Kultur | Uraufführung
„Münden in den mahlerschen Klangfluss“
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Die Jenaer Philharmonie hat den 1971 geborenen Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini mit der Komposition von 10 neuen Werken beauftragt, die den "Mahler-Scartazzini-Zyklus" ergeben. Das Projekt begann 2018 und wird 2025 seinen Abschluss finden. Mahlers Symphonie Nr. 5 und Scartazzinis "Einklang", in der italienischen Erstaufführung, eröffnen die Gustav Mahler Musikwochen 2022 in Toblach. Wir haben den Komponisten interviewt.
salto.bz: Gustav Mahler sagte, dass "Tradition ist Bewahrung des Feuers, nicht Anbetung der Asche". Der "Mahler-Scartazzini-Zyklus" ist eine schöne Verwirklichung dieses Gedankens. Wie ist es dazu gekommen?
Andrea Lorenzo Scartazzini: Die Idee stammt vom GMD (Generalmusikdirektor) der Jenaer Philharmonie, Simon Gaudenz. Hintergrund ist die Tatsache, dass viele neu komponierte Werke eine Uraufführung erleben und danach in der Schublade verschwinden. Dabei ist mehrmaliges Hören bei jeder Art von Musik, aber natürlich insbesondere bei zeitgenössischen Kompositionen hilfreich, um sie besser zu verstehen oder zu schätzen. In Jena wurden bei jeder Uraufführung auch meine vorherigen Zyklus-Stücke erneut gespielt, um dem Publikum dieses Wiederhören zu ermöglichen.
Zu jeder der zehn Sinfonien Mahlers schreibe ich ein fünf bis sechs-minütiges Stück. Mit jeder Aufführung einer Sinfonie Mahlers wächst mein Zyklus also, denn die zehn kurzen Stücke sind so komponiert, dass sie zuletzt ein grosses Ganzes ergeben.
Hinzu kommt, dass ich mich beim Schreiben auf Mahler beziehe, allerdings nicht in Form von Zitaten; vielmehr suche ich eine gedankliche Verbindung zur Sinfonie, mit der ich mich gerade auseinandersetze. Meine Kompositionen führen - ohne den im Konzertbetrieb üblichen Applaus - zum Kopfsatz der Mahler-Sinfonie. Manchmal trennt die beiden Stücke nur ein kurzes Innehalten, manchmal mündet meine Musik auch direkt in den mahlerschen Klangfluss.
Was fasziniert Sie an Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie?
Ich liebe vor allem die ersten beiden Sätze, den Trauermarsch und den stürmisch bewegten Folgesatz. Es ist Musik von einer Intensität und einer Dichte, die mich jedes Mal aufrüttelt und ergreift. Und natürlich verehre ich auch das Adagietto - wer tut das nicht!
Benötigen Sie zum Komponieren Stille um sich herum? Schreiben Sie am Computer? Oder am Klavier?
Ja, Stille ist während des Schreibens unumgänglich, aber mir sind auch schon im lärmigen Fitness-Studio Ideen gekommen. Nicht selten habe ich nach einer konzentrierten Phase des Nachdenkens quasi verspätet Eingebungen bei ganz banalen Tätigkeiten. Ich schreibe noch von Hand und am Klavier, und ich bin froh um diesen haptischen Prozess. Den Scan meiner Reinschrift schicke ich danach dem Verlag, der die Digitalisierung und die Herstellung des Notenmaterials besorgt.
Worauf bezieht sich der Titel Ihres Werks, "Einklang"? In welchem Zusammenhang steht Ihre Arbeit mit Gustav Mahlers Sinfonie?
Einklang, das 5. Stück des Zyklus, stellt bei meinen zehn Kompositionen so etwas wie die in sich ruhende Mitte dar. Das Stück ist schlicht und nähert sich auch stark der noch im 19. Jahrhundert verankerten Harmonik Gustav Mahlers an. Der Titel verweist auf zwei Aspekte: Es ist im Wesentlichen „ein Klang“, auf dem das Stück aufgebaut ist, ein C-Dur-Akkord, der sich bis zum 15. Oberton auffächert und nach unten in eine Art Untertonreihe gespiegelt ist. Diese riesige Klangfläche in den Streichern wird mehrmals unterschiedlich präsentiert, manchmal hört man die eng beieinander liegenden Obertöne sehr gut, was wie ein helles Gleissen oder Strahlen klingt. Manchmal stehen die ruhigen Bässe als Fundament im Vordergrund. Und zweimal habe ich den Grundakkord so umgestellt, dass die engen Obertöne in der Mitte liegen und sich der Akkord gegen unten und oben ausweitet. Dieser Akkord ist eine Art „Naturlaut“, um mit Mahler zu sprechen, er symbolisiert die Weite und Ruhe, wie man sie in der Natur oder auch in sich selbst findet, wenn man ganz mit sich „im Einklang“ ist - womit auf die metaphorische Ebene des Titels verwiesen ist. Aus diesem atmosphärischen Ruheklang heraus ertönen mehrmals kurze erhabene Blechbläsermotive und eine längere elegische Kantilene. Zuletzt wird die Musik von der Solotrompete, die den mahlerschen Trauermarsch eröffnet, unterbrochen und verstummt.
Einklang soll einen Gegenpol zur wilden Dramatik Mahlers bilden, einen Moment der innerlichen Einkehr, bevor der Sturm losbricht. Es hat mich übrigens ein wenig Mut gekostet, diese schlichte Musik zu schreiben. In gewisser Weise unterlaufe ich damit die Erwartungen, die man der oft hermetischen zeitgenössischen Musik im Allgemeinen zuschreibt.
Stimmen Sie mit Dostojewski überein, dass "die Schönheit die Welt retten wird"?
Angesichts der düsteren Weltlage fällt es mir schwer, diese Auffassung zu teilen. Aber ich halte es für wichtig, dass wir uns Inseln der Schönheit schaffen, um in dieser Welt dennoch glücklich zu sein.
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