Wirtschaft | AFI-Bericht

Reiches Land, arme Leut'

Südtirol gilt als reich, doch hinter dem hohen Pro-Kopf-Vermögen verbergen sich Divergenzen. Die Realität sieht, laut AFI, anders aus als der Bericht der Banca d'Italia.
Stefano Mellarini AFI Präsident
Foto: AFI IPL
  • Südtirol ist die wohlhabendste Provinz Italiens. Laut dem aktuellen „Regionenbericht“ der Banca d’Italia verfügt jede Bürgerin und jeder Bürger der Provinz Bozen über ein durchschnittliches Nettovermögen von 353.000 Euro Netto, also knapp doppelt so viel wie der italienische Durchschnitt von 191.000 Euro. Doch diese Zahlen zeichnen nur auf den ersten Blick ein Bild von Wohlstand, so der Präsident des Arbeitsförderungsinstituts Stefano Mellarini. Hinter beeindruckenden Durchschnittswerten stehe nämlich eine komplexe soziale Realität. Wohlstand ist vorhanden, aber er ist nicht für alle gleichermaßen spürbar, und er lässt sich im Alltag nicht immer in Kaufkraft übersetzen. In einer repräsentativen Telefonumfrage des AFI, dem AFI-Barometer, wurde das Stimmungsbild der Südtiroler Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen erhoben.

  • Durchschnittszahlen verschleiern große Unterschiede

    Der Wert einer Wohnung, der in Südtirol weit über dem gesamtstaatlichen Durchschnitt liegt, stellt zwar ein ‚Vermögen‘ dar, welches aber im Alltag nicht ausgegeben werden kann“, erklärt AFI-Präsident Stefano Mellarini. Einer von vielen Aspekten, die dazu führen, dass große Teile der Bevölkerung dennoch eine leichte Brieftasche in den Händen halten. Weitere Aspekte seien etwa die Schere zwischen Arm und Reich sowie die hohen Lebenshaltungskosten. Durchschnittswerte können daher leicht täuschen, so Mellarini, denn: „es ist das Paradoxon des ‚Pollo di Trilussa‘: Wenn eine Person zwei Hühner isst und eine andere keines, ergibt der Durchschnitt ein Huhn pro Kopf – obwohl dies nicht der Realität entspricht”.

  • Strukturelle Merkmale

    Das Immobilienvermögen in Südtirol beläuft sich auf rund 90 Milliarden Euro. Das hohe Pro-Kopf-Vermögen in Südtirol wird allerdings durch wenige sehr wohlhabende Eigentümer stark nach oben gezogen.  Rund 70 Prozent der Südtiroler leben in den eigenen vier Wänden. Allerdings ist der Erwerb von Immobilien überdurchschnittlich teuer. Hinzu kommt, dass die Lebenshaltungskosten in Südtirol überdurchschnittlich hoch sind. Die Kaufkraft nähert sich dem italienischen Durchschnitt an.

  • Wahrgenommene Ungleichheit bleibt hoch

    Das AFI-Barometer zeigt: 78 Prozent der Südtiroler Arbeitnehmenden sehen die Kluft zwischen Arm und Reich als „sehr groß“ (20 %) und „groß“ (58 %). Nur 22 Prozent empfinden sie als gering. Diese Wahrnehmung hat sich im Vergleich zum Vorjahr kaum verändert.

    Als Hauptursachen für die soziale Ungleichheit werden von den Befragten vor allem die Lohnpolitik (25 %) sowie die lokale und nationale Wirtschaftspolitik (24 %) genannt. Weitere Gründe sind die unterschiedliche Arbeitsleistung (21 %), das Steuersystem (13 %), Globalisierung (11 %) und das Bildungssystem (9 %).

  • Gefühlte Unterschiede: 78 % der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen eine große Schere zwischen Arm und Reich. Foto: AFI IPL
  • Wege nach oben: Arbeit und Bildung entscheidend – aber nicht nur

    Was kann helfen, die eigene wirtschaftliche Situation zu verbessern? Laut den Befragten vor allem harte Arbeit (7,9 von 10 Punkten) und Bildung (7,5). Doch auch „Vitamin B“ – gute Kontakte – und Faktoren wie Geschlecht, familiärer Hintergrund und Glück spielen eine Rolle (je 6,4 Punkte). 

    Das Ethos der Meritokratie und der Wert der Bildung scheinen also fest in den Köpfen der Südtiroler und Südtiroler verankert zu sein. Kritisch bleibt jedoch: Es gilt noch immer als Nachteil, eine Frau zu sein, was Mellarini als deutliches Zeichen dafür deutet, dass die wahrgenommene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts noch nicht überwunden ist.

  • Schlüssel zum Erfolg: Vor allem haben hart arbeitende und gut ausgebildete Menschen in Südtirol die Nase vorn, wie das AFI-Barometer aufzeigt. Foto: AFI IPL
  • Ist Südtirol also ein reiches Land mit armen Leut'?  In der Wahrnehmung vieler Normal-Bürger: ja. Die hohen Immobilienwerte und Lebenshaltungskosten machen es vielen Menschen schwer mit dem Einkommen bis zum Monatsende zu kommen. Gleichzeitig bleibt die soziale Kluft zwischen Arm und Reich ein zentrales Thema – und die wahrgenommene Benachteiligung von Frauen zeigt, dass es noch viel zu tun gibt, um Verteilungsgerechtigkeit herzustellen.