Economy | Lernen von Bhutan

Es ist Zeit für ein besseres Wohlstandsmaß

Südtirol wächst noch immer, wie das ASTAT in seiner jüngsten Publikation zum Thema (VGR Südtirols 1995-2011) detailliert darlegt. Seit Jahrzehnten ist das BIP zumindest nominell immer gestiegen, 2012 wohl auf 19 Mrd. Euro. Aber sind wir deshalb in diesem Land alle glücklicher, geht es allen besser? Dass das BIP nicht mehr als Maß des Wohlstands einer Gesellschaft im umfassenden Sinn taugt, ist sogar den Ökonomen schon lange klar.
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Das BIP versucht, alle Arten von Markttätigkeiten zu monetarisieren, misst wie viel die Verbraucher ausgeben und sparen, wie viel Private und öffentliche Hände investieren, wie viel Unternehmen durch markterfasste Tätigkeit produzieren. Das hat statistisch gesehen seinen guten Grund, ist aber zum Zweck der Abbildung der sozialen Wohlfahrt eines Landes völlig unzureichend. Nicht einmal zur Messung der wirtschaftlichen Entwicklung taugt das BIP: reale Wohlstandsverluste (z.B. Vermögenseinbußen bei einer Finanzkrise), Schäden an der Umwelt und Landschaft fließen nicht ein; die Kosten von Unfällen, Krankheit, Kriminalität und sozialer Misere gehen in die Rechnung aufgrund öffentlicher "Reparaturausgaben" mit positivem Vorzeichen ein, die zunehmende Ungleichheit in der Einkommensverteilung spielt keine Rolle. Für die Gesellschaft wertvolle Dienstleistungen außerhalb des Marktes wie Hausarbeit, Erziehung und Pflegearbeit bleiben beim BIP hingegen außen vor. Kurz: das BIP ist als Wohlfahrtsmaß längst zu ersetzen, was auch internationale Organisationen erkannt haben (z.B. die OECD mit ihrem Ansatz "Beyond GDP" und das UNDP mit dem HDI). Frankreich und Italien haben bereits hochrangige Kommissionen eingesetzt, um alternative Wohlfahrtsmaße zu entwickeln, doch wenige Staaten, allen voran das kleine Himalaya-Land Bhutan, haben das BIP überhaupt ersetzt.

Vorbild Bhutan?

Für Bhutan ist schon seit 2008 das "Bruttonationalglück" wichtiger als das BIP und als Staatsziel verankert. Seitdem werden jährlich rund 6.000 Bhutanern 133 Fragen rund ums Glück gestellt, deren Beantwortung manchmal einen ganzen Tag lang dauert. Zu neun Lebensbereiche sollen sie ihre Zufriedenheit äußern: 1) Einkommen und Sicherheit des Arbeitsplatzes; 2) Wohnung; 3) Bildung; 4) Zustand der Umwelt; 5) Kulturelle Vielfalt und Teilnahme an der Kultur; 6) Lebendigkeit der Gemeinschaft; 7) Verfügbarkeit und Einstellung zur Zeit; 8) Geistiges und psychisches Wohlbefinden; 9) Die gute Regierung. Diese neun Bereiche sind ihrerseits in einen Indikatorenset mit 72 Unterbereichen unterteilt, der ständig weiter entwickelt wird. Alle öffentlichen Programme und größeren Projekte werden in ihren Auswirkungen auf diese Bereiche geprüft. Wenn sie nicht in Einklang zu bringen sind, müssen sie im Parlament neu diskutiert und überarbeitet werden. Ist dieses multidimensionale Konzept von Wohlstand auch auf andere Gesellschaften übertragbar, fragte ich im Juni 2010 in Trient den Premierminister Jigley Yoser Tinley. "Sicher," meinte Tinley damals, "diese Bereiche sind allen Menschen und Gemeinschaften gemeinsam. Sehr wichtig ist auch der Einschluss der kulturellen Gemeinschaft und der psychologischen Befindlichkeit. Wenn wir das Karma als Komponente des Wohlstands einbeziehen, ist dies wiederum schlecht auf westliche Gesellschaften übertragbar. Man muss diese 72 Bereiche auf den jeweiligen kulturellen Kontext anpassen. Doch muss man betonen, dass nicht alle Personen das Maximum an Glück in all diesen 72 Bereichen erreichen müssen. Es genügt ein akzeptables Niveau. Unser Wohlstandsmaß unterscheidet sich vom klassischen Konzept der Nutzenmaximierung westlicher Sozialwissenschaften auch in dieser Hinsicht." Allerdings lässt sich die vielschichtige Information zum Glück nicht in einer einzigen Zahl als Wohlstandsindex zusammengefassen, auch wenn dies in der Mediengesellschaft oft verlangt wird, meinte Tinley.

