dieses Themas.
Inzwischen gibt es 37 Strukturen und Netzwerke von medica mondiale auf der ganzen Welt. Wie beschreiben Sie gegenwärtig die Situation in den global verstreuten Stationen?
Monika Hauser: Allgemein lässt sich sagen, dass sämtliche Formen häuslicher wie sexualisierter Gewalt im Zuge der Krise sofort und rapide zunehmen, während gleichzeitig bestehende Ungleichheiten und damit insbesondere die Benachteiligung von Frauen verstärkt werden.
Ganz konkret berichte ich Ihnen von drei Beispielen. Frauengesundheit: In Krisenzeiten gehören Maßnahmen in den Bereichen Gynäkologie und Geburtshilfe in der Regel zu den ersten, die von den Regierungen als nicht prioritär eingestuft werden und wegfallen. Da geschieht es, dass Geburtskliniken geschlossen werden. Aufgrund unserer direkten Verbindung zu den regionalen Partnerinnen versuchen wir dann unmittelbar zu unterstützen – z.B. indem wir Gelder sammeln, damit eine solche Geburtsklinik autonom weiterarbeiten kann.
Schulbildung: In allen Regionen unserer Projektländer ist es aktuell wichtig, gezielt Mädchen zu unterstützen, denen gerade die Schule versperrt ist. Gegenwärtig steigt mit der Gewalt auch die Zahl der Teenager-Schwangerschaften. Für Mädchen aber, die schwanger sind, ist die Möglichkeit der Schulausbildung endgültig verwirkt. In Liberia gründeten unsere Kolleginnen schon vor einigen Jahren sogenannte Girls-Clubs, in denen sich die Mädchen gegenseitig unterstützen und fortbilden können. Diese sind heute wichtiger denn je.
Recht auf Nahrung: Viele Frauen leben von dem, was sie auf dem Markt verkaufen. Wenn diese Einnahme wegbricht, fehlt ihnen die Lebensgrundlage. Wenn sie also vor der Wahl stehen, ihre Familie zu ernähren oder das physical distancing einzuhalten, dann werden sich diese Frauen dafür entscheiden, auf den Markt zu gehen, damit ihre Kinder nicht hungern.
Der Zugang zut Nahrungsmitteln ist daher ein ganz wichtiges Thema.
In der Arbeit mit traumatisierten Frauen und Mädchen folgen Sie und alle ihre Partnerorganisationen dem Leitgedanken der gelebten Solidarität. Es ist mehr als nur ein Wort: Sie setzen es politisch, strukturell und im emphatischen Sinne ein. Sie setzen auch auf die heilende Kraft, die solidarisches Handeln freisetzt.
Während der Ebola-Epidemie stand den Frauen z.B. keine Geburtsklinik mehr zur Verfügung.
Es kam vor, dass eine Frau in Monrovia mit Wehen auf der Straße von anderen Frauen gefunden wurde, die dann mit Tüchern einen Schutzwall um sie gebildet haben. Die Frau hat ihr Kind auf der Straße geboren.
Es gehört zu den Stärken unserer Organisation, dass wir durch den Kontakt zu den regionalen Partnerinnen spontan auf einzelne Bedürfnisse reagieren können. Wir konnten damals Gelder sammeln und eine kleine Geburtsklinik ausserhalb Monrovias finanzieren, so dass Frauen einen empathischen Ort hatten, an dem sie medizinisch versorgt werden konnten.
Wir wissen, dass das jetzt unter diesen Umständen genauso wieder eintreten kann.
Allerdings sind die Möglichkeiten zur gelebten Solidarität, wie wir sie bisher nutzen konnten, aufgrund der Einschränkungen an allen Orten sehr begrenzt.
Wie gehen die Frauen in den verschiedenen Orten der Welt mit den Einschränkungen um? Und was bedeuten sie für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten?
Innerhalb kürzester Zeit haben viele der Frauenorganisationen, mit denen medica mondiale seit Jahren zusammenarbeitet, ihre Arbeit angepasst. Sie verteilen Hygienematerial, warnen und klären auf.
