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Mit 50 auf der Autobahn

Warum war „Autobahn“ von Kraftwerk so bahnbrechend? Worin liegt seine nachhaltige Bedeutung? Der Autor Jan Reetze erklärt dies locker und nachvollziehbar in seinem Buch, das zum 50. „Geburtstag“ des Albums erschienen ist.
Kraftwerk (Wien, 6. Juli 2024)
Foto: rhd
  • Kraftwerk sind Teil der Popkultur. Und so sind auch einige ihrer Songs weltweit und tief in das kulturelle Gedächtnis eingedrungen, allen voran „Die Roboter“ und „Autobahn“. Kraftwerk sind eine Band aus Düsseldorf, die sich aus einer eher unspektakulären Rockband zu einem nach wie vor leuchtenden Stern der elektronischen Musik entwickelt haben. Kraftwerk haben dazu drei Alben gebraucht – oder vier, zählt man die 1970 unter dem Namen Organisation erschienene LP „Tone Float“ dazu. Organisation war die erste gemeinsame Band von Florian Schneider und Ralf Hütter, aus der dann Kraftwerk hervorging.

    Im November 1974 erschien dann „Autobahn“ und damit beginnt auch für die Band selbst, die eigentliche Geschichte der Band. Es folgen „Radio-Aktivität“ (1975), „Trans Europa Express“ (1977), „Die Mensch-Maschine“ (1978), „Computerwelt“ (1981) und schließlich, als bislang letztes Album mit neuem Material, die „Tour De France Soundtracks“ (2003). Das ist das Œuvre von Kraftwerk, das sie nach wie vor in aktualisierten und überarbeiteten Versionen auf die Bühne bringen. Auch 2025 werden sie wieder unterwegs sein. Aber es ist die Reihe der Alben aus den Siebzigern, die mit „Autobahn“ begonnen hat, auf der ihr Mythos basiert.

    Jan Reetze, geboren 1956, war zu „Autobahn“-Zeiten, genau im richtigen Alter, um die ganze Geschichte rund um Kraftwerk, das Eindringen der elektronischen Musik in die Pop-Musik und ganz generell die Zeit des Krautrock mitzuerleben. Reetze, heute in Pittsburgh (Pennsylvania), lebte damals aber in Hamburg und hat in seinem Buch „Der Sound der Jahre“ ausführlich die Zeit des Krautrock, seine Entwicklungsgeschichte und Wirkung beleuchtet. Jetzt hat er dem Kraftwerk-Album ein eigenes Buch gewidmet: „Die Geschichte von Kraftwerks ‚Autobahn‘“.

  • Locker, kurzweilig und mit viel Hintergrundwissen geschrieben: Jan Reetze's Buch „Die Geschichte von Kraftwerks ‚Autobahn‘“ (Cover) Foto: Halvmall Verlag
  • Die Geschichte von Kraftwerks „Autobahn‘“ hat etwas über 150 Seiten und liest sich, wegen des Plaudertons von Reetze, schnell und angenehm. Reetze erzählt aus erster Hand, d.h. er erzählt davon, wie er die Zeit erlebt hat, wie er beispielsweise zu den Platten kam. Aber er füllt das Buch zum einem mit sehr viel Details, die bis zu den auf den Albumcovers verwendeten Schriftarten reicht. Zum anderen liefert er, obwohl das zentrale Thema natürlich das Album „Autobahn“ ist, einen Überblick über Kraftwerk selbst, über die Besonderheit der Band und über den Wendepunkt in der Popmusik, für den Kraftwerk stehen.