In Südtirol durchaus machbar

Die Zeit ist also reif, die Wirtschaftsentwicklung so zu erfassen und zu messen, dass alle Aspekte von Wohlstand, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit eine Rolle spielen. Das gilt auch für Regionen, gleich ob autonom oder nicht. Bringt weiteres BIP-Wachstum den Südtirolern tatsächlich zusätzlichen Wohlstand? Was richtet dieser Wachstumskurs ökologisch und sozial an? Könnte ein zukünftiger LH der - gemessen am BIP - reichsten Region Italiens einmal sagen: "Gut, wir sind monetär an der Spitze, doch jetzt wollen wir dafür sorgen, dass der Reichtum besser verteilt wird, dass die Produktion ökologisch nachhaltiger gestaltet wird, dass wir mehr nach innen wachsen als nur unser Bankkonto"? Wenn Bhutan dies schafft, ist ein alternativer Wohlfahrtsindex auch in Südtirol machbar. Er kann für die Politik und Öffentlichkeit als zentraler Anhaltspunkt und Maßstab dienen und die bestehende volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ergänzen. Das ASTAT verfügt über viele der erforderlichen Daten, andere müssen in der Bevölkerung erhoben werden. Zusätzliche Wohlstandsindikatoren können ökonomische, soziale und ökologische Leistungen messen, nach dem Modell des bundesdeutschen Umweltbarometers (9 Indikatoren für Klima, Luft, Boden, Wasser, Mobilität, Artenvielfalt, Landwirtschaft, Energie, Rohstoffe und für Südtirol zusätzlich die Natur- und Kulturlandschaft). Nach Jahrzehnten forcierten monetären Wachstums braucht Südtirol nicht nur andere Wohlstandsbilder, sondern auch statistische Maßstäbe und Instrumente, die einen umfassenderen Begriff von Wohlstand messen können. Warum nicht lernen vom "armen" Himalaya-Staat Bhutan?

Thomas Benedikter

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Harald Knoflach Sat, 03/30/2013 - 17:50

bravo thomas. ich beschäftige mich auch gerade intensiv mit kennzahlen. die bip-fokusierung ist in der tat extrem unzureichend, da nicht einmal elementarste zusatzinformationen wie die bandbreite der einkommen darin erfasst sind.

neben den alternativen kennzahlen wie das bruttonationalglück oder lebensqualitätsmessungen bringt uns auch die darstellung von zusammenhängen weiter. d.h. wenn wir verschiedene kennzahlen verknüpfen um kausaltiäten und trends zu erkennen.

kennst du zum beispiel www.gapminder.org? super sache!

Sat, 03/30/2013 - 17:50 Permalink
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Martin Geier Sat, 03/30/2013 - 19:07

Interessanter und guter Artikel; stimme dem Autor restlos zu. Das Problem allerdings wird sein für den eigenen (westlichen) Kulturkreis einen entsprechenden Fragenkatalog zusammenzustellen. Selbst innerhalb Europas sind viele Geschmäcker nationenspezifisch. Es wird bereits eine Herausforderung sein für Südtirol einen solchen Fragenkatalog zusammenzustellen. Bin aber zuversichtlich zumal quer durch die Bevölkerung des Landes langsam ein Konsens zu entstehen scheint wie man sich die 'bessere Zukunft' vorstellen könnte. 'Glück' zu messen ist eine Herausforderung; Jeder von uns hat andere Vorstellungen davon. Denke eine westliche Gesellschaft wie die Südtirols ist sicherlich schwieriger messbar als eine ziemlich einheitliche(und ärmere) wie die Bhutans. Mal sehen ob das ein Thema wird und ob sich einer der zwei papabili Landeshauptmannkandidaten dafür interessiert; das sollten sie.

Sat, 03/30/2013 - 19:07 Permalink
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Frank Blumtritt Sat, 03/30/2013 - 22:05

Diese hervorragende Zeitung hat sich in einer der letzten Ausgaben ebenfalls mit dem Thema befasst (wir sind also in sehr guter Gesellschaft). In italienischer Sprache wird "Le Monde Diplo" übrigens von "il manifesto" herausgebracht, wobei Letztere eine Tageszeitung ist, die man gar nicht genug beachten kann. Seit über 20 Jahren hole ich mir dort all jene Informationen, die einem gerne vorenthalten werden... kommt wohl daher, dass sie bis heute (unfassbar!) unabhängig ist. So wie salto.bz....

Sat, 03/30/2013 - 22:05 Permalink
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Oskar Egger Sun, 03/31/2013 - 09:33

In reply to by Frank Blumtritt

Die Lebensqualität in einem Land basiert, meine ich, unabhängig von tiefanalytischen Umfragen, auf ein paar simplen "Naturgesetzen": der Würde, Freiheit und Gleichberechtigung (um nicht zu sagen demokratische Gleichheit) der Menschen. Jetzt muss man sich eigentlich wiederum nur fragen, ob diese in einer voll reglementierten, alles kontrollierenden Gesellschaft mit einem großen arm-reich Gefälle und der Tatsache, dass der Reichtum in den Händen von immer weniger Menschen konzentriert ist, gewährleistet ist. Dort wo es vielen schlecht geht, kann es auch den anderen nicht gut gehen!

Sun, 03/31/2013 - 09:33 Permalink
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Michael Bockhorni Sun, 03/31/2013 - 09:28

in einem sehr, sehr interessanten Artikel im März Heft von Brand eins schlägt Werner Vontobel das Medianeinkommen vor (http://www.brandeins.de/aktuelle-ausgabe.html), da das normale BIP u.a. nicht den Geldabfluss ins Ausland bzw. die zunehmende Schere zwischen arm und reich abbildet. Die Politik hat aber noch keinen wirklich akzeptablen Weg gefunden mit gleichbleibenden bzw. schrumpfenden Budgets gute Politik zu machen. (Südtirol ist erst in den letzten Monaten davon betroffen, scheint aber ziemlich unvorbereitet darauf zu reagieren). Auf europäischer Ebene versucht das Projekt "Welfare, Wealth, Work for Europe" (http://www.foreurope.eu/) wissenschaftlich fundierte Wege zu finden.

Sun, 03/31/2013 - 09:28 Permalink