Aus Erfahrung wissen sie: Während bewaffneter Konflikte, aber auch in anderen Krisenzeiten, sind Frauen meist diejenigen, die das „System“ am Laufen halten, während gleichzeitig essentielle Rechte wie der Zugang zur Schwangerschaftsvorsorge und sichere Geburten nicht mehr gewährleistet sind. Oft ist auch die Angst vor Hunger größer als die vor dem Virus. Auch dies ist den Aktivistinnen des Globalen Südens bewusst. Unsere Kolleginnen vor Ort haben auch diejenigen im Blick, die bis zur totalen Erschöpfung in den Gesundheitssystemen arbeiten, tagtäglich mit Leid und Trauer konfrontiert sind und ihr Leben aufs Spiel setzen, und unterstützen sie mit Beratungsangeboten und Weiterbildung in Selbstfürsorge. Mit vielen Gesundheitszentren kooperieren wir seit Jahren, wir trainieren mit einem von uns entwickelten stress- und traumasensiblen Ansatz zum Umgang mit Frauen, die Gewalt erfahren haben.
„Frauenrechte schützen – Heldinnen unterstützen“ ist ein weltweiter Aufruf zur Solidarität, welche Ziele verfolgen Sie?
Einmal durch das Anpassen der Maßnahmen an die aktuelle Situation vor allem unter Einhaltung von "Physical Distancing": Dazu muss zusätzliches technisches Equipment wie Telefone, Computer und Laptop, Handys oder Smartphones angeschafft werden, um über digitale Kanäle mit Klientinnen verbunden zu bleiben.
Dann durch Aufklärungsarbeit zu Corona: Informationskampagnen, Radiobeiträge, Hand-Outs, aber auch Verteilung von Hygienematerial.
Hinzu kommen Kontext- und lokalspezifische Maßnahmen: Diese sind je nach Tätigkeitsfeld und/oder Herkunft der Partnerorganisation unterschiedlich. Dazu gehören alle Maßnahmen, die wichtig sind, um Frauen und Mädchen weiterhin unterstützen zu können. Das können z.B. sein: Direkthilfe für Frauen, deren Einkommen weggebrochen ist, Unterstützung von Frauen, die vor familiärer Gewalt fliehen mussten etc. Außerdem: Maßnahmen zur (Selbst-) Fürsorge und Burnout-Prävention. Gerade in dieser Krise leiden viele Mitarbeiter*innen unter Angst, erhöhtem Druck und Stress.
In Ihrem gegenwärtigen Aufruf sprechen Sie auch von der Bedeutung, die Frauen derzeit in allen Ländern und Gesellschaften zukommt, von der Verantwortung, die sie übernehmen, dem Druck, dem sie ausgesetzt sind, und von der besonderen Last, die sie im Beruf und häufig zusätzlich noch zuhause tragen.
Millionen mutige Frauen weltweit setzen sich aktuell für die Eindämmung der Corona-Pandemie ein. Sie erhalten unsere Gesellschaft am Leben - durch ihre Arbeit in zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen, ihre Tätigkeit in "systemrelevanten" Berufsfeldern wie Krankenhaus, Pflege oder Einzelhandel und nicht zuletzt durch ihre vitale Rolle für ihre Familie. Gleichzeitig verstärken sich in Krisen bestehende Ungleichheiten und damit die Benachteiligung von Frauen. Das ist natürlich besonders dort prekär, wo die Situation von Frauen vor der Krise schon fragil war. Aber das sehen wir gerade auch in unseren westlichen Gesellschaften: Jetzt haben wir die Chance, zu erkennen, dass wir Krisen nur dann meistern werden, wenn wir endlich den Wert von Krankenschwestern, Pflegepersonal in Altersheimen und Kita-Betreuerinnen anerkennen, und eben nicht weiterhin die sogenannte Systemrelevanz patriarchal definiert wird.
Eine Welt, in der Frauen und Mädchen ohne Gewalt in Würde leben – das hätte starke positive Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft.
Seit Beginn Ihrer Initiative hat Ihre Kraft nicht nachgelassen, Ihre Leidenschaft, und auch Ihr mitreißendes Charisma. Wie schaffen Sie das? Ist es auch und noch immer die Wut, die Sie antreibt? Die Wut, die Sie damals angesichts der Untätigkeit bei Massenvergewaltigungen empfanden, und die Sie damals nach Bosnien brachte?
Aus dieser Wut, unterstützt von anfangs einigen wenigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, meinem Mann zum Beispiel, ist eine Organisation entstanden, die heutzutage mit 70 Mitarbeiterinnen in Köln, und 200 Mitarbeiterinnen weltweit, in Kriegs- und Krisengebieten wirkt. medica mondiale gilt als Pionierin in der Frauenrechtsarbeit.