    Zwei Beispiele: Die elektronische Musik war in den Sechzigerjahren in erster Linie eine wissenschaftliche, experimentelle Angelegenheit. Die Ende der Sechzigerjahre aufkommenden Synthesizer wie der Moog, wurden zwar von Pop- und Rockbands eingesetzt – das Solo von „Lucky Man“ (Emerson, Lake & Palmer, 1970) mag ein gutes Beispiel dafür sein – war aber nur ein Zusatz zu etwas bereits Bestehendem. Den eigentlichen Schritt ins Neuland machten die in Berlin ansässigen Tangerine Dream. Wie Kraftwerk, waren auch Tangerine Dream als normale Rockband gestartet, entschieden sich 1970 aber dafür, „elektronische Geräte in den Mittelpunkt zu stellen – Oszillatoren, Filter etc.“, sie spielten ein Demo ein, das dann 1971 als „Alpha Centauri“ erschien. Es folgten „Zeit“ (1972), „Atem“ (1973) und, 1974, schließlich „Phaedra“. Reetze: „Und das war nun wirklich eine Innovation: Die Gruppe verkaufte ihr gesamtes klassisches Rock-Instrumentarium (mit Ausnahme von Edgar Froeses Gitarre) und stellte ausschließlich den Moog, ein Mellotron und noch einige ekektronische Instrumente in den Mittelpunkt. (...) Das hat in dieser Radikalität und Konsequenz keine englische und keine amerikanische Band gemacht. (...) Ein Album wie Phaedra hatte es bis dahin einfach nicht gegeben. Das war eine elektronische Platte, die nicht streng und mathematisch durchkalkuliert war. (...) Phaedra war Musik, die sich deutlich auf das geistige Fundament der Rockmusik bezog, ohne unmittelbar selbst Rockmusik zu sein.“

    Kraftwerk gingen – quasi parallel zu Tangerine Dream – einen sehr ähnlichen Weg. Sie reduzierten zusehends ihre analogen Instrumente und ersetzten diese durch elektronisches Equipment und nutzten gleichzeitig die Möglichkeiten, die ihnen ihr eigenes Studio bot. „Autobahn“ ist noch nicht völlig elektronisch, diesen letzten Schritt sollten Kraftwerk erst mit dem nächsten Album machen, aber Kraftwerk waren jetzt schon genau das, wofür man sie heute noch kennt und schätzt. Es ist gewissermaßen die Geburtstunde der elektronische Popmusik.

    Ein zweiter interessanter Punkt ist der Hinweis von Reetze, dass Kraftwerk keine wirklich futuristische, in die Zukunft gerichtete Band sind, sondern, wenn überhaupt, retro-futuristisch. Sie schauen nicht in die Zukunft, sondern setzen bestenfalls vergangene Zukunftsvisionen mit ihrer Gegenwart in Bezug und erzählen damit akustische Geschichten, mit denen sich das Publikum unschwer auseinandersetzen und identifizieren kann. Das 21-Minuten-Stück „Autobahn“ beispielsweise kann als vielschichtiger Kommentar zum damals bereits als problemtatisch wahrgenommenenen Verkehrsaufkommen gelesen werden. Dasselbe gilt für einen Song wie „Die Roboter“ oder für das Album „Computerwelt“. Kraftwerk erzählen von der Zeit in der sie leben. Würden Kraftwerk 2025 ein neues Album veröffentlichen, vielleicht würde es ein Konzeptalbum zur KI, zur künstlichen Intelligenz werden, wer weiß.

    Das Gespür von Kraftwerk für eingängige Melodien, ihr Minimalismus und ihr Hang zur Perfektion sind Elemente, die zu dieser Musik geführt haben. Auch haben Kraftwerk gezeigt, dass sich aus Neuem – die aufkommenden Möglichkeiten elektronischer Geräte – auch wirklich Neues erschaffen lässt.

  • Ein durchaus romantischer Blick auf eine deutsche Autobahn: Das Artwork zum LP-Cover von 1974 stammt von Emil Schuldt, der im Laufe der Jahre wesentliche Inputs für Kraftwerks Erscheinungsbild geliefert hat. Foto: Emil Schuldt / Philips Records
  • Kraftwerk sind - laut Tourplan - zur Zeit in den Vereinigten Staaten unterwegs. Im Sommer spielen sie in Europa und im November ist eine ausgedehnte Deutschlandtournee geplant. Wir können Kraftwerk als Liveact durchaus empfehlen, zumal wir es nicht bereut haben, für ihren Auftritt letztes Jahr im Sommer nach Wien gefahren zu sein.

  • Sind auch 2025 wieder live unterwegs: Kraftwerk sind nach wie vor eine empfehlenswerte Live-Erfahrung. Foto: rhd
  • Links:

  • Jörg Zemmler: „Vahrn“ (aus Neueste Südtiroler Landeskunde / 116 Dorf- und Stadtstiche. Edizioni Alphabeta Verlag, Meran 2023)
    (c) Jörg Zemmler

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