„Teil meines ganzen Lebens“

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SALTO: Herr Halilović, Sie waren noch sehr jung, als das Massaker in Srebrenica geschah. Was verbinden Sie mit dem 11. Juli?
Bekir Halilović: Ich war 18 Monate alt, als am 11. Juli die Ereignisse begannen, die später als Völkermord von Srebrenica bekannt wurden. Damals war ich noch ein Baby. Meine Familie lebte in Srebrenica. Als die serbischen Truppen in die Stadt eindrangen, versuchten wir – wie viele andere Bosniaken – Schutz zu finden. Srebrenica war damals eine UN-Schutzzone. Doch als die Serben kamen, war sie nicht mehr sicher.
In der Nähe lag die UN-Kaserne in Potočari, einem Dorf bei Srebrenica, wo niederländische Blauhelmsoldaten stationiert waren. Mein Vater brachte uns dorthin. Er verabschiedete sich von meiner Familie – und kehrte dann zurück, um mit einer kleinen Gruppe bosniakischer Soldaten Widerstand zu leisten. Sie hatten kaum Waffen, denn mit der Ausrufung zur Schutzzone war Srebrenica auch entmilitarisiert worden. Das war das letzte Mal, dass meine Familie ihn gesehen hat.
Meine Mutter brachte uns drei Kinder nach Potočari. Dort waren Tausende Menschen – hauptsächlich Frauen und Kinder. Die Männer versuchten, über einen Weg zu fliehen, der ein Todesmarsch war.
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Zur Person
Bekir Halilović, 1994 geboren, erlebte den Völkermord in Srebrenica als Kleinkind. Heute leitet er als Teil von ADOPT Srebrenica Projekte zur Erinnerungskultur, Versöhnung und Bildung – wie ein Dokumentationszentrum – und setzt sich für interethnischen Dialog und intergenerationelles Lernen ein. Als Amateurfotograf war er erst kürzlich im Rahmen der Fotoaustellung „Das Schweigen von Srebrenica“ – Srebrenica nach dem Krieg – im alten Rathaus in Bozen. Eine Fotogalerie mit Bildern von Halilović ist in der Mitte des Artikels zu finden.
Am 11. Juli jährt sich das Massaker von Srebrenica zum dreißigsten Mal. Im Juli 1995, während des Bosnienkriegs, töteten bosnisch-serbische Einheiten unter dem Kommando von General Ratko Mladić mehr als 8.000 bosniakische Männer und Jungen in und um die UN-Schutzzone, die bosnisch-herzegowinische Gemeinde Srebrenica im Osten des Landes – ein von der UNO gesicherter Zufluchtsort. Vor dem Krieg lebten in der Gemeinde Srebrenica etwa 36.000 Menschen, der Großteil davon Bosniaken und Serben.
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„Ich habe ihn nie kennengelernt, aber er ist immer ein Teil meines Lebens. Er ist mein Vater, ich kenne ihn trotzdem.“
Welche Bedeutung hat es für Sie?
Heute bedeutet es dasselbe, was es damals vor 30 Jahren bedeutet hat. Man erinnert sich ständig an seine Familienmitglieder. Besonders wenn es die Frage nach dem Vater ist, in meinem Fall. Ich habe ihn nie kennengelernt, aber er ist immer ein Teil meines Lebens. Er ist mein Vater, ich kenne ihn trotzdem. Besonders rund um den Jahrestag kommen viele Erinnerungen hoch. Die Leute erinnern sich an die Geschichten, an das, was sie in dieser Zeit alles erlebt, alles überlebt haben. Ich war ein Baby, ich habe keine Erinnerung daran. Aber meine Mutter schon, meine älteren Brüder schon. Man erinnert sich an alle Gräueltaten, die geschahen. An alle Leute, die ermordet wurden und eigentlich am Leben sein sollten. Das ist das, was der 11. Juli für mich bedeutet. Diese persönliche, tragische Geschichte. Die Geschichte einer Stadt, die meine ist, die ein Teil meiner Identität ist. Die Erinnerungen, die wir alle haben sollten.
