den waldflusz leer hinunter
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Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist, wenig verwunderlich für den ursprünglichen Start des 1961 nach 123 Jahren posthum fertiggestellten Mammut-Projekts, rund um den Begriff Wald die größte Häufung an Einträgen zu finden, mit rund 1000 verschiedenen „Wald“-Komposita. Das wundert wenig, wenn man bedenkt, dass ein im 19. Jahrhundert stark fragmentierter Wald in dieser Zeit auch in der Literatur - insbesondere der Dichtung - zum Sehnsuchtsort und zur Projektionsfläche überhöht wurde. Kamen die Brüder Jacob und Wilhelm in ihrer Lebenszeit im Wesentlichen nur bis zum Buchstaben F, so ist die Vorstellung, auf Spuren der Märchen-Brüder in den Wald zu gehen, doch um einiges schöner als nachgekommenen Germanisten zu folgen.
Auch finden sich in der von Gaia Giani erdachten Performance Gedanken zwischen den Zeilen, die sich ins eher an Strukturen und Sprachen interessierte Werk mischen. Auch wäre diese Performance, bei der alle 1000 Einträge alphabetisch verlesen wurden, ohne die unendliche Möglichkeit, im Deutschen Wörter zu einem zusammenzuziehen, so nicht möglich gewesen. Ein bisschen wie Lyriker und Lyrikerinnen an der unweigerlich wortreicheren Übersetzung von Giuseppe Ungarettis „Mattina“ in anderen Sprachen der Reihe nach scheiterten, so dürfen da von Anfang bis Ende keine Leerstellen sein. Die Stimme der Sängerin Margareth Kammerer ist dabei auf einer Lautstärkeebene mit den Umgebungsgeräuschen. Mit Flussrauschen und abendlichem Blätterrascheln insbesondere eines Pappelstrauchs, vermischt sich die ruhige Lektüre der Einträge durch die Kammerer, die ohne Hast und mit gleichbleibend ruhiger Stimme den Waldweg von „Wald“, „Waldabenteuer" und „waldabgeschieden" bis zur „Waldzwenke“ (ein Süßgras), zum „Waldzwerg“ und zur „Waldzwiebel" führt.
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Die Performance biedert sich nicht an, bietet keine Erklärungen zu den einzelnen Begriffen, sondern bettet sie lediglich in einen schönen Rahmen und eine anbrechende Dämmerung, die der Fantasie Vorschub geben. Den Titel dieses Textes haben wir übrigens der Online-Version des Grimm-Wörterbuchs und dem Lyriker Ferdinand Freiligrath entlehnt. Manche folgten der Performance im Stehen, andere legten sich ins Gras der Uferwiese, die beim Einfluss der Talfer in den Eisack ein zum Fluss hin abschüssiges natürliches Halbrund bildet. Der Blick geht in den schmalen, grünen Uferwald, der durch ein Rinnsal vom Publikum getrennt wird und damit trotz Eingriffen der Zivilisation eine natürliche - oder zumindest naturnahe - Bühne bietet.
Im Grimmschen Wörterbuch mit seinen 32 Bänden ist der Wald längst kein natürlicher Raum mehr und einige Worte brechen in die Reihung von Pflanzen und Emotionen ein. Die Worte schöpfen aus verschwindenden Quellen, vom Sagen- und Fabelhaften, aus der Poesie, der Botanik und, nicht zuletzt, der als Industrie entstehenden Forstwirtschaft. Der Wald kam aus einer Krise, war fragmentiert und nähert sich einer privatwirtschaftlichen Nutzbarmachung an, die zwar mehr anbaute als entnahm, aber auch für weniger Artenvielfalt steht. Der Anteil am Wald in Deutschland, der zuletzt 2022 immer noch 30% der Bodenfläche ausmachte, ist zu 43 Prozent in Privatbesitz (Quelle: Statistisches Bundesamt). Ein Waldspaziergang oder auch die Vorstellung des Waldes bleibt dagegen von den Schneisen, die die Wirtschaft schlägt, verschont und lässt sich nicht privatisieren.