Aber es gibt keinen Grund dazu, heute weniger wütend zu sein. Wie kann ich denn nicht wütend sein, wenn uns noch immer ein gesellschaftliches Bewusstsein darüber fehlt, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder ein schweres Verbrechen ist. Oder wenn wir wie derzeit wieder erleben müssen, dass viele Familienväter ihren Stress und ihre Unsicherheiten nicht anders regulieren können als durch Gewalt. Oder wie gehen wir mit Geflüchteten in der desaströsen Situation auf den griechischen Inseln um, wir drehen uns weg, anstatt solidarisch die Hand auszustrecken. Der allergrößte Teil der Frauen hat zuhause im Krieg Gewalt erlebt, dann auf der Flucht, und dann erneut in den Flüchtlingslagern. Wenn wir das nicht ändern, wer dann?
Es gibt im Moment viel Solidarität einerseits. Andererseits wird aber auch die Angst geschürt. Allein das Vokabular, das von Politiker*innen, Medien oder von medizinischen Expert*innen eingesetzt wird, ist verunsichernd. Von den tatsächlichen Ausgrenzungen jener, die zur sogenannten „Risikogruppe“ gehören, mal abgesehen. Die Abgrenzungen und Spannungen untereinander müssen gerade für traumatisierte Menschen besonders groß sein. Welche Folgen kann das haben?
Gewalterfahrungen und unbearbeitete Traumata wirken über Generationen fort und haben zerstörerische Folgen für die betroffenen Familien und ihr Umfeld. Gerade bei sexualisierter Gewalt wissen wir, dass Trauma-Symptome häufig chronifizieren. Die momentanen Maßnahmen, das physical und social distancing, das Warten auf ein unbekanntes Ende, können hochtraumatisches Potential haben. Dieses wird bei Menschen mit sexualisierter Gewalterfahrung in potenzierter Weise wahrgenommen. Gerade auch bei vielen Geflüchteten rührt es an schrecklichen Erfahrungen und ruft dieselben Reaktionen hervor. Das äußert sich in dem Gefühl von Lähmung, unendlicher Müdigkeit, Lethargie, extremer Nervosität, der Unfähigkeit, sich konzentrieren zu können, Herzklopfen, nichts mehr zu fühlen, oder Dissoziationen, bis hin zu selbstverletzendem Verhalten. Die Erfahrung sexualisierter Kriegsgewalt, so beschreiben es Trauma-Therapeutinnen, kann so fundamental sein, dass selbst das ganze bisherige Glaubenssystem, ob das nun der Glaube an Gott ist, an andere Menschen, an die Menschheit, zerstört werden kann. Oft brechen die im Kriegszustand erlebten Erfahrungen erst sehr viel später auf. Deswegen sind zurzeit besonders die geflüchteten Frauen in solch unsäglichen Masseneinrichtungen wie den Aufnahmezentren hoch und mehrfach gefährdet.
medica mondiale schult weltweit den sogenannten traumasensiblen Ansatz. Was beinhaltet dieser Ansatz in der Umsetzung. Warum ist er so wichtig? Wen schulen Sie in dieser Methode und wie wirkt er?
Solche Schulungen führen wir weltweit durch, auch im Nordirak, wo uns die kurdische Regierung eingeladen hatte, ihr staatliches Gesundheitspersonal zu schulen, was wir nun mittlerweile seit fünf Jahren tun. Mit dem Qualifizierungsprogramm STAR zum stress- und traumasensiblen Umgang mit Geflüchteten, reagierte medica mondiale auf die gestiegene Zahl der Zufluchtsuchenden in Deutschland. Ziel des Fortbildungsprogramms ist es, Geflüchtete zu stärken und zu stabilisieren. Das Programm ist darauf ausgerichtet, den neu Angekommenen kompetente Unterstützung zu eröffnen. Zum anderen will STAR zum Aufbau eines nachhaltigen Hilfesystems beitragen. Unterstützer*innen sollen Stress- und Traumafolgen erkennen können, aber auch die Grenzen der eigenen Belastbarkeit wahrnehmen.
Leistungen, Errungenschaften und Erfahrungen von Frauen bleiben häufig „geschichtslos“. Auch hier hat medica mondiale ein besonderes Konzept generiert, das „Peer-to-Peer – Verfahren".
Wie wirksam insbesondere die Unterstützung durch Peers ist, hat medica mondiale in verschiedenen Projekten in Liberia, Afghanistan oder Bosnien erfahren dürfen. Ziel des Peer-to-Peer-Konzeptes ist es, die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Partnerinnenorganisationen weltweit für die Unterstützung geflüchteter Frauen nutzbar zu machen.