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„Die Geschichte von Srebrenica ist die Geschichte meines Lebens. Das, womit ich gelebt habe, womit ich lebe und bis zum letzten Tag leben werde.“
Wie und wann haben Sie realisiert, was damals geschah?
Das war ein Teil meines ganzen Lebens. Meine ersten Erinnerungen sind davon geprägt, weil wir nicht in unserem echten Zuhause lebten. Wir lebten als Flüchtlinge in dem Gebiet, das – nach dem Abkommen von Dayton – ein Teil der Föderation Bosnien-Herzegowina war. Das bedeutete trotzdem, hunderte Kilometer weit vom echten Zuhause weg. Wir lebten in einem Barackendorf, das man für Flüchtlinge erbaut hat. Kollektivzentrum hat man es damals genannt. Ein Barackendorf, in dem Menschen, die Srebrenica überlebt haben, lebten. Dort lebten Leute, die ein kollektives Trauma hatten. Kein Zuhause in diesem Dorf war vollständig, immer fehlten eines oder mehrere Familienmitglieder. In den ersten Monaten und Jahren war es für mich hart, einheimische Kinder zu sehen, die jemanden hatten, den sie Vater nennen konnten. Wieso habe ich das nicht? Wieso habe ich keinen, den ich so nennen kann?
„Jeder hatte zuhause mindestens ein Familienmitglied, das im Völkermord ermordet wurde.“
Das ganze Erwachsensein ist die Geschichte von Srebrenica, alle Emotionen sind damit verknüpft. Jeder hatte zuhause mindestens ein Familienmitglied, das im Völkermord ermordet wurde. Jeder hat darüber gesprochen, jeder hat sich erinnert. Von Anfang an sind meine Erinnerungen damit verknüpft. 2003 – als wir nach Srebrenica zurückgekehrt sind – mehr und mehr. Srebrenica ist ein Ort, wenn man hinkommt, spürt man gleich, dass etwas fehlt.
Inwiefern?
Man sieht viele leere, leblose Gebäude. Später in meinem Leben habe ich mehr recherchiert, was genau in Srebrenica passiert ist. Die Geschichte von Srebrenica ist die Geschichte meines Lebens. Das, womit ich gelebt habe, womit ich lebe und bis zum letzten Tag leben werde.
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Sie sind Teil der Gruppe Adopt Srebrenica. Was ist die Vision dieser Gruppe?
Adopt Srebrenica wurde 2005 gegründet. Damals war es kein Verein, sondern eine inoffizielle Gruppe, unterstützt von der Stiftung Alexander Langer aus Bozen. Die Idee war, eine Möglichkeit zu schaffen, bei der sich Leute, die verschiedene Hintergründe haben, begegnen können, ein Gespräch ohne Konflikt führen können. Man muss sich vorstellen, nach dem Krieg waren Serben und Bosniaken Feinde. Da gab es nicht viele Möglichkeiten für Leute, die andere Ansichten hatten, an mehr Informationen zu kommen. Adopt Srebrenica hat diese Möglichkeit angeboten, dass die jungen Generationen, die nach dem Krieg gekommen sind, neue Brücken bauen, neue Beziehungen entwickeln. Das war die Hauptidee damals: Einen Ort zu geben, an dem man – von den eigenen Hintergründen unabhängig – sich aussprechen kann. In diesen 20 Jahren ist viel geschehen. Besonders stolz sind wir auf unsere Projekte: Eines davon ist das Dokumentationszentrum. Dort haben wir ein Archiv aus Dokumenten und Materialien von Srebrenica in Vorkriegszeiten gesammelt.
„Ohne Dialog lebt jeder in seiner Wahrheit.“
Die Leute, die den Krieg überlebt hatten, hatten nicht mehr die Möglichkeit, an solche Materialien zu kommen. Als die Soldaten am 11. Juli kamen, haben die Menschen versucht, ihr Leben zu retten. Damals dachte niemand daran, solche Dinge mitzunehmen. Am Ende, wenn du Glück hattest, zu überleben, merkst du, dass dir sehr wichtige Menschen nicht mehr am Leben sind. Und du brauchst etwas, damit du dich erinnern kannst. Fotos sind eine Möglichkeit. Deswegen sammeln wir diese Materialien, das ist Teil unseres Dokumentationszentrums und bieten sie den Leuten, die auf der Suche sind, an. Besonders wichtig ist uns die Arbeit mit den Jugendlichen von Srebrenica. Wir bieten immer noch diese Möglichkeit an, dass sie einen Ort finden können, wo sie zusammenkommen und zusammen etwas tun. Das machen wir immer noch. In den letzten 20 Jahren gab es viele verschiedene Aktionen wie Aktivitäten.
Wie ist die Arbeit mit Jugendlichen und was war die Reaktion von Jugendlichen auf Srebrenica und auf das Geschehen?
Meistens treten wir nicht an die Jugendlichen heran und sprechen direkt über den Völkermord. Wir haben andere Mechanismen. Das Problem ist, dass die serbischen Jugendlichen immer noch etwas Angst haben, objektiv zu sein und die Dinge so zu nennen, so wie sie geschehen sind, da wirst du meistens automatisch von deiner Nationalgruppe ausgestoßen. Wir versuchen, diesen Jugendlichen normale Lebensrichtungen zu geben. Zeigen, dass das Leben weitergeht. Dass wir wissen, wenn sie nach Hause gehen und mit ihren Eltern sprechen, dass wahrscheinlich alle Eltern ihr Kriegsnarrativ haben. Aber dass sie trotzdem versuchen sollten, die Wahrheit herauszufinden. Aber am wichtigsten ist, dass sie in anderen keine Feinde sehen.
Wie ist es möglich, in einer gespaltenen Region Dialog zu führen?
Sehr schwierig. Das, was am wichtigsten ist, ist der Versuch, Dialog zu führen. Auch mit einem schlechten Dialog kann man etwas herausfinden. Ohne Dialog lebt jeder in seiner Wahrheit, was immer die bedeutet. Ich muss zugeben, dass es besonders für meine Generation schwieriger war. Wir sind die Kinder von Ermordeten, die mit der anderen Seite sprechen sollten. Die neuen Generationen haben andere Ziele und andere Denkweisen. Sie wissen, was geschehen ist. Sie wissen, in was für einer Stadt sie leben. Für sie, die voll mit Leben sind, ist es schwierig in einer Stadt, die halbleer ist. Andere zu hassen, macht die Lage noch schwieriger. Man muss sehr vorsichtig sein. Man muss einen spezifischen Weg nutzen, um an die Jugendlichen heranzukommen. Kunst ist ein sehr guter Weg. Ein Weg, den unsere Jugendlichen nutzen, wobei sie Kunst als Mittel benutzen, um Themen, die für sie wichtig sind, zu kommunizieren.
Eine gute Sache an Srebrenica ist, dass es ein gemischter Ort ist. Trotz der wenigen Leute, die hier leben – in der ganzen Gemeinde von Srebrenica sind es nicht mehr als 5.000, im Zentrum von Srebrenica sind es nicht mehr als 600. So können sich Jugendliche kennenlernen. In Bosnien hat man sonst viele monoethnische Städte ohne Möglichkeit, die andere Seite zu hören. Man hat die Wahrheit, die man sich selbst erzählt hat und versucht niemals, die Geschichten der anderen zu hören. Deswegen ist es eine sensible Angelegenheit, über diese Geschichten zu sprechen. Trotzdem glaube ich, dass der Weg, den wir nutzen, ein guter Weg ist.
„Was da geschehen ist, kann überall auf der Welt geschehen.“
In meiner Schulzeit habe ich wenig über Balkan und Srebrenica gelernt. Was würden Sie sich von Europa im Umgang mit Balkan wünschen?
Ich habe ein Problem mit Europas Heuchelei. Zu Zeiten des Gedenktags kommen viele Staatsbotschafter nach Srebrenica, Staatschefs werden Nachrichten nach Srebrenica senden, dass sie mit den Leuten von Srebrenica trauern. Dass das, was passiert ist, eine Schreckenstat war und wir niemals erlauben sollten, dass es wieder passiert. Nur ein paar tausend Kilometer weiter haben wir einen Völkermord, den auch wir erzeugen.
Davon abgesehen: Man sollte über Srebrenica sprechen, damit wir etwas davon lernen. Ein kleiner Ort, der nichts hatte, in dem Leute friedlich zusammenlebten, ein kleiner Ort, der sich erfolgreich entwickelt hat. Srebrenica hatte eine Perspektive. Eine dumme politische Denkweise führte dazu, dass Freunde Feinde wurden. Man hat alles zerstört, man hat Leben genommen, man hat Leben für die nächsten Generationen zerstört. Was da geschehen ist, kann überall auf der Welt geschehen. Wenn wir ähnliche Entwicklungen anderswo sehen, müssen wir darüber sprechen und sie stoppen.
Wir sind Teil Europas, auch wenn das viele nicht wissen oder nicht glauben wollen. Wir waren Jugoslawien, wir sind der Balkan. Wir haben europäische Werte. Wir sind ein sehr wichtiger Teil von Europa, der einen sehr wichtigen Platz in Europas Geschichte hat. Es sollte so sein, dass man uns auch dementsprechend ansieht.
Wie hat sich – aus Ihrer Erfahrung – das Gedenken an Srebrenica über die Jahre hinweg verändert?
Leider muss ich sagen, dass die, die immer noch Mitgefühl für Srebrenica haben, Leute sind, die Srebrenica überlebt haben, Bosniaken. Srebrenica ist die größte bosniakische Tragödie. Hierfür besteht immer noch Sensibilität. Ich habe Angst, dass die meisten Politiker Srebrenica als einen Ort der Geschichte sehen, zu dem man an einem bestimmten Zeitpunkt kommen sollte, seine Ehre erweisen sollte und nichts mehr machen sollte als eine politische Möglichkeit, weil es „gut“ ist, dort zu sein. Aber Ehrlichkeit sehe ich dahinter keine. Früher gab es mehr Interesse für die Geschichte von Srebrenica. Das Interesse war nie so stark, hat aber trotzdem etwas abgenommen. Srebrenica bleibt ein Ort, an dem man direkt sehen kann, wie viel falsche politische Gedanken, dumme Entscheidungen zerstören können. Nicht nur für die „andere“ Gruppe, sondern für alle.
„Wir sind ein sehr wichtiger Teil von Europa, der einen sehr wichtigen Platz in Europas Geschichte hat.“
Was wünschen Sie sich für die Zukunft, für das Gedenken und den Ort Srebrenica?
Ich habe mir immer vorgenommen, ich werde Fotos machen, die das Srebrenica von jetzt dokumentieren: Zerstört, physisch wie psychisch, ein Ort, dem etwas fehlt. Ich dokumentiere das mit der Hoffnung, dass in Zukunft alles repariert wird und man trotzdem ein Dokument der Erinnerung hat: Nie wieder Zerstörung, nie wieder Ermordung. Ich hoffe, Srebrenica wird wieder ein Ort, den Menschen gerne besuchen, um zu lernen, aber auch um sich wohlfühlen zu können. Besonders für die, die dort leben, die Stadt lieben und für die dieser Ort Teil ihrer Identität ist. Ich wünsche mir, dass Srebrenica wieder ein Ort der Möglichkeiten wird, wie es einst war.
Was gibt Ihnen – persönlich wie auf der Arbeit – Hoffnung und Kraft?
Die neuen Generationen. Sie haben einen anderen Blick. Viele von ihnen werden wegziehen, studieren, woanders leben wollen. Aber ich hoffe, dass einige etwas zurückgeben werden. Dass sie an die Zukunft denken, die Vergangenheit respektieren und aus ihr lernen. Ich hoffe, dass sie mehr erreichen werden als wir.
Brücken bauen zwischen Bosnien und Serbien?
Das eigentliche Problem ist das Brückenbauen zwischen den Völkern in Bosnien. Wenn wir das schaffen – zwischen Bosniaken, Serben, Kroaten und allen anderen –, dann kommt der Rest von selbst.
Was ist die Botschaft, die Sie mitgeben wollen?
Dass wir aus Srebrenica eine Lehre ziehen sollten. Nationalistisches Denken kann alles zerstören, wenn man glaubt, der andere sei weniger wert. Schlechte politische Entscheidungen zerstören oft mehr für alle, als sie für eine bestimmte Gruppe aufbauen.
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