Frauen mit Fluchthintergrund, die schon länger in Deutschland leben, bringen neben ihren Belastungen auch Bewältigungsstrategien mit. Sie können neuankommende Frauen durch ihr gelebtes Beispiel ermutigen und ihnen Vertrauen in die eigenen Stärken vermitteln.
Viele Teilnehmende an unseren Trainings berichten, dass sie zb als Leitungspersonal nachher mit einem ganz neuen Blick durch die Unterkünfte gehen und auch ihre eigenen Handlungsspielräume im restriktiven Asyl-Regime besser nutzen können. Die Fortbildung hat auch ihnen einen inhaltlichen Schub nach vorne gegeben, und sie wurden selbst für die verschiedenen Fluchthintergründe sensibilisiert.
Was ich selbst an Ihren Schilderungen über die Arbeit von medica mondiale immer wieder ermutigend finde ist, dass Sie von so vielen Beispielen berichten, in denen Frauen ihre Kraft nutzen, um trotz schlimmster Erfahrungen aufrecht in der Welt zu stehen und so in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext eigenverantwortlich wirken. Davon ausgehend, dass Frauen hierzulande über mehr Privilegien verfügen als Frauen in vielen anderen Ländern, dass die strukturellen Ursachen aber die gleichen sind: Was brauchen Sie jetzt von den Leserinnen und Lesern hier, welche Ressourcen können wir hier nutzen, um die strukturellen Gegebenheiten gemeinsam und zum Wohle aller nachhaltig zu verändern?
Diese Kraft, aus der ich in Verbundenheit mit den Frauen in der Welt wirke, ist ja in jeder und jedem von uns vorhanden. Auch wir haben im Moment hier eine Krise zu bewältigen und sind in Kontakt mit dieser Kraft. Es ist möglich, diese Kraft über alle Grenzen hinweg zu sammeln und zu nutzen. Das hat uns #metoo deutlich gezeigt. Kraft kann ganz unterschiedliche Formen haben.
Zuallererst sind wir auf Spenden angewiesen. Ich erlebe im Moment Menschen, die sich sehr darüber grämen können, dass z.B. ihr geplanter Urlaub ins Wasser gefallen ist, obwohl der Reisepreis in vielen Fällen komplett erstattet wird. Vielleicht verfügen Sie ja über die Möglichkeit, diese Beträge an uns zu spenden, während Sie die Ruhe in Ihrem Garten genießen?
Auch Sie, Maxi Obexer, nehmen Ihre Möglichkeiten und Privilegien als Autorin gerade wahr, indem Sie medica mondiale zu Wort kommen lassen. Wenn wir alle unsere eigenen Möglichkeiten nutzen, können wir miteinander viel bewegen. Anders wären unsere Erfolge in den Krisengebieten nicht erzielt worden. Es gibt überall, in jedem Land, Frauen und auch Männer, die sich für Veränderung einsetzen.
Darüber hinaus appelliere ich an jede Frau, die derzeit durch ihre Arbeit in Gesundheitsberufen oder in der Familienfürsorge stark gefordert ist, sich nicht mit einem «Danke» Plakat zufrieden zu geben, sondern sich gerade jetzt, wo 70% der Arbeit auf Frauenschultern liegen, ihrer Bedeutung bewusst zu sein. Sie können sich mit anderen Betroffenen verbinden und für eine gerechte Entlohnung eintreten und so die verantwortlichen Gremien unmissverständlich zu politischem Handeln bewegen. Die Bundesfrauenministerin Dr. Franziska Giffey hat z.B. vor Kurzem in Deutschland Frauenhäuser und Fachberatungsstellen als systemrelevant anerkannt. Das ist ein großer Schritt vorwärts, denn damit hängen im Folgenden nach der Krise die Gelder für wichtige Investitionen zusammen. Ich finde es in diesem Zusammenhang im Moment ebenso wichtig, uns des eigenen Perfektionismus bewusst zu werden und darauf zu achten, mit unseren Ressourcen selbstfürsorglich umzugehen. Dazu gehört, in einem Gespräch mit einer Kollegin aufzutanken, dazu gehört, sich selbst mindestens einmal am Tag im Spiegel freundlich zuzulächeln. Einfach, um sich selbst gut zu spüren und in Kontakt mit der eigenen Kraft zu sein.
Was ist Ihr schönster Traum?
Eine Welt, in der Frauen und Mädchen ohne Gewalt in Würde leben – das hätte starke positive Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft.